Neue Wege - eine Reportage über Südamerika

Reisezeit: Oktober 1999 - Juli 2000  |  von Cornelia Bartlau

War es ein Ausstieg oder ein Einstieg?

Mit 45 Jahren den alten Job an den Nagel hängen.

9 Monate mal weg vom Alltag, Terminen und Gewohntem.

Arbeiten auf ganz neuem Terrain.
Straßen und Wege ins Unbekannte.

Landschaften wie im Bilderbuch
Armut und Reichtum wie im Schwarzbuch.

Entwirf deinen Reiseplan im Großen
und lass dich im Einzelnen
von der bunten Stunde treiben
Kurt Tucholsky

Die Regenmacherin Senora Lluva

Heute habe ich ein ganz besonderes Glück!
Das würde ich aber gar nicht wissen, wenn es mir nicht ein Chilene gesagt hätte. Die Stadt Santiago ist nämlich sozusagen frisch gewaschen, von oben. Gestern hat es lange und heftig geregnet und mir war gleich klar, dass das mein Verdienst war. Das lehrte mich die Erfahrung, dass überall, wohin ich in Südamerika kam, es spätestens am übernächsten Tag zu regnen anfing.

In Sao Paulo regnete es den ganzen Frühling immer mal kurz und heftig, dafür aber regelmäßig. Um in dieser Stadt den Himmel mit der Farbe blau in Verbindung zu bringen, muss man geduldig auf die wenigen Momente warten, wenn in den grauen Schleier der Wind ein Loch reißt. Irgendjemand gibt sich allerdings viel Mühe, es schnell wieder zu stopfen. Ein Paulista bemerkt das unnormale Blau am Himmel wahrscheinlich gar nicht, ein Turist dagegen, der Brasilien gleichsetzt mit ewiger Sonne, zieht sofort seine Jacke aus, um seiner Haut auch etwas zu gönnen.

In Angra dos Reis, einer kleinen brasilianischen Hafenstadt am Atlantik, begann der Regen zwei Stunden vor Jahresende. Warum es um Mitternacht für eine halbe Stunde aufgehört hat, habe ich nie herausbekommen. Von den Brasilianern hat das allerdings niemand gemerkt. Sie tanzen ihren Samba so oder so. Aber dem Feuerwerk, das von einem Schiff aus gezündet wurde, verhalf diese Trockenphase zu seinem Höhepunkt. Der gleich danach wieder einsetzende Regen, der mir wie aus Kannen geschüttet vorkam, fiel bis zum 3. Januar ununterbrochen.
Zwei Wochen später, ich war kaum in Porto Alegre, der Hauptstadt des Bundeslandes Rio Grande do Sul, angekommen, fielen die ersten Tropfen vom Himmel. Das gelbe, ausgetrocknete Gras und die mit dickem Staub belegten Platanenbäume freuten sich sichtlich über den Regen, denn sie begannen zu glitzern und zu funkeln und blinzelten mir zu. Seit dem weiß ich, dass ich die Regenmacherin bin.

Alle sind besonders freundlich zu mir, höflich, nett.
Ich bekomme ständig Obst und Zigaretten geschenkt, werde immer gefragt, ob es mir in dem fremden Land gut gefällt und die Straßenhunde bellen mich nicht an.

Eine besondere Strasse

Ich nehme an, dass ich deshalb auch heute dieses Glück habe und vom kleinen Ausflugshügel Cerro Santa Catarina aus die Berge sehen kann, die sich wie eine Boa beim Mittagsschlaf, um Santiago herum winden. Sie schimmern rostrot und sind auch im Sommer schneebedeckt.

Santiago dampft bei 32 Grad vor sich hin. 700.000 Autos und 10.000 Busse, werden bis morgen diese herrliche Sicht wieder versmogen und 5 Millionen Einwohner bringen den Kessel zum kochen.

Die zum Greifen nahen Berge, die so wohlklingende Namen wie Las Canteras (985 m), Del Carbon (1391 m), Renca (905 m) oder Puntilla de Ruis (752 m) haben und zu verschiedenen Gebirgsketten gehören, treffen sich hier, als würden sie eine Fiesta machen, um ihre Erlebnisse auszutauschen. Das Meiste wüste wohl die Kordilliere zu berichten. Rechts und links ihrer Flanken gibt es unzählige Zeugen tausend Jahre alter Geschichte.
450 Jahre "neue Welt" scheinen dagegen nichts zu sein, doch haben sie die tiefsten Spuren hinterlassen. Nicht nur in den leidvollen Gesichtern der Mapuche-Indianer, die mich entweder im Museum mit traurigen Augen von 100 Jahre alten Fotos anschauen sondern auch von den bettelnden Frauen und Kindern auf den heutigen Straßen.

Es ist mehr als ein Glückstag - denn ich bin verliebt. Hals über Kopf hab ich mich in diese ohne Ausnahme mit Bäumen und Bänken gesäumten Straßen, die satten Fassaden der Häuser mit ganz unterschiedlicher Architektur verknallt. Die Schamröte steigt mir ins Gesicht, wenn ich sehe, wie sich diese Stadt schön macht für mich.

Als Erstes fällt mir auf, die Straße namens Huefanos ist nicht im Flutlicht eingetaucht. Die Lampen sind nur ungefähr 30 cm hoch, stehen Spalier am Rande. Zusätzliches Licht fällt aus den Schaufenstern der Läden. Das vermittelt einen Hauch von Gemütlichkeit. Aber gemütlich wird es in der 1,5 km langen Straße nicht. Eine Band spielt, sie hat drei Sänger zu bieten, die ganz normal gekleidet sind.
Es stehen vielleicht 50 Menschen im Halbkreis davor, sie klatschen mit und hüpfen auf der Stelle, die typische chilenische Hüpfart, die sie auch bei ihren Demos anwenden. Das Publikum ist nicht jung, gut gekleidet, ihre Hände halten sie so komisch in die Höhe. Da, jetzt hab ich was verstanden - Señor, immer wieder dieses Wort.
Ich geh weiter, im Zick-Zack dem wandelnden Volk ausweichend und erfreue mich noch an einem Zauberkünstler, einer knochigen alten Frau die zu quietschender Kassettenrecordermusik Verrenkungen macht und Luftballontieren jeder Art. Ich könnte mir für 500 Pesos, 2 Mark, den Jupiter und Saturn ansehen, die vielleicht gerade heute eine günstige Konstellation haben und mit vier guten Teleskopen ins Blickfeld der Ahnungslosen oder Begeisterten geraten. Aber die Schlange der wartenden Chilenen ist mir zu lang. Außerdem hab ich schon wieder was Neues entdeckt.

Eine Tanzgruppe in historischen Trachten wird beklatscht während sie den traditionellen Volkstanz Cueca tanzt. Dazu haben sie sich aus dem Publikum Mittänzer erbeten und ich weiss schon, dass man hier die Zuschauer nicht lange bitten muss, mitzutanzen. In Puerto Montt spielte die Folkloregruppe, die ich ganz zufällig und kostenlos zu sehen bekam, als "Rausschmeisser" auch den Cueca.Viele Hände flogen hoch, als gefragt wurde, wer auf der Bühne tanzen will. Vier Paare, davon ein Knabe mit seiner Grossmutter und die geweihte Prinzessin eines gerade stattfindenen Festes, hatten viel Spass bei dem Tanz, zu dem der ganze Saal klatschte.

Eine andere Beobachtung habe ich damals noch gemacht. Ich war gerade 5 Tage in Chile - saß in Puerto Montt wegen Dauerregens - wundert das jemand? - fest, um in den Nationalpark Pumalin zu fahren und sah mich auch, genau wie in Brasilien und Argentinien am Abend und in der Nacht von Kindern umringt. Sie gehen nicht vor ihren Eltern ins Bett. Im Konzertsaal waren nur Familien und das Alter der Kinder war so gemischt wie die Leute überhaupt. Ein Kind abends in einer Gaststätte ist keine Seltenheit, man trifft sie allerdings häufiger auf der Strasse und in den Parkanlagen herumkreischen und rennen.
Sind die nie müde? Wann müssen sie aufstehen?

Zurück zu meiner Straße. Auch die Sprayer haben die Markwirtschaft entdeckt. Auf weißes Papier oder alte Schallplatten sprühen sie mit großer Schnelligkeit, als stünden sie am Fließband mit der Peitsche im Rücken, Farbe und verwandeln so das unschuldige Weiss oder Schwarz (bei den Platten kann man vielleicht nicht von Unschuld sprechen) in ein superkitschiges Bild auf dem Hirsche röhren, Wasserfälle fröhlich plätschern oder kleine weisse Friedenstauben als Blickfang dienen. der Nie sah ich kitschigere Bilder, nie sich so viele Leute auf offener Strasse um ein Kunstwerk drängen. Und die, die sowas kaufen sind keine 40 Jahre alt sondern viel jünger.

© Cornelia Bartlau, 2009
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Die Reise
 
Details:
Aufbruch: 18.10.1999
Dauer: 9 Monate
Heimkehr: 06.07.2000
Reiseziele: Chile
Brasilien
Argentinien
Peru
Der Autor
 
Cornelia Bartlau berichtet seit 15 Jahren auf umdiewelt.
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