DATELINE - "Über das Wünschen hinaus"

Reisezeit: November / Dezember 1986  |  von Wolfgang Baum

In 17 Tagen um die Welt.
Saudi Araben, Bahrain, Taiwan, Hawaii,
San Francisco, Miami, New York, Amsterdam.

Versuch einer literarischen Betrachtung.
Autor: Wolfgang Baum

Singapore

D A T E L I N E - SAUDI ARABIEN - BAHRAIN - SINGAPORE

Von Anfang 1985 bis Mitte 1986 arbeitete ich als Lehrer in Saudi Arabien in einem Projekt der SIEMENS AG. Wir unterrichteten Englisch fuer saudisches Sicherheitspersonal im Bereich der petrochemischen Großanlagen.
Dieser Bericht behandelt meine Abreise aus Saudi Arabien und den anschließenen Heimflug um den Globus. Alle Fakten und subjektiven Wahrnehmungen muß man vor dem Hintergrund lesen, daß Fliegen zu dieser Zeit noch nicht so zum normalen Alltag gehoerte, wie heute.

Fünf lange Monate waren mit seinem job in Dammam,
Hafenstadt der saudischen Ostprovinz und Zentrum der Ölförderung am Persischen Golf vergangen.
Jetzt sollte seine große Reise - eine Weltumrundung zurück nach Deutschland beginnen. Oftmals die aufdringliche Erinnerung an die bevorstehende Reise, die teilweise zur Belastung wurde, weil er befürchtete, dass noch irgendetwas dazwischen kommen und seinen großen Traum zerstören könnte. Nun war plötzlich der langersehnte Augenblick gekommen, an dem es keine Verpflichtungen mehr gab und ihm die über dreißigtausend Kilometer lange Reise um den Globus zurück nach Deutschland bevorstand. Die Strapazen des 4-monatigen Wüstenjobs haben in verkrampft gemacht, und er fühlt sich unbeweglich, besonders geistig so abgewetzt, alles in ihm ist ein wenig stumpf geworden. Jetzt, wo das lange Warten ein Ende hat, erscheint die Freiheit unwirklich, wie ein Trugschluss. Nun will er Saudi Arabien so schnell wie möglich verlassen, so als wäre er schon überfällig, seine Uhr bereits abgelaufen. Er hat innerlich abgenabelt und fühlt sich nicht mehr dorthin gehörig. Noch eine Hürde ist zu nehmen, bevor er endlich - dazu im allerletzten Moment - seine Reise beginnen kann, für die ihm bloß noch 17 Tage geblieben sind.

Mit der GULF AIR muss er auf die 25 Kilometer vor dem arabischen Festland gelegene Insel im Persischen Golf fliegen. Das EMIRAT BAHRAIN. Dort ist der Knotenpunkt internationaler Flugrouten nach Europa, Asien und Australien. Das Problem ist die Reservierung. Ausländer werden oft ohne Ankündigung von der Passagierliste gestrichen, wenn die Platznachfrage von Einheimischen zu groß ist. Sollte das bei ihm passieren, verpasst er die Maschine nach Bangkok am nächsten Morgen und müsste seinen gesamten Flugplan umstellen. Wegen der Vielzahl der Stationen und der ohnehin schon zu knappen Zeit wäre das Chaos perfekt, denn möglicherweise würde er keinen Trans-Pazifik-Flug mehr bekommen und das Ticket läuft unumstößlich am 23. Dezember 1986 aus. Er versucht die Gedanken zu verdrängen, spürt aber, wie die Angst gekrochen kommt. Sein Flug ist für mittags 12.00 Uhr gebucht. Am frühen Morgen will er sich vorsichtshalber noch einmal die Reservierung bestätigen lassen und man teilt ihm lakonisch mit, dass er auf die Maschine für 14.00 Uhr gesetzt wurde. Eine Begründung gibt es nicht. Seine Nervosität steigt, als man beschwichtigend hinzufügt, dass man sich bemühe, diese Reservierung abzusichern. Bei Schwierigkeiten am Flughafen möge er sich direkt an das Büro der GULF AIR wenden. Welch eine Sicherheit beim Umgang mit Saudis! Am Airport angekommen steigen Puls und Unruhe. Fragend und zögernd kontrolliert der Beamte das Ticket, verlässt den Schalter und verschwindet in einem der vielen Büros, die hinter der Schaltfront liegen. Irgendwas scheint nicht in Ordnung zu sein. Er möge doch bitte den Computerausdruck der Reservierung vorlegen. Der Schalter sei dort drüben. Seine Knie werden weich, das Herz pocht im Hals. - Erleichterung ! Nun ist alles o.k. und er bekommt seinen Boarding-Pass. Welch eine Aufregung für die 10 Minuten Flug ! Der übliche Sicherheits-Check beginnt. Immigration Card ausfüllen; Sichtkontrolle der Reisedokumente an der ersten Sperre. Inzwischen hat er sich schon an die leblos eisigen Blicke des saudischen Kontrollpersonals gewöhnt und kontert sie mit gespielter Gleichgültigkeit. Die Passkontolle zieht sich durch die übliche Lustlosigkeit und Borniertheit der Beamten länger als nötig hin. Sie gehören einer Sondereinheit der Polizei - der Task Force Police - an, aus der auch seine Schüler kommen. Ihr Dienstgrad ist mit zwei oder drei Streifen am Oberarm gekennzeichnet, während seine Schüler vier Streifen haben. Zu gut kennt er das Niveau und weiß, wen er vor sich hat. Keine Formfehler, - Stempel, - Weitermarsch zur Körper- und Handgepäckkontrolle. Geschafft! Jetzt ist er in der Abfertigungshalle, und lauscht der arabischen Ansage. Inzwischen beherrscht er die Lautdiskriminierung soweit, dass er aus dem unverständlichen Redeschwall die Flugnummer heraushören kann. GF 101, 14.00 Uhr nach BAHRAIN, Gate 5. Dann am Ende das schon gewohnte SHUKRAN (danke). Weit draußen auf dem Rollfeld in der Wüste ist gerade die Boeing 737 gelandet. THE GOLDEN FALCON mit dem entsprechenden Symbol, das er schon auf dem Seitenruder erkennen kann. Routine folgt, bis die Maschine dem festen "Shuttle-Fahrplan" folgend wieder an den Start gehen kann. Wie einen Jubelschrei empfindet er das brodelnde Eskalieren der Schubkraft, mit der er seine jüngste arabische Vergangenheit wegzublasen scheint. Etwas ungewohnt ist es für ihn, wie der kleine Jet von Turbulenzen irritiert einen festen Halt in der Luft sucht. Er sitzt ganz ruhig und spürt den üblichen Reflex eines Fluganfängers. Bloß nicht bewegen, um das Flugzeug nicht in seiner Stabilisierungsphase zu stören. Bei dem Gedanken an seine "Flugvergangenheit" fühlt er sich förmlich ertappt und muss sich ein beschwichtigendes Schmunzeln verkneifen. In einer scharfen Kurve zieht die Maschine über den Stadtkern von AL KHOBAR in Richtung Küste. Er erkennt Straßenzüge, das Kashoggi-Building, Einzelheiten und merkt, dass er nicht irgendeine Stadt überfliegt, sondern etwas Vertrautes, vielleicht sogar Liebgewonnenes, von dem er sich mit einem wohlgemeinten "Farewell" verabschiedet. Es tut ihm gut zu wissen, dass er in 6 Wochen wiederkommen kann, um einen weiteren 4-Monats-Job abzuwickeln. Nach etwa einer Minute schwenkt das Flugzeug hinaus auf den GOLF und an den Untiefen zeichnet sich der Grund deutlich im Türkis des Wassers ab.

Der Saudi-Bahraini-CAUSEWAY, die Brückenverbindung zwischen dem Festland und der Insel ist jetzt aus 800 Metern Höhe in seiner vollen Länge zu sehen und in der Entfernung erkennt er schon die Hafenanlagen und die "CORNICHE" (Uferpromenade) von MANAMA. Wie friedlich das Emirat dort im Golf liegt, während einige hundert Kilometer weiter nördlich die von iranischen Kampfflugzeugen abgefeuerten "Luft-Boden-Raketen" vielleicht gerade den Rumpf eines Öltankers aufreißen und der schwarze Rauch über der Feuersbrunst hoch in den Himmel quillt. Er hat sich inzwischen an den Gedanken gewöhnt, so nahe an einem Kriegsgebiet zu leben und sich dennoch sicher zu fühlen. Die großpolitische Lage spricht gegen eine Ausweitung der Kampfhandlungen auf Kuwait, Saudi Arabien, Qatar und die Emirate. Die finanzielle Unterstützung der Irakis durch die Golfstaaten ist der iranischen Regierung zwar ein Dorn im Auge, jedoch würde ein Angriff auf irgendeines dieser Länder die Solidarisierung der GCC-Staaten (Gulf-Corporation-Countries) und zur Ausdehnung des Konflikts auf den gesamten arabischen Raum führen. Die Schlagader für die Ölversorgung der westlichen Welt wäre getroffen und ein Eingreifen der amerikanischen Flotte in den Gewässern der STRASSE VON HORMUZ eine nach amerikanischer Denkart logische Konsequenz.
Schon ist der "Goldene Falke" der GULF AIR im Landeanflug, setzt sauber auf, schaltet die Triebwerke unter dem üblichen Poltern auf Gegenschub und kommt überraschend schnell zum Stehen. Die Transithalle des Airports ist ihm vertrauter als der Abfertigungsbereich des Kölner Flughafens, denn schon viele Stunden verbrachte er hier als übermüdeter Anschluss-Passagier. Wohltuend und kontrastreich die freundliche Atmosphäre , das positive Lebensgefühl der Bahrainis. Nach dem Erwerb von Tagesvisum und Hotelgutschein wird er von einem Kleinbus via MUHARRAQ zum AL JAZIRAH-HOTEL nach MANAMA gebracht.

Die Mittagssonne steht schon tief und färbt den Himmel samtweich orange, das stufenlos aus dem Blau des Himmels hervorkommt. Ihm wird bewusst, dass er die Schönheit eines orientalischen Abends in Saudi Arabien schon als Selbstverständlichkeit unbeachtet ließ. Die Urlaubsstimmung verändert seinen Blickwinkel. Im Hotelzimmer ein erstes Bier, ein Blick vom Balkon in die betriebsamen Straßen MANAMAS, gegenüber eine große Moschee, deren "Allah Akbar" lautstark in seinen Raum dringt. Jetzt gehört ihm die Welt! Ein irrsinniges Gefühl! Gegen 20.00 Uhr geht er zum Abendessen und wird in einer Atmosphäre gediegener Schwere gleich von zwei Kellnern bedient. Jetzt kann er sich schadlos halten für die Zeit der Entbehrungen, Dinge nachholen, auf die er so lange verzichten musste. Was ist es nun eigentlich? Am meisten hat er die Sachen vermisst, die in seinem normalen Leben teilweise ungenutzt verfügbar sind. Weniger Materielles, als vielmehr scheinbar Nebensächliches. Da ist ein gemütlicher Schaufensterbummel, auf dem man seine Interessen auslotet; optische Reize, die man nur unbewusst aufnimmt und vielleicht im nächsten Traum verarbeitet; Gespräche mit interessanten Leuten; Grün, ja das Grün der Natur vermisst er so sehr; ein schmeichelhaftes Lächeln, ein kurzes Augenspiel, ein weiblicher Gang, eine Geste, eine schmale Hand, eine schlanke Fußfessel, eine Frauenstimme, lange Haare; ja man hat keinen Spiegel, in dem man sich richtig sehen kann. Er freut sich schon auf den kommenden Morgen im Flugzeug, wenn er mal wieder "Leben" um sich herum spürt.
Das Telefon schrillt um 3.00 Uhr nachts und kurze Zeit später geht er durch tiefste Dunkelheit in Richtung Airport. "Boarding Time" ist um 5.00 Uhr, und als die BOEING 747 in den arabischen Morgenhimmel aufsteigt, verdrängen die ersten Sonnenstrahlen das Grau der Nacht. Noch im Steigflug wird der Sonnenball durch den veränderten Blickwinkel vollends sichtbar und die Maschine geht auf Kurs in Richtung STRASSE VON HORMUZ und IRAN. Erst später erfährt er den Grund für das Abschotten der linken Fensterfront. Selbst auf internationalen Flugrouten hält man wegen des "Golfkrieges" gewisse Sicherheitsbestimmungen ein. Das Fliegen empfindet er immer wieder als eine Faszination, wie einen Seitensprung in einer luftigen Existenz. Eine Freiheit, die nicht greifbar ist, schien ihn zu umgeben. Wie vielleicht andere Passagiere - die Feinfühligen - spürt er nach dem Abheben vom Boden eine psychische Umstellung und mit steigender Höhe verstärkt sich dieses Bewusstsein der Veränderung. Ist er über den Wolken, so verlieren die Alltagssorgen an Gewicht. Beim gründlicheren Nachdenken betrachtet er die neue Perspektive als ein Abstreifen der irdischen Existenz. Der Flug führt weiter nach PAKISTAN und bei guter Sicht erkennt er weit unter sich die Umrisse von KARACHI. Neuland für ihn und jetzt verwirklicht sich sein Traum, dem "Nils Holgerson" der Selma Lagerloev gleich, ferne Länder und Kontinente zu überfliegen. Er überquert den INDISCHEN SUBKONTINENT auf der Höhe von KALKUTTA, bevor sich der GOLF VON BENGALEN schemenhaft in der Tiefe abzeichnet. Dies ist das Gebiet der verheerenden Zyklone, die fast in jedem Jahr ganze Landstriche dem Erdboden gleich machen. Gerade reicht ihm die mandeläugige Stewardess mit einem professionellen Lächeln Sekt auf einem Silbertablett. Beim Vorbeugen spannt sich der Schlitz ihres Sarongs und gibt das wohlgeformte Bein bis weit übers Knie frei. Die Nylonstrümpfe glitzern seidig auf der weißen Haut. Vier Monate Arabien zeigen Wirkung, denn er wird spürbar erregt. Als er wieder Festland sieht, weiß er nach einem Blick auf Landkarte und Routenplan, dass dies BURMA ist. Die Stimme des Kapitäns lenkt die Aufmerksamkeit auf RANGUN, das an der rechten Fensterreihe 10.000 Meter unter ihm liegt. Kurz vor dem Beginn des Sinkfluges erreicht das Flugzeug THAILAND, das sich bald darauf im Zeitlupentempo durch den Höhenverlust vergrößert... Jetzt ist er dem Tag für weitere vier Stunden entgegengeeilt und nach sechs Stunden Flugzeit ist hier bereits Nachmittag. Endlose Grünflächen, Reisfelder, Palmen werden sichtbar und nach genau sechs Monaten landet er zum zweiten Mal in BANGKOK, Eigenartig, wie vertraut ihm alles ist. Er erkennt die amerikanischen Militärmaschinen weit draußen, das Flughafengebäude, weiß noch an welcher Stelle er damals zum ersten Mal in seinem Leben thailändischen Boden betreten hat, als er über die Gangway in die tropische Schwüle hinauskam. Das Flugzeug rollt auf die Parkposition, um in einem einstündigen "Stop-over" für den Weiterflug nach SINGAPORE abgefertigt zu werden. Alle Passagiere bleiben an Bord, während Catering-. Kontroll- und Putzpersonal die Kabine bevölkert. Von der Sonne ermüdete, träge Hitze dringt durch die geöffneten Türen und treibt ihm Schweißperlen auf die Stirn. Hektische Betriebsamkeit rundherum. Rechts, beim Blick aus seinem Kabinenfenster sieht er eine geparkte BOEING 707 neben sich. Er liest die Aufschrift HOENG HAHG, VIET NAM und wird daran erinnert, dass er ja gar nicht mehr weit davon entfernt ist. Dieses zum Krieg verdammte Land, von dem er schon als Jüngling in der Zeitung las. Worte wie "Vietkong und Ho-Tschi-Minh" prägten sich ihm zwar ein, aber irgendwie war alles viel zu weit weg, um es in seinem Vorstellungsvermögen plastisch werden zu lassen. Planmäßig war die Maschine wieder in der Luft und zog hinaus vom thailändischen Festland auf den GOLF von SIAM. Entlang der Küstenlinie von Malaysia ging es in zwei Stunden

zum asiatischen Stadt-Staat SINGAPORE. Gewaltig, wie sich hier die Monsunwolken als bizarre Gebilde bis weit über 12.000 Meter in die Höhe erheben und deren Weiß sich in scharfen Rändern vom verschwommenen Blau des Meeres abhebt. Er sieht überdimensionale Figuren, Gnome, Seepferdchen in hunderttausendfacher Vergrößerung, Pilze, Quallen, Schwämme, Säulen, Glet-scherabbrüche, ganze Gebirgsformationen. Dabei erinnert er sich zurück an seinen ersten Flug durch dieses Gebiet, als der AIRBUS A 310 von einer thermischen Boe wie ein Blatt Papier in die Höhe getrieben wurde, ehe der abbrechende Auftrieb die Maschine jäh in ein Luftloch fallen ließ. Das war damals weit mehr als er erwartet hatte und zum ersten Mal kam Unsicherheit, ja sogar Angst auf. Passagiere schrien schrill. Stewardessen hockten sich zum Schutz in den Gängen zu Boden, um an den Sitzlehnen Halt zu finden. Gläser, Bestecke, ganze Tabletts polterten zu Boden und für einen Moment glaubte er, dass es nun vorbei wäre. Es blieb keine Zeit, um es konkret zu denken, aber irgendwie scheint das Gehirn entsprechende Reflexe zu zeigen. Er nimmt es mehr körperlich wahr. Eigenartig, dass im entscheidenden Moment gar keine Angst aufkommt, sondern nur das Erkennen einer endgültigen Wende, der man sich schicksalhaft fügt... Erst als der Jet unter Krachen und Vibrieren auf eine tiefer liegende Luftschicht aufprallt und er derb gegen die Armlehne seines Sitzes gestoßen wird, die kreischenden Stimmen abrupt verstummen, wird ihm eigentlich richtig bewusst, was passiert war. Blaß und fragend sieht er sich um und erkennt, dass er seine Angst nicht verbergen muss. Erst jetzt beginnt er die Situation rasterhaft nachzuvollziehen und muss sein Vertrauen zum Flugzeug ganz bewusst neu aufbauen. Die Stimme des Kapitäns, der sich im Namen der "Singapore Airlines" für die Unannehmlichkeiten mehrmals entschuldigt, hilft wenig. Er erführt die Angst als etwas Endogenes, das man nur selbst überwinden kann. Er weiß, dass solche Vorkommnisse durch geschickte Navigation durchaus vermeidbar sein können und deutet das fieberhafte Bemühen der Stewardessen, die Sache "wieder gut zu machen" entsprechend. Schnell ist alles vergessen, man lacht wieder und der steigende Geräuschpegel des Stimmengewirrs macht deutlich, dass nun eifrig über den Vorfall diskutiert wird.
Wie in einem Bilderbuch zieht die MALAYSISCHE KÜSTE am Fenster vorbei und die samtweiche Landung auf dem CHANGI-AIRPORT war die überzeugendste Entschuldigung des Kapitäns. Man merkte förmlich, dass der Pilot hier eine Chance sah, mehr als nur Worte zu zeigen. Der "Touchdown", das Aufsetzen der Räder war fast nicht zu spüren. Eine Musterlandung in Singapore, seinem "Heimathafen" nach Köln, Frankfurt, Amsterdam und Dharahn.

Hier kennt er jeden Meter in Abfertigungshalle, Baggage-Claim und Transitbereich. Dies war für ihn die Drehscheibe als Ausgangs- oder Endpunkt zu seinen früheren Reisen nach Australien, Indochina und Europa. Es ist bereits früher Abend und die Dämmerung setzt ein. Die kommende Nacht wird er im Flughafengebäude verbringen, da er bereits am nächsten Morgen um 10.00 Uhr weiter nach TAIWAN/Nationalchina fliegt. Eine lange Nacht steht bevor, denn Schlaf wird er nur flüchtig in den Polstersesseln des Aufenthaltstraktes finden und nicht im Raffles Hotel in der Innenstadt.

Schon einmal machte er diese Tortur durch, als er von Manila kommend auf den Weiterflug zu den Malediven wartete. Er weiß, dass er aus dem brodelnden Treiben umherirrender Passagiere als einziger Zeuge für die Nacht hervorgehen wird. Er hat den Pulsschlag des Airports damals millimetergenau gefühlt, kennt das Psychogramm des Betriebs. Was hilft schon die Masse, wenn man für die letzten Dinge allein verantwortlich ist? Er kommt ins Grübeln und denkt weit über die Gegenwart hinaus. Noch geht es hier hoch her. Schnelle Schritte, hastige Bewegungen, Unsicherheiten, Fotoposen, Eitelkeiten, Langeweile, Müßiggang, letzte Telefonate, Einkäufe, Lachen, Tränen, Abschiedsumarmungen, Toiletten, Büffets, Kioske, Bier im Stehen, Kuchen im Sitzen, Post, Bank, Globus mit Weltzeit, Japaner, Lateinamerikaner, Chinesen, Europäer, Australier, Familien, Kinder, Einzelgänger, Fernweh, Heimweh, Aufbruch und Rückkehr. Das Rasseln der Anzeigetafeln, wenn neue Flüge nach Auckland-Anchorage, Seoul,Sydney, Taipei, Tokyo angekündigt werden. Eine einzige Lufthansa-Maschine nach Frankfurt zwischen Malaysian Airlines, Garuda-Indonesian, Singapore-, Japan-, China-Airlines, Quantas-Australian, Cathay Pacific, Thai-International und Royal Brunei Airways. Die Air France nach Paris klingt fast exotisch zwischen diesen Namen. Kaum vorstellbar, dass er nach einigen Stunden hier fast allein übrig bleiben wird, wenn das Pochen des Flugbetriebs nachlässt und sich das termitenartige Durcheinander in der Halle aufgelöst hat. Noch ist es jedoch zu voll, um sich seinen endgültigen Schlafplatz auszusuchen. Er weiß nur, dass es in der Nähe einer Toilette und möglichst weg vom Licht sein muss. Vor der Weltuhr stehend denkt er an Deutschland, rechnet sieben Stunden zurück und stellt sich vor, wie man sich dort gerade aufs Mittagessen vorbereitet. Die Toilettenfrau erkennt ihn schon, als er zum dritten Mal durch die Türe kommt und sie scheint zu wissen, dass er zu den wenigen Flughafenpennern gehört, die der Abend als Treibgut hinterlassen wird. Die Flugansage erfolgt in Englisch und Mandarin, das hier in Singapore gesprochen wird. Etwas abgehackt, einsilbig klingt es und lässt die einschmeichelnde Sanftheit und getragene Sprachmelodie des Thai vermissen, die so erotisierend auf ihn wirkte. An den Blicken einiger Verkäuferinnen merkt er auch, dass man ihn bereits wieder erkennt, auf seinen endlosen Streifzügen durch die lang gestreckte Halle, die jedoch durch innenarchitektonischen Ideenreichtum extrem positiv wirkt. Günstige Farbabstimmungen von Teppichen und Polstern, unaufdringliche Marmorvertäfelungen, luftige Hydrokulturen, geschickte Raumaufteilung, geschmackvolle Schaufensterauslagen, Emporen und Terrassen, der große Wasserfall vor den Anzeigetafeln, Fernseh-Sitzgruppen und die landesübliche Sauberkeit lassen vergessen, dass dies eigentlich nur ein Ort ist, an dem die Umverteilung von Menschenmassen funktional gelöst werden muss. Die Frequenz der Flugbewegungen wird allmählich niedriger und die unübersichtlichen Menschenknäuel lösen sich auf. Erste Rollos fallen polternd in die Verriegelung, Wechselstuben schließen und auf den Parkpositionen vor der großen Scheibe stehen nur noch Maschinen, die verdunkelt und abgenabelt von Versorgungsleitungen, Schläuchen, Funkverbindungen auf den Einsatz am kommenden Tag warten. Es wird ruhig; hier und dort noch ein vereinzelter Irrläufer, eine verrutschte Krawatte und die unansehnlich weißen Waden, die das gekräuselte Hosenbein des schlafenden Mannes freigibt. Ob er sein Nickerchen bereuen wird, weil seine Maschine schon über Indonesien ist ? Er sieht nicht aus, als hätte er die Nachtruhe an dieser Stätte eingeplant. Er selbst glaubt hingegen, sich in seiner Jeans und dem Anorak nur schwer einschätzbar gemacht zu haben, losgelöst zu sein von sozialen Rastern. Er weiß, dass er in Auftreten, Sprache und Habitus eine gute Plattform hat, die beim Umgang mit Menschen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten eine gute Basis bildet. Er vermeidet es bewusst, kategorisierbar zu sein. Auf seinen vorherigen Reisen, im Umgang und Gespräch mit so vielen Leuten, hat er gelernt, dass eindeutig einschätzbare Personen auch in ihrer Geisteshaltung monogam langweilig waren. Die Unscheinbaren waren meist diejenigen, die dann in der Unterhaltung Intelligenz, Selbstironie, Horizont und Humanität bewiesen. Für ihn ist dies Lernziel und er fühlt sich im Moment in seiner exzentrischen Gegenwart nicht als Außenseiter. Wichtig erscheint es ihm, an sich selbst festzuhalten und von Äußerlichkeiten unabhängig zu sein. Würde er nicht allein reisen, bliebe ihm für solche Reflexionen keine Zeit. Gerade darin liegt die Erlebnistiefe des Allein-Reisens, denn es gibt niemanden, mit dem er Freude und Begeisterung spontan teilen könnte. Oft muss er sich diese Gefühlsregungen verkneifen und sie konservieren in den cerebralen Speichereinheiten, die für diesen Bereich zur Verfügung stehen. Im Alleinsein liegt die schöpferische Ruhe, die absolute Individualität. Nicht nur sehen, sondern beobachten will er, nicht konsumieren, sondern verdauen, keine Reproduktion, sondern Einmaligkeit, Einzigartigkeit, die Unwiederbringlichkeit des Augenblicks. Hierin liegt seine Stärke, hier wird seine Sensibilität zum Vorteil. Selbstverantwortung und nicht Mitläufertum werden geübt, Kreativität und Flexibilität geschult. Welch ein Experimentierfeld für den Charakter. Wie gut, dass er diese Möglichkeit hat und nicht dem "Glotz- und Freßtourismus" unterworfen ist. Er will hiermit nicht verletzend verallgemeinern, sondern allenfalls diejenigen anklagen, die aus der Unbeweglichkeit und Ideenlosigkeit vieler Menschen, aus den Heerscharen geistiger Reproduzenten in der kollektiven Verdummung des Massentourismus, Kapital schlagen. Um nicht missverstanden zu werden: Ein kreativer Urlaub in einem Naherholungsgebiet hat eine größere Wertigkeit, als ein stumpfsinniges abgefüttert werden im heutigen "Kompakttourismus" der großen Reiseveranstalter. Natürlich nimmt auch er temporal die gezielte Hilfe eines geschulten "Informanten" - um das Wort "Reiseführer" zu vermeiden - in Anspruch, jedoch kann er sich alle Vorabinformationen selbst "erlesen" und will sich Winkel und Brennweite seiner Blicke und Beobachtungen nur ungern vorschreiben lassen.

Kurz nach Mitternacht, als die Beleuchtung auf halbe Stärke geschaltet wird, schwärmen die Putzschwadrone aus und verteilen sich in ihren hellblauen Kitteln wie emsige Arbeitsbienen. Es ist sehr ruhig und er hört gelegentlich das Plätschern eines ausgewrungenen Aufnehmers. Gesprochen wird kaum und der "Duft der großen weiten Welt" riecht nach Salmiak und Wachs. Er hatte sich gerade hingelegt - die verchromte Lehne in den Kniekehlen - als schwarze, vermummte Gestalten geduckt und katzenhaft von Säule zu Säule pirschen, um nach abgesprochener Verständigung durch Blickkontakt ihren Sturmlauf fortzusetzen. Angst fährt ihm durch die Glieder. Er wird hellwach und duckt verzweifelt hinter der Sitzlehne ab. Terrorismus bei Nacht ? Wer soll als Geisel genommen werden? Die Putzleute, er selbst? Trotz seiner flehenden Hoffnung, übersehen zu werden, versucht er sachlich zu bleiben. Welch ein Glück, alle "Terroristen" sind vorbei und verschwinden in der angedunkelten Fortsetzung der Halle. Sein Herz pumpt und er wundert sich, dass die Putzleute scheinbar unbeeindruckt von dem Vorfall sind. Er erkundigt sich und erfährt, dass es sich um eine Routineübung der Sicherheitspolizei handelte. Er solle sich keine Sorgen machen. Es dauert noch etwa 15 Minuten, bis er in einen unbequemen Halbschlaf fällt, aus dem er im ersten Morgengrauen erwacht. So allmählich wie das Leben gestern Abend versiechte, so erwacht der Tag stufenweise mit wachsender Aktivität. Unausgeschlafen, mit krummgelegenen Gelenken, verspannten Muskeln und einer zähen Trägheit des Geistes, beginnt er sich mit der Morgentoilette auf seinen Weiterflug vorzubereiten. Noch sind es aber zwei Stunden und er ist überall der Erste. Am Check-in-Counter weist man ihn noch zurück und vertröstet ihn auf die nächste Stunde. Flugnummer und -ziel sind in den Computer-Terminals schon angezeigt - Singapore/Seoul mit Zwischenlandung in TAIPEI, eine Boeing 747. Gelangweilt streift er umher und lauscht den Ankündigungen der startbereiten Maschinen und ihm klingen die Ohren beim letzten Aufruf für die ROYAL BRUNEI AIRLINES zu den CHRISTMAS ISLANDS im Indischen Ozean. Traumziele einer fernen Welt stehen ihm nun offen und seine freudige Erregung verdrängt die klapprige Müdigkeit. Dann endlich ist es auch für ihn soweit, die Singapore Airlines nach Seoul wird aufgerufen. Im Flugzeug stellt er verwundert fest, dass er der einzige Vertreter aus der westlichen Hemisphäre ist. Weder Europäer noch Amerikaner, sondern nur Asiaten, Singaporianer, Taiwanesen, Chinesen und Koreaner. Die Ansagen erfolgen nur noch in Chinesisch und Koreanisch. Speisekarten sind nicht mehr in Englisch ausgedruckt und ihm wird deutlich, dass er in eine fremde Welt fliegt. Er merkt, wie er als Exote angestarrt wird und weiß nicht, ob er es angenehm oder aufdringlich finden soll. Zu seinem Glück wird beim Essen neben den Stäbchen auch normales Besteck aufgedeckt. Die Route führt hinaus aufs SÜDCHINESISCHE MEER, in Sichtweite vorbei an VIETNAM und endet für ihn nach ca. vier Stunden Flugzeit bei einer Zwischenlandung in TAIPEI/TAIWAN. Das Meer ist von schlierigen Wolken überzogen, unterbrochen von großflächigen Aussparungen, durch die das Wasser gut zu erkennen ist. Die Höhensicht ist unendlich und läßt den Blick schrankenlos in die Ferne gleiten. Glücklicherweise löst sich die Wolkenschicht fast vollständig auf, bevor unten schwache Konturen mit Mühe auszumachen sind. Immer mehr nähert sich die Maschine auf dem neu eingeschlagenen Kurs dem Festland und allmählich zeichnen sich grün-braune Farbschattierungen ab. Ein ergreifender Augenblick für ihn, die Küstenlinie VIETNAMS etwa 15 Minuten lang zu überfliegen. Hier also haben die USA ihren schmutzigen Krieg verloren, die klebrige Napalmglut auf nackte Kinderhaut geworfen, mit Feuerwerfern in die Wohnzimmer der Bambusbehausungen gespuckt, schwangere Frauen erschlagen, um sie noch mal zu missbrauchen, ehe sie erkalteten. Ganz bewusst unterbricht er seinen Gedankenstrom, um die Fassung nicht zu verlieren. Erinnerungen kommen ihm an seine kambodschanischen, laotischen und vietnamesischen Schüler, die aus diesem Meer als "Boatpeople" gerettet wurden. Er sieht, wie die Haut seiner Unterarme aufhellt und sich eine Gänsehaut als scharfe Schraffur abzeichnet. Bewegungslos starrt er dabei auf dieses verfluchte Land.

© Wolfgang Baum, 2005
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Die Reise
 
Details:
Aufbruch: November 1986
Dauer: circa 4 Wochen
Heimkehr: Dezember 1986
Reiseziele: Singapur
Taiwan
Vereinigte Staaten
Der Autor
 
Wolfgang Baum berichtet seit 19 Jahren auf umdiewelt.
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