Corona-Spaziergänge vor Ort

Reisezeit: Mai 2020 - Juni 2021  |  von Herbert S.

Tuchindustrie am Wildbach

Der Wildbach und die Tuchindustrie - Mühlen am Wildbach

Der Wildbach entspringt am Fuße des Schneeberges an den Sieben Quellen in Seffent. (s. Kap. Seffent II)
Er streift den Ort und verläuft dann parallel zum Schurzelterweg, überquert diesen, läuft dann aber wieder parallel bis zur Roermonderstraße. Dort geht er unter dem Bahndamm durch und schliesslich fließt er in das Soerstal.
Bei Schloss Rahe überquert er die Schloss Rahe Straße und dann kreuzt er den Strüverweg, kurz danach den Soerserweg und mündet an der Kläranlage in die Wurm.
Im Laufe der Jahrhunderte entstanden im Bereich der Soers fünf Mühlenanlagen, wovon vier durch den Wildbach, die Roskamp- oder Hochbrücker Mühlen aber durch die Wurm angetrieben wurden. Die letzteren, westlich der Krefelder Straße in der Nähe der Autobahnauffahrt gelegen, gehörten in reichsstädtischer Zeit ebenfalls zum Soerser Quartier, werden jedoch hier nicht weiter beschrieben.

an der Quelle

an der Quelle

Entlang des Wildbachs befanden sich zahlreiche Mühlen, die im Laufe der Zeit unterschiedliche Nutzung erfuhren. Eine (Strecken-)Wanderung führt von Seffent bis nahezu zur Mündung des Wildbachs in die Wurm. (Texte stammen auszugweise aus einem Projekt des KKG-Gymnasiums mit dem Titel 'Spinner und Färber am Wildbach' entnommen - hier wieder kursiv gedruckt))

Von der Schurzelter Straße gut einsehbar ist die Obere Schurzelter Mühle, auch Ölmühle genannt, Das unter Denkmalschutz stehende Gebäudeensemble war 1681 eine ‚Kupfermühle' - hier wurden Messingrohlingen mit Wasserkraft bearbeitet. 1711 Papiermühle genutzt, war sie später auch als Ölmühle zum Gewinnen pflanzlicher Ölen. Um 1759 war sie Nadelschleifmühle, um 1810 Farbholzmahlmühle.
1842 erfolgte dann der Umbau zur Spinnerei und im Zuge dieser Umnutzung die Einrichtung einer Dampfmaschine. 1891 zog Eduard Benjamin Fußgänger, Tuchmachersohn und gelernter Färber, in die Mühle ein, um die Anlagen als Wollwäscherei, Tuchfärberei und Spüle zu nutzen. Zunächst färbte man nur Tuche, später auch Garne und Wolle.

Der Blick Richtung Laurensberg fällt auf Gut Schurzelt, in dessen Nähe sich die Untere Schurzelter Mühle (Forellenweg) befand. Diese Mühle wird bereits im 15. Jh. erwähnt und diente im 19. Jh. als Nadelschleif und Poliermühle. Ab 1871 ist eine textile Nutzung als Wollwäsche und Spinnerei nachweisbar. 1895 richtete Victor Bühl eine Tuchfärberei ein, die seine drei Söhne bis 1962 betrieben. Von der Mühle blieb nichts - aus dem Gut Alt Schurzelt wurde eine Mehrgeneration- Wohnanlage

Gut Alt Schurzelt

Gut Alt Schurzelt

Über die Brunnenstraße und Ackerstraße erreichen wir die Rathausstraße, die wir ins Zentrum des Stadtteils hinab gehen. Ca. 150 Meter hinter dem Bahndamm liegen auf der linken Straßenseite die vorbildhaft restaurierten Gebäude der ehem. ,Aachener Chemischen Werke für Textil Industrie', in der früher spezielle Seifen gerade auch für die Textilindustrie hergestellt wurden.

Nicht weit entfernt, in der Mittelstraße, befand sich auch die Maschinenfabrik Gebr. Hautermanns, die bis 1970 u.a. Anlagen für Textilfärbereien herstellte. Auf der rechten Seite der Straße gelangt man in ein Neubaugebiet, an dessen Südrand der unter Denkmalschutz stehende Rest der Wildbacher Mühle zu sehen ist.

Das 2 geschossige Gebäude wurde erst 1754 erbaut, wogegen die Mühle bereits 1420 und 1484 als Wilden ' bzw. Wildermühle' erwähnt wird. Im 16. Jahrhundert fungierte die Anlage als Kupfermühle. Nach dem damaligen Eigentümer Ernken Kaltrebatt hieß die Mühle auch manchmal Kaltrebattmühle. Spätestens ab 1753 wurde die Wildbacher Mühle als Walkmühle zum Walken gewebter Tuche genutzt. Von 1822 bis zum Ende des 19. Jhs. diente die Mühle als Tuchspülmühle. Seit etwa 1906/07 siedelte sich die in Mönchengladbach ansässige Tuchfabrik Wienands, Casteel & Giesen auf dem Gelände neben der Mühle an und errichtete dort in den folgenden Jahren größere Fabrikbauten, in denen eine Streichgarnspinnerei und Färberei (für Flocke und Garn) eingerichtet wurde. 1969 stellte der Betrieb die Produktion ein. Die Betriebsgebäude wurden bis auf die alte Mühle gänzlich abgerissen.[/k]

Über die Roermonder Straße und Schloß Rahe Straße gelangen wir zur Soers, deren ländliche Struktur bereits hinter dem alten Bahndamm erfahrbar wird.

Vorbei am Gelände von Schloß Rahe kommt man zu den Resten der früheren Rahe-Mühle, einer bis in die 90er Jahre produzierenden Getreide und Futtermühle. Im 17. Jahrhundert war sie Kupfermühle, im frühen 19. Jh. auch Nadelpolier und Schleifmühle.

Nicht weit entfernt, in der Schloß Rahe Straße 23, befand sich bis 1969 die Streichgarnspinnerei Gilljam, die das Bachwasser zwar nicht benötigte, die aber das feuchte Klima am Wildbach für den Spinnprozess nutzte. Der 2004 noch vorhandene Shedbau stammt aus dem Jahre 1891.

die langgestreckte Fabrikhalle existiert nicht mehr

die langgestreckte Fabrikhalle existiert nicht mehr

Hier beginnt auch der schönere Teil des Wegs: Entlang des Wildbachs, vorbei an einem Regenrückhaltebecken, erreichen wir die Schleifmühle, häufig auch als 'Speckheuer Follmühle' bezeichnet. Im 16. Jh. war sie wahrscheinlich eine Kupfermühle, im frühen 19. Jh. Nadelschleif und Poliermühle. Ab ca. 1830 nutzte Johann Wilhelm Wüller sie als Walkmühle, Wollspüle und Färberei. 1857 wurde eine Dampfmaschine installiert und um 1868 richteten die Söhne Johann Wilhelm, Aloys und Hubert Wüller eine Streichgarnspinnerei ein, die bis 1959 bestand. Durch zahlreiche An und Umbauten ist die frühere industrielle Nutzung der Anlagen nur noch schwer erkennbar. Im Umfeld der Mühle befinden sich aber Mühlengräben und ein großer Teich, mit dem das knappe Wasser aufgestaut werden konnte. Und wer die Fassaden an der Rütscherstraße genau betrachtet, erkennt Reste eines alten, ehemals 3 geschossigen Fabrikbaus.

An einem alten Stauwehr vorbei, mit dem die Wasserzufuhr der nächsten Mühle geregelt werden konnte, gelangen wir zur Stockheider Mühle. Im Kern des Gebäudekomplexes sind noch geringe Reste der früheren Mühle erhalten. Schon im 13. und 14. Jahrhundert erwähnt, diente sie im 17. Jh. als Kupfermühle, ab 1788 als Walkmühle. 1891 baute sie der aus Brünn stammende Theodor Rzehak als Färberei aus, 1951 erweiterte man sie zu einem Textilausrüstungsbetrieb, der ähnlich wie Fußgänger in der Lage war, Tuche auf verschiedenste Weise zu veredlen. 1969 übernahm die Tuchfabrik Becker den Betrieb und nutzte die Anlagen bis zum Bau der eigenen Färberei in Brand (1983).
Nachdem diese letzte Aachener Tuchfabrik ihre Insolvenz anmelden mußt, gelangte der Komplex in private Hände und wird zu einem Kulturzentrum mit musealem Depot für die Tuchindustrie Aachens, zwei kleinen Theatern und Künstlerateliers umgestaltet.

Wie notwendig ein Rückhaltebecken für den Woldbach ist, erkennt man an der gegenüber dem Tuchwerk liegenden Wiese am 20.06.2008

im Hintergrund der Lousberg

im Hintergrund der Lousberg

Soerser Wiesen - vom CHIO einmal jährlich als Geländeparcours genutzt

Weiter am Wildbach entlang gelangt man zu den beiden Teichen der bereits 1242 erwähnten Soerser Mühle, in deren Umfeld bis heute Gewerbe angesiedelt ist. Im 17. Jh. nutzte man sie als Kupfermühle, um 1700 als Walkmühle und 1825 gleichzeitig als Nadelschleif und Poliermühle. 1896 verlegte die Färberei Rouette (gegr. 1877) den Firmensitz von Aachen Forst in die Gebäude der inzwischen bereits erweiterten Mühle. Auch Rouette baute die Anlagen zu einer modernen Tuchausrüstung aus. Trotz Modernisierung musste der Betrieb 1980 aufgegeben werden. Die Tuchfabrik Leo Führen, mit einem Stammwerk in der Vaalser Straße, übernahm die Färberei, führte den Betrieb jedoch nur bis 1988 weiter. Die gut erhaltene, unter Denkmalschutz stehende Backsteinfassade aus der Mitte des 19. Jhs. stammt von der Spinnerei Gilljam und war von 1904 bis 1988 Betriebsstätte der 1876 gegründeten Kratzentuchfabrik Sartorius. Kratzentücher, ein Vorprodukt der in Aachen einstmals bedeutsamen Kratzenindustrie, nutzte man zur Herstellung der Kratzenbändern, die, mit kleinen Metallhäkchen versehen, zum Auskämmen von Wolle verwendet werden konnten. Auch die Fassaden anderer Gebäudeteile lassen auf die frühere industrielle Nutzung schließen. Der Wildbach fließt in nicht großer Entfernung in die Wurm.

Ein Rückblick

Bei der Nutzung des nur ca. 5 Kilometer langen Bachlaufs durch zeitweilig sechs Textilfärbereien waren Schwierigkeiten mit der Wasserqualität unvermeidlich. Das noch mit Farbbrühe und Chemikalien verunreinigte Abwasser wurde bis zum Anschluss an das städtische Kanalisationsnetz, bzw. bis zur Installierung moderner Filteranlagen ungereinigt in den Wildbach geleitet. Das hatte zeitweilig zur Folge, dass die Färbereien am unteren Bachlauf teilweise mit bereits farbigem Wasser arbeiten mussten. Daran konnte auch das unter Mitwirkung der Gemeinde Laurensberg (als Aufsichtsorgan) 1950 geschlossene Abkommen nur geringfügig etwas ändern. Nach diesem Abkommen wurde die Einleitung der Abwässer zeitlich geregelt. So sollten die Färbereien Fußgänger und Bühl zwischen 20 Uhr abends und 6 Uhr morgens auf Einleitungen verzichten, um den anderen Nutzern ein Auffüllen der Mühlenteiche zu ermöglichen. Da der Wasserverbrauch der Färbereien zu jener Zeit aber sehr hoch war, reichte das nachts verfügbare, saubere Wasser nicht immer aus, um alle Färbereien ausreichend zu versorgen, so dass man dann zusätzlich verschmutztes Wasser verwenden musste. Auch die von den Wasserbehörden vorgeschriebenen Absetzbecken brachten keine durchgreifenden Verbesserungen.

Theo Rzehak schreibt in seinen Lebenserinnerungen: „In Abständen von mehreren Jahren, meistens veranlasst durch Personalwechsel bei der Behörde, erschien ein Wasserbeamter in der Soers, um die Effektivität der Kläranlagen zu überprüfen. In den meisten Fällen schöpfte dann mein Großvater ein Glas voll blaugetönten Abwassers aus dem Wildbach und trank es vor den Augen des Prüfers aus. Nicht meinem Großvater, sondern dem Prüfer drehte sich der Magen um.“

Die Wasserqualität des Wildbaches ist inzwischen wieder recht gut, da die in früheren Jahren erfolgten Schmutzwassereinträge von den Färbereien ausbleiben. Nun lädt der Bach zu einem erholsamen Spaziergang ein, bei dem die Erinnerung weit zurück in die Vergangenheit streifen kann.

Abseits dieses Weges sollte unter dem Thema Tuchindustrie noch die Textilfabrik Delius genannt werden.

Textilfabrik Delius - Kloster Raphael

Die Textilfabrik van Gülpen am Strüverweg war 1867 bis 1870 erbaut worden. Vom Besitzer Delius erwarb die alteingesessene Aachener Textilfamilie van Gülpen das Anwesen.
1901 gaben jedoch die van Gülpens die Fabrik auf: Die Wasserzuläufe vom Lous-berg her flössen nicht mehr in ausreichender Menge. Das Gebäude stand also gerade zwei Jahre zum Verkauf an, als der Landeshauptmann der Rheinprovinz die Ordensgemeinschaft der „Töchter vom Heiligen Kreuz" darum bat, in Aachen ein Fürsorgeheim für Mädchen zu gründen. Zu jener Zeit durfte jedoch kein Neubau errichtet werden: Gelder gab es nur für die Renovierung bereits bestehender Gebäude. So kamen die Töchter vom Heiligen Kreuz 1903 in die damals noch sehr ruhige und (außer den verstreut liegenden Bauernhöfen) unbebaute Soers.
Heute wird hier ein Seniorenheim betrieben und nach erheblichen Umbaumaßnahmen sind auf dem Gelände neue Wohneinheiten entstanden.

© Herbert S., 2020
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Als Vielreisende sitzen wir 'fest'! Für die Monate März und April sind die Menschen wegen des Kontaktverbots darauf angewiesen, sich zu Zweit (oder mit der Familie) zu bewegen. Wir nutzen die Zeit - wie so oft fährt man in die Ferne und schaut sich das Nahe kaum an! Jetzt haben wir Zeit. Wir beginnen mit der unmittelbaren Umgebung unseres Hauses, ziehen allmählich größer Kreise und schließen schließlich meinen ehemaligen Dienstort mit ein.
Details:
Aufbruch: Mai 2020
Dauer: 13 Monate
Heimkehr: Juni 2021
Reiseziele: Deutschland
Der Autor
 
Herbert S. berichtet seit 18 Jahren auf umdiewelt.
Reiseberichte von Herbert sind von der umdiewelt-Redaktion als besonders lesenswert ausgezeichnet worden!
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