Mit Fahrrad durchs Ermland und Masuren

Reisezeit: September 2009  |  von Manfred Sürig

Trockenes Wetter ist schon der halbe Erfolg einer Radtour. Wenn man dann auch noch das Seenland im ehemaligen Ostpreussen mückenfrei vorfindet, hat man das ganz große Los gezogen. So wird uns der Spätsommer 2009 in schönster Erinnerung bleiben.

Auf Marschwegen bis vor die Tore Danzigs

Wenn man bei miserablem Wetter startet, kann das Wetter nur besser werden, tröste ich mich, als ich morgens ausgerechnet auf dem Weg zum Bahnhof soviel Nieselregen abbekomme, dass mir im Zug anschließend das Wasser in die Schuhe läuft.
800 km Bahnstrecke liegen erst einmal vor mir: Neumünster-Stettin-Marienburg, bis dahin werden die Klamotten trocken werden, zumal ich in Stettin fast zwei Stunden Aufenthalt habe und dort Gelegenheit ist, eine Freiluftstadtrundfahrt zu machen, Bewegung tut not und der Gegenwind hilft beim Trockenwerden.
Doch kaum startet der Zug in Stettin, geht auch der Nieselregen weiter. Mit weiteren Trocknungkursen in den nächsten Umsteigeorten Sczecinek (Neustettin), Choinice (Konitz) und Tczew (Dirschau/Weichsel) wird es also nichts. Statt dessen wird es früher dunkel als in Schleswig-Holstein und lausig kalt. Und der Zug hat Verspätung.
Ob es da noch in Malbork (Marienburg) mit der Verabredung klappen wird, wenn ich erst um 23 Uhr dort bin ?
Es klappt Gott sei Dank, Freund Jonas hat für mich ein Zimmer gebucht und schläft selbst im Zelt auf dem Campingplatz. Bei den Temperaturen ?
Jonas erzählt mir noch von der Hitze, die er auf der Radfahrt von Berlin hierher in Pommern ertragen mußte, 650 km seien in 6 Tagen schon auf seinem Tacho aufgelaufen, und nun so ein Kälteeinbruch ?
Für heute abend ist mir alles egal, ich schlafe erst einmal gründlich aus.

Weichselbrücke in Tczew, wohl nach dem Krieg aus Armeebeständen gebaut. Es gibt keine Obergrenze für die Belastung, statt dessen müssen alle Fahrzeuge zuvor eine 3 m tiefe Durchfahrt passieren, die schon etliche Schrammspuren hat, kein Bus, kein LKW kommt da durch, so einfach geht das....

Weichselbrücke in Tczew, wohl nach dem Krieg aus Armeebeständen gebaut. Es gibt keine Obergrenze für die Belastung, statt dessen müssen alle Fahrzeuge zuvor eine 3 m tiefe Durchfahrt passieren, die schon etliche Schrammspuren hat, kein Bus, kein LKW kommt da durch, so einfach geht das....

Am nächsten Morgen erzählt Jonas mir, dass er die gewaltige Marienburg bereits besichtigt hat -ich kenne sie schon von 2007 und 2008- also könnten wir sofort Richtung Danzig starten, knapp 70 km, quer durch die Wiesen ab Tczew. Abgesehen von einem spürbaren Gegenwind aus Südwest spielt das Wetter sogar mit. Ich habe eine Karte, auf der wir unsere Route gut planen können, und die wird auf einer Tafel am Lenker fixiert, damits auch klappt. So brauchen wir kein GPS, das so kleine Wege dann doch nicht kennen würde.

Hinter Tczew gehts richtig aufs Land. Kleine Marschdörfer, deren bäuerlicher Charme nun von den Städtern entdeckt wird. Die ersten schmucken Neubauten von Leuten, die sich's offenbar leisten können, entstehen schon, man zieht auch schon ein, macht den Rest selbst, und aufs Verputzen kann man in den ersten zehn Jahren erst einmal verzichten. Ein schmucker Dorfplatz lädt zum Picknicken ein, die zugehörigen Brötchen gibt es nebenan beim "Sklep", ein Tante Emma-Laden, der alles hat.

Die Sonne ist rausgekommen, wir ziehen das Picknicken im Schatten vor !

Die Sonne ist rausgekommen, wir ziehen das Picknicken im Schatten vor !

Der Kanal, an dem wir entlangfahren, führt uns nach Wroblewo, eine Mennonitensiedlung. Dort erfahren wir, dass es sich bei dem Kanal um die Mottlau handelt, die auch durch Danzig fließt.
Das kleine Kirchlein des schmucken Dorfes, das früher einmal Sperlingsdorf hieß, steht direkt am Wasser und hat sogar einen eigenen Anleger, an dem die Kirchgänger an Land gehen konnten, als es dort noch keine Straßen gab.

Mennonitendörfer sind bekannt für ihre Ordentlichkeit. Die Gemeinden waren straff organisiert, jeder hatte seine Aufgaben für die Gemeinschaft. Das Ergebnis kann sich auch nach Jahrhunderten noch sehen lassen.

Mennonitendörfer sind bekannt für ihre Ordentlichkeit. Die Gemeinden waren straff organisiert, jeder hatte seine Aufgaben für die Gemeinschaft. Das Ergebnis kann sich auch nach Jahrhunderten noch sehen lassen.

700 Jahre schon ist die Weichselniederung besiedelt, zunächst waren es unzugängliche Rückzugsbebiete für Minderheiten, die hier nicht bedrängt wurden.

700 Jahre schon ist die Weichselniederung besiedelt, zunächst waren es unzugängliche Rückzugsbebiete für Minderheiten, die hier nicht bedrängt wurden.

Der Dorfgemeinschaftsplatz. Das bereitstehende Feuerholz für den Grill darf auch von Gästen benutzt werden.

Der Dorfgemeinschaftsplatz. Das bereitstehende Feuerholz für den Grill darf auch von Gästen benutzt werden.

Wir folgen der Mottlau, wo immer es geht, so dicht wie möglich. Dazu müssen wir manchmal Umwege fahren, bei denen wir nicht wissen, ob sie am Ende wirklich nach Danzig führen.
Denn die Mottlau hat sich im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Wege gesucht, die dann mal abgedeicht oder aufgestaut oder umgeleitet wurden. Der Schutz vor Hochwasser muß für Danzig früher wirklich ein Problem gewesen sein. Aber die Sümpfe im Süden boten wohl auch Schutz vor Überfällen.
Erst nach 72 Kilometern stehen wir überrascht vor einem Stadttor nach Danzig und sind eine Minute später schon in der Innenstadt.

Der Radweg nach Danzig führt auf Deichen bis unmittelbar vor die Befestigungsanlagen im Süden der Stadt und zum Stadtor. Bis dahin deutet nichts auf eine herannahende Großstadt.

Der Radweg nach Danzig führt auf Deichen bis unmittelbar vor die Befestigungsanlagen im Süden der Stadt und zum Stadtor. Bis dahin deutet nichts auf eine herannahende Großstadt.

der totale Kontrast: Von einsamen Deichwegen binnen Minuten mitten in den Touristenrummel

der totale Kontrast: Von einsamen Deichwegen binnen Minuten mitten in den Touristenrummel

Wir finden auf Anhieb die Jugendherberge, lassen dort unser Gepäck und fahren noch zum Solidarnosc-Denkmal.

Die Adresse sollte sich merken, wer in Danzig preiswert und doch komfortable Unterkunft sucht. Alle Räume sind blitzsauber und renoviert.

Die Adresse sollte sich merken, wer in Danzig preiswert und doch komfortable Unterkunft sucht. Alle Räume sind blitzsauber und renoviert.

Jüngste Geschichte sehen wir auf den Tafeln: Zum Gedenken und zur Mahnung an alle Herrschenden, dass man auf Dauer sein Regime nicht mit
Unterdrückung aufrechterhalten kann.
Hautnah erleben wir eine Bestätigung, als uns ein älteres polnisches Ehepaar aus Australien dort begegnet: Beide waren bis 1988 in Danzig, sie arbeitete in der Druckerei der Werft und ermöglichte es der Gewerkschaft, dort Handzettel zu drucken und Aufrufe zu vervielfältigen, ihre Kollegen hielten dabei Ausschau, dass zu diesen Zeiten keine Polizei oder Spitzel in der Nähe waren.

Sie zeigt auf das Fenster, aus dem die Kollegen heraussehen mußten.
Noch heute sprüht sie von Engagement und freut sich, dass ihr Sohn nach der Wende in Australien einen Job fand - aber der wüßte schon gar nicht mehr, wie schlimm Unterdrückung und ständige Angst vor Entdeckung sein könne.

Auf dem Rückweg denken wir darüber nach, ob der Anteil der Polen am Abbau des Eisernen Vorhangs nicht noch größer gewesen ist als das, was die Deutschen dazu beigetragen haben. Und welche Opfer sie dafür gebracht haben.

Den nächsten Vormittag nehmen wir uns noch für Besichtigungen in Danzig vor. Wir fahren nach Oliva in die dortige Abteikirche.

Im Kloster von Oliva

Im Kloster von Oliva

Täglich gibt es dort ein Orgelkonzert, bei dem man die gute Akustik dieses überlangen Kirchenschiffes bewundern kann. Wir haben noch besonderes Glück und geraten unerkannt in eine polnische Pilgergruppe, der man auch das Allerheiligste des Klosters zeigt.

Klosterhof der Kathedrale von Oliva

Klosterhof der Kathedrale von Oliva

Zurück in der Stadt reicht die Zeit gerade noch für die Brigittenkirche.
Auch hier erleben wir jüngste Zeitgeschichte: Eine modern wieder aufgebaute Kirche, die in den achtziger Jahren den Mitgliedern der Solidarnosc Zuflucht gewährte.

Das Innere der Brigittenkirche

Das Innere der Brigittenkirche

Mahnmale für die polnischen Opfer des Massakers von Katyn und eine Gedenktafel des Pfarrers Popielusko, der sich zum Protest gegen die kommunistische Unterdrückung öffentlich selbst verbrannte. Leider sind die Texte nur polnisch, wir sehen hier auch wenig Touristen. Interessiert man sich so wenig für die Geschichte des Landes, das man besucht ?

Gegen 14 Uhr wird es Zeit zum Durchstarten, wir wollen heute noch bis zum Frischen Haff. Der Weg dorthin führt durch Danzigs Industriegebiete, und als wir eine Abkürzung an der toten Weichsel nehmen wollen, kommen wir nicht durch ein Sperrgebiet hindurch, das man weit rund um die Raffinerie gezogen hat. So lernen wir die Hauptstrasse Danzig-Warschau kennen, bei deren Planung man an Radfahrer überhaupt nicht gedacht hatte.

Abschied von Danzig

Abschied von Danzig

© Manfred Sürig, 2009
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Die Reise
 
Details:
Aufbruch: 06.09.2009
Dauer: 17 Tage
Heimkehr: 22.09.2009
Reiseziele: Polen
Der Autor
 
Manfred Sürig berichtet seit 18 Jahren auf umdiewelt.