TimeOut in Südamerika

Reisezeit: April - August 2008  |  von Beatrice Feldbauer

Woche 4 3.-9. Mai 2008: Nachbarn

Ich bin im siebenten Himmel. Nein, ich habe mich nicht verliebt, aber ich habe gestern Abend ein Kompliment bekommen, bei dem kaum eine Frau cool bleiben kann. Sergo, der Kellner hat mich auf höchstens 32 geschätzt. Ja, ich weiss, etwas untertreiben gehört zum Spiel, aber soooo viel? Er ist 28 und müsste sich in seinen Jahrgängen eigentlich auskennen. Dass er noch mindestens 20 Jahre draufgeben müsste, konnte er nicht glauben. Ich hab es ihm mit unserer Kälte im Winter erklärt. Wir sind doch das halbe Jahr tiefgekühlt, da hält sich manches länger. Diese Idee stammt übrigens nicht von mir, nein meine Freundin Rebeca aus Guatemala hat das entdeckt, als sie im kalten Winter 2005 bei mir zu Besuch war und regelmässig bei Minusgraden mit Falco auf den Morgenspaziergang ging.

Und ausserdem werde ich heute ausschlafen. Solange bis ich nicht mehr schlafen kann. Und wenn es Nachmittag wird. Hab nichts vor. Kein Programm. Hab alles erledigt. War noch um Mitternacht im Internetcafé und hab den Reisebericht von gestern aufgeladen. Und den GoogleEarth-Link von Giorgio ausprobiert. Genial. Ausserdem, unabhängig von meiner Reise, GoogleEarth gehört einfach auf jeden Computer. Ich habe da schon so viel nachgeschlagen, Gegenden auskundschaftet, Fotos angesehen. Und falls ihr Probleme damit habt, Giorgio hilft. Wahrscheinlich hat er keine Ahnung, worauf er sich da jetzt eingelassen hat, aber meldet euch bei ihm, wenn ihr nicht weiter kommt.

Ob mein Nachbar schräg gegenüber auch noch schläft? Er scheint ein Morgenmuffel zu sein wie ich. Abends ist er selten vor mir zu Hause, aber morgens sehe ich ihn meistens, wenn ich zu meiner Cafeteria gehe. Er schläft im Museum im Hochparterre, während ich im zweiten Stock im Hotel wohne. Und er kann seinen Balkon benutzen, während dieser bei mir wahrscheinlich wegen Einsturzgefahr gesperrt ist. Dabei ist das Museum bestimmt viel älter als das Hotel. Und er hält Ordnung. Sogar für seine Schuhe hat er einen eigenen Platz, während bei mir die Schuhe manchmal im ganzen Zimmer verstreut sind.

Und wie geht es dem anderen Nachbarn? Er schläft ebenerdig, mit viel frischer Luft. Wahrscheinlich arbeitet er nachts, denn am morgen muss er etwas länger schlafen, während seine Kollegen im Wohnzimmer bereits die Pläne des Tages besprechen.

Einmal bin ich fast jemandem durch die Wohnstube gelaufen. Habs im letzten Moment bemerkt und einen Bogen gemacht. Bei Tag fallen sie nicht gross auf. Es gibt ja immer ein paar Leute, die irgendwo auf einer Bank eingeschlafen sind, in den grossen Parks im Gras liegen und die Sonne geniessen. Es sind auch viele Touristen dabei, junge Leute. Aber wenn sie ihre Habe in einem Abfallsack mittragen, wohnen sie wahrscheinlich da draussen.

Einmal habe ich gesehen, wie ein Junge sich neue Abfallsäcke besorgte. Anscheinend hatte eben vorher jemand die Abfallkübel im Park geleert und mit neuen Säcken bestückt. Der Junge kam, schnappte sich den Sack, warf den wenigen Inhalt zurück in den Kübel, faltete den Sack fein säuberlich zusammen und schob ihn unter den Arm während er sich bereits dem nächsten Abfallbehälter zuwandte. Abends stapeln sich am Strassenrad die vollen Abfallsäcke aus den Wohnungen. Oft sehe ich Menschen, die mit einem Handwagen voller Abfallsäcke durch die Strassen ziehen.

Ob sie die Entsorgung der Millionenstadt übernehmen? Und nachts sehe ich immer wieder Leute, die die Säcke systematisch aufreissen und durchsuchen. Mich schüttelt noch jetzt die Vorstellung, wie sie sich da durch leere Yoghurtbecher und Tetrapacks hindurch wühlen.

Tiefer möchte ich bei dieser Beschreibung nicht gehen, aber vielleicht sehen sie sich mal ihren eigenen Abfallsack etwas näher an. Jedenfalls liegt um Mitternacht ziemlich viel Abfall auf den Strassen. Lose, in vollen Säcken oder in grossen Containern. Gerade diese sind immer wieder Ziel von Leuten, die glauben, hier noch irgendetwas Brauchbares zu finden. Und anscheinend geben diese Abfallberge auch ein wenig Schutz vor Wind und Kälte. Ja, der Wind, er verweht alles ohne Unterschied, seien es Plastikfetzen, Papierschnipsel oder die Blätter, die jetzt im Herbst von den hohen Bäumen wehen.

Und doch, die Stadt ist sehr sauber. Und ich habe noch nie eine Strassenputzmaschine gesehen. Ich erinnere mich an Spanien, da fuhr diese um Mitternacht durch die Städte. Hier sind überall Menschen mit Besen unterwegs. Sie tragen ein Überkleid mit offizieller Bezeichnung, haben einen Besen und eine Kehrschaufel mit langem Stiel dabei und einen kleinen Behälter, in den sie den zusammengekehrten Abfall werfen. Man trifft sie tagsüber mitten in der Fussgängerzone. Scheinbar ganz ohne Ziel und Konzept. Oder nachts in Zweiergruppen. Sie putzen zusammen, was beim Abtransport der zerrissenen Säcke liegen geblieben ist. Und irgendwie funktioniert es.

Und heute habe ich sogar die offizielle Müllabfuhr gesehen. Sie raste durch die Einbahnstrasse und die beiden Mitfahrer, die hinten die Säcke hineinwarfen, mussten immer wieder rennen, damit sie nicht abgehängt wurden.

Ich bin wieder nach San Telmo gegangen heute. Kann ja nicht sein, dass ich mich wegen einer nicht mehr vorhandenen Videokamera von diesem lebhaften Platz vertreiben lasse.

"Wie geht es Ihnen heute?" begrüsst mich die Serviertochter. Das ist mehr als das übliche "Wie geht's" mit dem man überall begrüsst wird. Hat sie mich wiedererkannt? "Ja selbstverständlich, sie sind da drüben gesessen." Ich kann es kaum glauben. Es braucht gar nicht viel und man fühlt sich schon ein wenig dazugehörend. Sie will wissen, ob ich allein unterwegs sei und wie alle, die das bisher wissen wollten, und das waren nicht nur Männer (!) ist sie sehr überrascht. Sie erzählt von sich. Mit ihrer Arbeit als Serviertochter verdient sie sich das Studium als Kindergärtnerin. Es fehlen noch 2 Jahre. Sie hat eine 8-jährige Tochter. Das kann nun ich wiederum nicht glauben. "Doch doch, lacht sie, ich bin 26". "Da haben sie aber sehr früh angefangen". " Ja, das stimmt schon, das ging ganz schnell".

Und wer schaut zur Tochter, wenn sie arbeitet oder studiert? Ihre Mutter wohnt im gleichen Haus und manchmal hütet der Mann die Kleine. "Es geht alles, wenn man nur will", meint sie, bevor sie sich neuen Gästen zuwendet.

Es ist kühl geworden und es wird früh dunkel. Ich sitze im Cafe del arbol. An den Wänden hängt eine alte Kühlerhaube von einem Rennwagen und alte Fiat-Radkappen. Ausserdem ein paar uralte Staubsauger und ein Telefon mit Hörer. Von der Decke hängen riesige verstaubte Kronleuchter und rot gepolsterte Stühle, die bedeutend bequemer aussehen, als der, auf dem ich gerade sitze. Die kleine Bühne und die modernen Scheinwerfer weisen darauf hin, dass hier manchmal etwas los ist. "Ja", sagt die Serviertochter, "hier ist jeden Abend um 22.00 Uhr Showtime". Werd ich mir merken.

Ja, Sergo hat mich für heute Abend eingeladen. Er fand Alters-unterschiede seien doch überhaupt nicht wichtig.

Und ja, ich hab mir das einen Moment lang überlegt. Wollte wissen, was er sich denn vorstelle, er müsse doch bestimmt wieder arbeiten. "Bis Mitternacht und dann könnten wir mit dem Motorrad (diese Verlockung war wirklich gross) an die Costa Negra fahren. Da würden wir ein wenig am Wasser spazieren gehen. Das ist sehr schön und wenn es keine Wolken hat, sieht man auch den Mond und die Sterne". "Gibt es denn da auch Restaurants die so spät noch offen haben?", will ich wissen. "Ja schon, aber die sind nur für die Leute mit viel Geld. Mir gefällt es viel besser, zu plaudern, eine Zigarette zu rauchen und ein paar Schritte zu gehen."

Ich habe abgelehnt. Waren einfach doch 20 Jahre zu viel. Werde ins Kino gehen heute Abend. Da enden die Liebesgeschichten immer im 7. Himmel und ich kann ein paar echte Tränen vergiessen...

Ach ja und bevor ich es vergesse, am Montag habe ich die erste Tanzstunde. - T A N G O -

Heute habe ich einen Verwandten von Falco getroffen

Heute habe ich einen Verwandten von Falco getroffen

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Die Reise
 
Worum geht's?:
Nicht Nichtstun steht im Mittelpunkt. Sondern etwas tun, wofür im normalen Alltag zu wenig Zeit bleibt. Meine beiden Leidenschaften Reisen und Schreiben möchte ich miteinander verbinden. Und wenn mich dabei jemand begleitet, umso schöner. Es sind vor allem Geschichten, die ich erzähle und erst in zweiter Linie Beschreibungen von Orten und Gebäuden. Ich möchte versuchen, Stimmungen herüberzubringen. Feelings, sentimientos. Wenn mir das manchmal gelingt, ist mein Ziel erreicht.
Details:
Aufbruch: 12.04.2008
Dauer: 4 Monate
Heimkehr: 03.08.2008
Reiseziele: Uruguay
Brasilien
Paraguay
Argentinien
Chile
Bolivien
Peru
Guatemala
Der Autor
 
Beatrice Feldbauer berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
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