Armenien 2007

Reisezeit: Juli / August 2007  |  von Michael Kasper

Der Süden

Vom kuehlen Hochplateau in die heissen Taeler

Wir sind im Sueden Armeniens angekommen. Die letzten Tage reisten wir um den Sewan See, der inmitten eines sanften Plateaus auf 1900 Metern liegt. Sanfte, weite, gruene Huegel umrahmen den blauen, gar nicht so kalten See. Die Armenier geben sichs hier fuer die wenigen Sommermonate voll: Die heruntergekommenen Doerfer um den See, stark getroffen von Abwanderung, Arbeitslosigkeit mit einem Hauch des Glanzes vergangener besserer Zeiten (Sowjet-Aera) bluehen dann ploetzlich auf, in Form von Grill- und Sauforgien entlang der Straende, Surf-Wettbewerbe (Nummer 1 der nationalen Berichterstattung im Fernsehen) und die Hummer, Mercedes, BMWs der neureichen Jerevaner stehen vor den All-Inclusive-Hotels Schlange. (Wir haben dort uebrigens nicht genaechtigt.)

Dieses Sodom und Gomorrha haben wir natuerlich schnell verlassen um am suedlichen Seeufer ruhigere Gefilde zu erkunden. Prompt wurden wir wieder von einem gastfreundlichen Armenier beschlagnahmt, der uns den ganzen Nachmittag von einem Essen zum naechsten einlud und uns zwischenzeitlich auch noch mit seinem Lada-Oldtimer UAZ (Villis) ans Seeufer kutschierte. Das war natuerlich sehr interessant und auch sehr nett, ist aber mit der Zeit schon anstrengend - daher geniessen wir heute besonders die Anonymitaet und Gleichgueltigkeit uns gegenueber in einem der klassischen Sowjet-Hotels.

Der heutige Tag fuehrte uns naemlich in die Stadt Yeghegnadzor, auf 1200 Metern gelegen und sehr heiss, von wo aus wir in den naechsten Tagen die Gegend um Sisian und Goris (viele Sehenswuerdigkeiten und schoene Landschaft) erkunden wollen. Und schon am Wochenende geht es wieder zurueck nach Jerevan...

Die letzte Woche begann

... mit einer Fahrt im ueberfuellten Minibus (20 + wir) von Yeghegnadzor nach Sisian. Waehrend Edith halb-halb am Fahrer- bzw. Beifahrersitz sass und zumindest die Landschaft geniessen (?) konnte, musste ich auf einem Holzschemel in der dritten Reihe Platz nehmen, den Rucksack natuerlich am Schoss - und das auf einer kurvigen Bergstrasse ueber 70km und der hier ueblichen Fahrweise...

So waren wir begreiflicherweise ziemlich froh endlich angekommen zu sein und bezogen nach einigen Naechten in heruntergekommenen Sowjet-Hotels diesmal ein Zimmer in einem renovierten Sowjet-Hotel (mit groesstenteils funktionierendem Warmwasser, Dusche und armenisch-russischem TV).

Nach einer - aufgrund der hier ueblichen Wach- und Ruhezeiten - recht lauten Nacht erfuellten wir heute Vormittag unser Touristen-Pflichtsoll und fuhren mit einem Taxi zum Stonehenge von Armenien: Zorats Karer. Zahlreiche aufgestellte Steine, teilweise mit Loechern darin, die einen Kreis bzw. irgendwelche Linien bilden - was angeblich an den Sonnwenden einen Sinn ergeben soll. Jedenfalls ist die Staette aber ca. 5000 Jahre alt. Noch aelter sind in den Bergen ueber der Stadt, an der aserbaidschanischen Grenze, Felsmalereien mit einer der aeltesten Darstellungen von Adam und Eva - 7000 vor heute...

Die Landschaft hier ist uebrigens extrem trocken und hat schon fast wuestenhaften Charakter. Gruen ist es nur entlang der Fluesse bzw. dort wo bewaessert wird.

Hinter den Bergen im Westen und Osten befinden sich in allernaechster Naehe die Enklaven Nachitschevan (Aserbaidschan) und Nagorni-Karabach (Armenien). Beides politisch sehr brisante Staetten, die den schmalen suedarmenischen Korridor umso vereinsamter wirken lassen. Hier ist man wirklich sehr abgelegen... Vom Krieg um Karabach zeugen auch zahlreiche Denkmaeler und Graeber von jungen Maennern aus Sisian, die zwischen 1988 und 1994 um die Unabhaengigkeit dieser Enklave gekaempft hatten.

Morgen werden wir weiter nach Goris reisen und das "beruehmte" Tatev-Kloster besuchen. Mehr dazu demnaechst.

Marschrutkaabenteuer

Auf unserer Fahrt von Sisian nach Goris wurde unser 'Marschrutka(Minibus)-Insassen-Rekord' von vorher deutlich relativiert. Empfanden wir das letzte Mal 22 als viel, wurden wir eines besseren belehrt, denn mit 27 Passagieren erreichten wir geradezu malawische Verhaeltnisse. Wir hatten aber dieses Mal mehr Glueck, denn wir sassen gemuetlich zu viert in der letzten Reihe, waehrend sich in der zweiten Sitzreihe neun Mitfahrer zusammenquetschten...

Auf der gestrigen Tour von Goris zurueck nach Jerevan (5 Stunden) war es zwar vom Platzangebot her recht gemuetlich, doch dafuer war unser Adrenalinpegel auf dieser kurvigen Strecke (mit zwei zu ueberquerenden Paessen) durch die gelinde gesagt "rasante" Fahrweise auf einem Dauerhoechststand und es gab einige brenzlige Situationen beim Ueberholen iranischer Tanklaster in unuebersichtlichen Kurven...
Die Armenier machen aus dieser fahrtechnischen Not eine Tugend: Immer wieder erklaeren sie stolz, dass derartige Ueberbesetzungen der Verkehrsmittel, eine derartig rasante Fahrweise, ein vollkommen abgefahrenes Reifenprofil oder ein voelliges Ignorieren der Sitzgurte bzw. der Verkehrsregeln bei den "schwaechlichen" Europaeren wohl nicht moeglich waere.

So sicher Armenien in den allermeisten Hinsichten ist, so besteht das groesste Risiko fuer einen Touristen (so wie natuerlich auch fuer die Einheimischen) im Verkehr. - Gott sei Dank muessen wir nur mehr von Jerevan zum Flughafen eine Marschrutka benuetzen, hier in der Hauptstadt vertrauen wir uns der Kuehle und Sicherheit der Metro an ...

Mehr dazu: http://www.armenianow.com/archive/2004/2003/november07/home/index.htm

Gastfreundschaft und Touristenabzocke

Im Grossen und Ganzen war und ist die armenische Gastfreundschaft auf dieser Reise wirklich unuebertrefflich. Im Norden waren wir mehrere Tage bei zwei Familien eingeladen, in Martuni wurden wir zum Essen eingeladen, hier in Jerevan gibt es bei unseren Gastrgebern jederzeit 'surtsch' (armenischen Kaffee), Fruechte und Saft - doch dass es auch anders sein kann bewies unser Aufenthalt in Goris:

Ein vom Lonely Planet lobend erwaehntes B&B (Bed & Breakfast) uebertrieb es mit der Abzocke ein wenig. Obwohl es - wie wir spaeter erfuhren - in der Stadt noch freie Quartiere gegeben haette, wurde uns das Gegenteil vorgemacht und wir dazu ueberredet teure Notbetten in Anspruch zu nehmen. Das als Gastfreundschaft getarnte Angebot Maulbeeren aus dem Garten, Kuchen und Kaffee stellte sich auf der Abschlussrechnung als teurer Luxus heraus. Ganz zu schweigen davon, dass Taxidienste nicht aus der Hand gegeben wurden, sondern auch teuer von der Gastgeberfamilie selbst durchgefuehrt wurden. Oligarchen eines zarten Tourismus... nur dass einem als Touristen jede Entscheidungsfreiheit erschwert wird, wenn man als nachhaltig denkender Tourist sein Geld lieber in moeglichst viele verschiedene Familien vor Ort investieren moechte.

Also: Don't go there - Lyova Mezhlumyan B&B (Makichi Poghots) Goris.
(Es gibt genug Alternativen!)

Resuemee zum Ausklang

Waehrend wir uns die Zeit bis zum Abflug (Morgen frueh um 4:50) in den Cafes Jerevans vertreiben, nutzen wir die Stunden fuer zusammenfassende Gedanken zum Abschluss unserer Reise:

Tourismus

Armenien ist weniger touristisch als wir zu Beginn unserer Reise annahmen. Es gibt zwar relativ viele Pauschalreisende, die als Reisegruppe mit Bus und Guide alle Kloester abklappern, aber Individualreisende oder gar "Backpacker" haben wir nur sehr wenige getroffen. Dem entspricht auch die touristische Infrastruktur: Es gibt in Jerevan und anderen ausgesuchten Orten high-end Hotels fuer die Reisegruppen, in manchen Staedten in der Naehe von besonders bekannten Sehenswuerdigkeiten (= Kloester) sind einige billigere Pensionen oder Privatzimmer (Homestays) vorhanden, im Rest des Landes ist man aber voellig auf heruntergekommene Sowjethotels oder die Gastfreundschaft der Bevoelkerung angewiesen. Ein gutes Tourismusbuero gibt es lediglich in Jerevan, in der Provinz ist es schwierig Informationen zu bekommen, da viele Einheimische wenig ueber Unterkunftsmoeglichkeiten oder oeffentliche Verkehrsverbindungen wissen, oder es sich um habgierige Touristenabzocker handelt, die einem immer zum Teureren raten (z.B. Taxi anstatt Bus)...

Die absolute Mehrheit der Armenier ist aber sehr hilfsbereit und entgegenkommend. Es kommt sehr oft vor, dass sie sich der ihrer Meinung nach voellig hilflosen Reisenden annehmen!

Reisefuehrer

Wir haben uns vorab fuer den Lonely Planet als Reisefuehrer entschieden. Nach drei Wochen bereuen wir unsere Entscheidung mangels Alternative nicht, weisen aber darauf hin, dass viele Informationen entweder falsch, verjaehrt, unzureichend oder schlecht recherchiert sind. Viele Stadtplaene stimmen nicht (und haben auch nie gestimmt), haeufig gibt es billigere und bessere Unterkunftsmoeglichkeiten als im Buch angegeben werden und am aergerlichsten ist, dass der Autor indirekt empfiehlt das ganze Land mit dem Taxi zu bereisen, weil seinen Angaben nach keine oeffentlichen Verkehrsmittel ausserhalb der Hauptverkehrsstrecken gibt (was aber ueberhaupt nicht stimmt). Abfahrtszeiten und -orte der Busse und Marshrutkas muessen von den Reisenden selbst recherchiert werden.

Hayastan today

In vielerlei Hinsicht gleicht Armenien den anderen postsowjetischen Republiken. Dies gilt vor allem fuer die wirtschaftliche Situation. Nach dem voelligen Kollaps der Wirtschaft zwischen 1988 und 1994 (Krieg um Nagorno-Karabach) hat sich die Situation zwar ein wenig erholt, aber im Gegensatz zur Sowjet-Zeit ist der Wohlstand in Armenien aeusserst ungleich verteilt: Einige wenige superreiche Oligarchen besitzen alle noch halbwegs rentablen Sparten oder Unternehmen, die natuerlich vollkommen privatisiert sind (Wasser, Strom, Telekom, Gesundheit...), waehrend die Masse der Bevoelkerung von Subsistenzwirtschaft leben muss (sofern sie die Moeglichkeit dazu hat) und die Arbeitslosenrate enorm hoch ist. In Jerevan selbst gibt es zwar eine kleine Mittelschicht, aber insgesamt gibt es nur arm oder reich.

Was der Tourist in Armenien als omnipraesent erfaehrt ist die armenische Geschichte (von der Christianisierung ueber den Genozid bis zu den aktuellen Konflikten), der armenische Nationalstolz (kein Wunder angesichts der geopolitischen Lage Armeniens zwischen den feindlichen Laendern Tuerkei und Aserbaidschan) und mit diesem feindlichen Umfeld in Zusammenhang stehend auch die Isolation des Landes und der intensive Kontakt zu Russland als einzigem verbliebenen Verbuendeten.

Sisian

Sevan

Sevan

© Michael Kasper, 2008
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Für unvergessliche drei Wochen besuchten wir Armenien, das kleine, aber dafür außergewöhnliche Land im südlichen Kaukasus. Neben der interessanten Mischung aus Orient und Okzident an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien, Russland, Persien und der Türkei stellt diese christliche Enklave inmitten muslimischer Länder besonders aufgrund seiner eigenen Kultur ein faszinierendes Reiseziel dar.
Details:
Aufbruch: 10.07.2007
Dauer: 3 Wochen
Heimkehr: 01.08.2007
Reiseziele: Armenien
Der Autor
 
Michael Kasper berichtet seit 19 Jahren auf umdiewelt.
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