Einmal ans Ende der Welt und zurück

Reisezeit: Oktober 2015 - Februar 2016  |  von Lisa Herrmann

Vorsicht! Ein bisschen Melancholie und Psychokram

Oh du schönes Patagonien

Oh du schönes Patagonien

Kein Foto und keine Worte dieser Welt...

...können das auch nur ansatzweise beschreiben, was man in Patagonien mit eigenen Augen sehen kann. Unendliche Weite, karge Steppe, grüne Wälder, vom Wind geformte pyramidenförmige Berge, schneebedeckte Gipfel, türkisfarbene Gletscherseen, das Fitz Roy Massiv, rauschende Flüsse, kleine Gebirgsbäche, Gletscher...und das alles in einer 360 Grad Drehung um die eigene Achse. Ich sitze hier und nach wenigen Minuten gleiten tatsächlich majestätisch und wunderschön zwei Kondore in nächster Nähe an mir vorbei. Die Sonne scheint, es sind angenehme 25 Grad, eine leichte Briese weht mir ins Gesicht. Ich erlebe das und kann nicht fassen, welche wunderschönen Plätze diese Welt für uns bereit hält. Und ich kann mal wieder mein eigenes Glück nicht glauben, die Möglichkeit zu haben, dies zu erleben. Ich bin dankbar und ein bisschen stolz, sie tatsächlich genutzt zu haben. Und dankbar für meine Mama, die seit mehr als 20 Jahren mit unerschöpflicher Ausdauer und Begeisterung daran arbeitet, mich für die Welt zu öffnen und sicher einen nicht unerheblichen Teil dazu beigetragen hat, dass ich- schon immer hin und hergerissen zwischen Abenteuerlust und dem Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit- letztlich den Mut zu diesem Abenteuer hatte. In Momenten wie diesem werde ich entschädigt für alle Anstrengungen und so manche Verzweiflungsmomente, die das alleine reisen mit sehr begrenztem Budget in einem von Inflation und zahlungsfähigen westlichen Touristen geplagten Land mit sich bringt.

Auf ins nächste Abenteuer- eine Fahrt über den Viedma Lake hin zum Gletscher zum Iceclimbing

Auf ins nächste Abenteuer- eine Fahrt über den Viedma Lake hin zum Gletscher zum Iceclimbing

Schon die Fahrt selbst bot atemberaubende Ausblicke

Schon die Fahrt selbst bot atemberaubende Ausblicke

Im Wasser schwimmende Eisberge kündigten an, dass wir uns dem Gletscher näherten

Im Wasser schwimmende Eisberge kündigten an, dass wir uns dem Gletscher näherten

Und da ist er- der Viedma Gletscher, einer der größten Gletscher in Patagonien

Und da ist er- der Viedma Gletscher, einer der größten Gletscher in Patagonien

Wir machten uns auf, den Gletscher zu besteigen

Wir machten uns auf, den Gletscher zu besteigen

Doch das eigentliche Ziele: Die Gletscherspalten selbst bezwingen! 
Am Überungshang konnte ich noch entspannt in die Kamera lächeln

Doch das eigentliche Ziele: Die Gletscherspalten selbst bezwingen!
Am Überungshang konnte ich noch entspannt in die Kamera lächeln

Und dann wurde es ernst

Und dann wurde es ernst

In diese Gletscherspalte wurden wir abgeseilt und durften uns mit Steigeisen und Eispickeln bewaffnet unseren Weg heraus bahnen

In diese Gletscherspalte wurden wir abgeseilt und durften uns mit Steigeisen und Eispickeln bewaffnet unseren Weg heraus bahnen

Belohnt wurden wir am Ende mit einem gletschereisgekühlten Schnapps

Belohnt wurden wir am Ende mit einem gletschereisgekühlten Schnapps

Und belohnten uns selbst am Abend im Pub mit einem leckeren Glas lokal gebrauten Biers

Und belohnten uns selbst am Abend im Pub mit einem leckeren Glas lokal gebrauten Biers

Und es wird und wird nicht langweilig

Nicht jeder Tag kann so aufregend und adrenalingeladen sein wie beim Klettern in den Gletscherspalten. Was macht man also in schönster Natur? Wandern! Nicht umsonst nennt sich El Chalten die "Wandermetropole" Argentiniens. Sie hat sich diesen Titel wahrlich verdient. Viele Stunden und ganze Tage habe ich in letzter Zeit mit wandern verbracht. Und es wird einfach nicht langweilig. Ich kann nicht aufhören, zu schauen und nachzudenken. Manchmal bin ich bereits mehrere Stunden unterwegs, denke über Gott und die Welt nach, ohne es bewusst zu realisieren. Dann kommt der Moment des "Erwachens"- 'Du wolltest doch eigentlich diese wunderschöne Natur genießen, wo warst du die letzten Stunden?' Es gibt immer etwas zu sehen, es gibt immer etwas zu denken. Nicht, dass am Ende tatsächlich eine bahnbrechende Erkenntnis stände. Muss es ja aber auch nicht, und das ist das Schöne. Vielleicht ist das auch der Nachholbedarf der letzten Zeit in Deutschland, in der kaum Zeit zum 'Denken', sondern nur zum 'Machen' war und oft eine Aufgabe die nächste Entscheidung jagte. So aufregend die Herausforderungen des Reisens manchmal erscheinen, so vollkommen anders sind sie, als die in der Heimat und so viel Abstand verschaffen sie mir zu letzteren. Wie einem Stress, den Stress nehmen kann, quasi.

Auf dem Weg zur Laguna Capri

Auf dem Weg zur Laguna Capri

Laguna Capri mit Blick auf das Fitz Roy Massiv. Ein schönes Plätzchen für ein leckeres Avocado Sandwich und einen kleinen nap

Laguna Capri mit Blick auf das Fitz Roy Massiv. Ein schönes Plätzchen für ein leckeres Avocado Sandwich und einen kleinen nap

Auf dem Weg zu Cerro Torre, eine weitere 20km Wanderungen mit einigen Höhenmetern auf meiner Liste

Auf dem Weg zu Cerro Torre, eine weitere 20km Wanderungen mit einigen Höhenmetern auf meiner Liste

Laguna Torre am Fuß des Cerro Torre

Laguna Torre am Fuß des Cerro Torre

Zu Gast bei Andreas Madsons Urgroßenkel

1901 verbrachte der Däne Andreas Madson seinen ersten Winter im Gebiet des heutigen El Chaltens in einer notdürftig hergerichteten Unterkunft in klirrender Kälte und kompletter Einsamkeit. Einige Jahre später siedelte er sich zusammen mit seiner Frau Stefany und dem damals bereits Erstgeborenen hier an. Er gründete die erste Estancia (Farm) in El Chalten und brachte damit Leben in diese wunderschöne Einöde. Immer mehr Estancias folgten, bis vor etwas mehr als 30 Jahren daraus das 1200-Seelen-Dorf entstand. Die Arbeit brachte ihn hierher, die Liebe zu diesem wunderschönen Fleckchen Erde ließ ihn für immer bleiben. Er war Teil des Teams, das mit dem Vermessen und Kartografieren Patagoniens betraut wurde- wenn er dabei auch eher eine untergeordnete Rolle einnahm. Später waren es seine Estancia und die Arbeit im Nationalpark, die seine Existenz sicherten. Nachdem es die letzte Generation seiner Nachfahren eher in die Stadt zog, ist es sein Urgroßenkel, der sich dazu entschieden hat, das Anwesen wieder originalgetreu herzurichten und absolut spartanisch und verbunden mit der Natur auf der Estancia 2km vom Dorfkern von El Chalten zu leben. "I chose to live on the boarder". Für einen kleinen Nebenverdienst führt Roy wissbegierige Touristen wie mich zu seinem Anwesen, erzählt über die Geschichte seiner Familie und des Dorfes, lässt uns in alten Tagebüchern stöbern und serviert dabei Tee und Plätzchen. So habe ich einen super schönen Nachmittag verbracht- doch dabei sollte es nicht bleiben. Nach dem offiziellen Ende der Tour lud mich Roy auf ein Bier ein, machte mich mit all seinen einheimischen Freunden bekannt und erzählte mir von seinem Leben, seinem Kampf mit dem Staat über die Grundstücksangelegenheiten und wie er dazu kam, diesen Weg einzuschlagen. Danach durfte ich einen Hauch seines Alltags selbst erleben, und wir haben mit Wasser aus der nahe gelegen Quelle bei Kerzenschein mit Ausblick auf das Fitzroy Massiv gekocht und gegessen. Frischen Salat und argentinisches Rindersteak. Ein Traum und mein bestes Essen in Argentinien. Mit einem unbeschreiblichen Blick auf den wolkenlosen Sternenhimmel ging ein unvergesslicher Abend zu Ende.

Andreas Madson hinterließ seiner geliebten Ehefrau ein Gedicht auf ihrem Grabstein, dass mich in der Vorstellung, was diese Familie geleistet und welche Hürden sie überwunden hat, berührte.

"- Pinoeer woman -
I greet you pioneer woman who followed your man to the most introspective place in the world. Through adversities, sickness and death. You stayed by your man. I love you for your loyalty.
Every time a hope was broken you knew to recover. We salut you around the world.
Your man and your kids."

Das Anwesen von Roy

Das Anwesen von Roy

Roy und ich

Roy und ich

Blick auf das heutige El Chalten

Blick auf das heutige El Chalten

Verrückt

Ich habe hier noch niemanden getroffen, der einfach "nur" zwei Wochen gewöhnlichen Urlaub macht. ALLE sind auf Reisen für mehrere Monate, teils Jahre...durch Patagonien...Südamerika...um die ganze Welt. Zu Fuß..mit dem Fahrrad...mit dem Motorrad, trampend oder (langweilig wie ich) mit Bus und Flugzeug. Pärchen, Alleinreisende, Gruppen von Freunden. Menschen jeden Alters... Sie alle sind fasziniert von der Idee, die Welt zu erkunden. Viele Menschen erzählen mir, wie viel Ihnen das Reisen bedeutet, welches Glück sie dadruch empfinden und dass sie es unter keinen Umständen missen wollen, dieses Abenteuer in vollen Zügen auszuleben, bevor sie in ein gesetteltes Leben übergehen oder es gar gegen ein solches eintauschen. Gestern beim Iceclimbing traf ich eine quirlige lebensfrohe 50-jährige Deutsche, die seit 27 Jahren in England lebt, keine Kinder hat und einem Leben nachgeht, das vom "Standard-Lebensentwurf" nicht weiter entfernt sein könnte. Ich habe ihre Leichtigkeit, ihre Neugier, ihre nach außen getragene Freude an den all den Dingen, die sie sieht und erlebt und ihren Mut (sie war eine der wenigen unserer Gruppe, die sich getraut hat, die letzte und schwierigste Strecke in eine tiefe Schlucht zu klettern) mit Faszination beobachtet. Sie erschien mir glücklich. All dies lässt mich runterkommen von meinen unumstößlichen und absolutistischen Vorstellungen und vor allem Erwartungen, dass mein Leben unbedingt dem Muster von glücklicher Ehe bis ans Lebensende, Kindern, einem festen Wohnsitz und einem erfüllenden Job folgen muss. Es gibt mir ein Gefühl der Erleichterung und Befreiung, dass es viele andere Lebensentwürfe gibt, die Menschen glücklich zu machen scheinen. Wenngleich ich mir momentan nichts mehr wünsche und mich immer mehr bereit dafür fühle, dem "gewöhnlichen" Lebensentwurf zu folgen. Let's See what live brings. Veremos!

Die quirlige 50-jährige Carolin und ich

Die quirlige 50-jährige Carolin und ich

Meine Vorstellung vom Leben, wenn ich Rentner bin oder im Lotto gewinne (je nachdem, was zuerst eintritt )

Meine Vorstellung vom Leben, wenn ich Rentner bin oder im Lotto gewinne (je nachdem, was zuerst eintritt )

© Lisa Herrmann, 2016
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Als Volunteer in Lima und als Weltenbummler quer durch Südamerika bis nach Feuerland
Details:
Aufbruch: 21.10.2015
Dauer: 4 Monate
Heimkehr: 23.02.2016
Reiseziele: Peru
Chile
Argentinien
Frankreich
Der Autor
 
Lisa Herrmann berichtet seit 8 Jahren auf umdiewelt.
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