Mit dem Motorrad über den nahen Osten in den hohen Norden

Reisezeit: Juni / Juli 2012  |  von Dirk Wöhrmann

Die schönste Aussicht der Welt

Ich bin recht früh aufgestanden, da heute viel auf dem Programm steht.
215 km sind es bis zum Preikestolen, die Unterkunftssuche vor Ort kann auch etwas dauern und als Highlight des Tages stehen dann zwei Stunden Aufstieg zum schönsten Aussichtpunkt der Welt an, zumindest behauptet dies der Reiseführer Lonely Planet.
An anderer Stelle kann man im Internet lesen, dass der Preikestolen der krasseste Felsen Europas sein soll, ich bin ja mal gespannt, ob der Buckel bei so vielen Superlativen auch hält, was er verspricht.
Und hoffentlich hat Thor heute gute Laune...
Frühstücken muss ich heute leider alleine, aber zur Verabschiedung ist die Family (fast) komplett angetreten, zumindest alle, die über 21 Jahre alt sind .

Der Himmel hat zwar mal wieder die Einheitsfarbe grau, da der Wetterbericht aber gar nicht so schlecht aussah, verzichte ich fürs Erste mal auf die Regenklamotten.
Ich komme ganze 500 m weit, da erwischt mich noch in Hovden der erste Regentropfen. Ich schaue mir den Himmel in der Richtung an, in die ich fahren werde und dort ist er dunkelgrau.
Ach.. was soll´s...auf einen Tag mehr oder weniger in den schwarzen Gummiklamotten kommt es jetzt auch nicht an.
Die Entscheidung ist goldrichtig, denn die Wasserkühlung von oben lässt nicht lange auf sich warten.
Die Interpretation eines norwegischen Wetterberichtes muss ich mir von Jan noch einmal genauer erklären lassen ...
Für die Strasse und die Landschaft gibt es aber mal wieder die volle Punktzahl...

Gegen 15.30 komme ich an meinem Tagesziel an. Es ist zwar noch bewölkt, aber es hat kurz vorher zumindest aufgehört zu regnen und stellenweise bilde ich mir sogar ein, zwischen den Wolken auch ein Stückchen blauen Himmel zu sehen.
Der Anfang vom Wanderweg zum Preikestolen liegt in einer Sackgasse, an deren Ende sich ein neuerbautes Hostel befindet, welches wohl auch einen Designpreis gewonnen hat.
Jan hatte gestern nach Preisen für eine Übernachtung geschaut und in einem Mehrbettzimmer soll die Übernachtung 40 € incl. Frühstück kosten. Dafür, dass in dem Preis auch Bettwäsche und Handtuch mit drin sein soll, ist es in der Lage schon fast ein Schnäppchen für Norwegen.
Ich parke mein Bike auf einem eigentlich für Motorräder kostenpflichtigen Parkplatz, gehe zum Hostel und stelle mich in die Schlange vor der Rezeption.
Je näher ich komme und je mehr Gespräche ich mitbekomme, desto mehr beschleicht mich das Gefühl, dass die Übernachtung nur in dem alten Hostel unterhalb des neu erbauten Hostels in einem Mehrbettzimmer 40 € kostet. Ohne Bettwäsche und Handtuch natürlich.
Ein Blick auf die Preisliste bestätigt meine Vermutung. Für ein Bett in dem neuen Hostel wären 70 € fällig!!!
Ich warte erst gar nicht, bis ich an der Reihe bin und beschliesse, mein Zelt trotz des Wetters auf dem 4 km entfernten Campingplatz aufzubauen.
Der Campingplatz nimmt natürlich auch den Preikestolen- Zuschlag, aber zumindest sind die Duschen im Preis mit inbegriffen.
Jetzt noch schnell umziehem und die Motorradstiefel gegen Trekkingschuhe tauschen und schon geht es die 4 km zurück zum Einstieg.
Der 2- stündige Aufstieg hat eine Höhendifferenz von ca. 350 Höhenmeter und eine Länge von rund vier Kilometern.

Hmm, das sollte doch ein Klacks sein, wieso braucht man dafür zwei Stunden?
Jan meinte auch, der Weg ist ein Spaziergang und sein Sohn Lars ist den Weg in 50 Minuten hochgejoggt.
Die Hinweisschilder am Startpunkt sind jedoch eindeutig: Keine Kranken, keine Herzschwachen und auch keine Flipflops (!!!) sollen den Weg nach oben antreten.
Na ja, mal sehen, wie es wird.
Vorher kaufe ich mir jedoch noch zwei Snickers Marschverpflegung, schliesslich habe ich nach dem Frühstück keine feste Nahrung mehr zu mir genommen.
Nach der erfolgreichen Besteigung werde ich mir auf jeden Fall aber ein lecker Abendessen gönnen.
Es ist bereits 17 Uhr, als ich losgehe...
Die ersten 100 m verlaufen recht harmlos auf einem breiten Forstweg, doch dann wird der Weg schon schmaler und geht steil bergan.
6 Wochen habe ich jetzt mehr oder weniger nur auf dem Möppi gehockt, mal sehen, welche Auswirkungen dies auf meine Kondition hat.
Es hat Auswirkungen und ich fange schnell an zu schnaufen und zu schwitzen. Der Weg ist mittlerweile steinig geworden. Stellenweise läuft ein Bach über die Steine, stellenweise sind die Steine auch glitschig vom Regen zuvor. Irgendwie hat man das Gefühl, dass man sich über den Geröllhaufen den Weg selber suchen muss. In den Alpen eigentlich nicht vorstellbar, dass dies ein Weg sein soll, auf dem übers Jahr gesehen hunderttausende von Touristen zum Plateau aufsteigen.
Ich komme aus dem Staunen auch nicht mehr heraus, als ich mir das Schuhwerk der Leute anschaue, die mir entgegenkommen. Flipflops, Gummistiefel, Sandalen, Sneakers...alles ist vertreten.
Eigentlich müsste der Helikopter hier alle 15 Minuten einen von diesen Analphabeten mit verstauchtem Knöchel oder Schlimmeren aus dem Pfad bergen...

Der Aufstieg ist doch mühsamer als erwartet und ich muss aufpassen, dass ich auf den nassen Steinen nicht ausrutsche.
Nach einer Stunde ist das Ziel noch lange nicht in Sicht, im Gegenteil, ganz weit am Horizont sehe ich ein paar Wanderer in Ameisengröße auf dem Weg, der mir noch bevorsteht...
Mittlerweile hat es auch wieder angefangen, etwas zu regnen...

Nach weiteren 40 Minuten wird es langsam flacher und ich komme in die Nähe der Felskante zum Lysefjord.
Der erste Blick in die Tiefe lässt einen echt schaudern, die Beine sind wie aus Gummi und ein flaues Gefühl in der Magengegend macht sich breit. Hier geht es fast 550 m senkrecht nach unten...

Ich glaube, Menschen mit Höhenangst würden ab hier keinen Schritt mehr weitergehen, denn ab jetzt wird der Weg zum Plateau zudem noch recht schmal und es gibt keine Möglichkeit, sich an der Wand irgendwo festzuhalten...

Und dann ist das bekannteste Felsplateau Europas endlich in Sicht und es ist echt ein irres Gefühl, nach den letzten Metern dort zu stehen .
Der Preikestolen, zu deutsch Predigtstuhl, ist u.a. deshalb so bekannt, weil es an seiner Kante ohne Absicherung glatt und ohne einen einzigen Vorsprung genau 604 Meter in die Tiefe geht.
Habt Ihr schon einmal auf einem 10m- Sprungturm in die Tiefe geschaut?
Dann kennt Ihr das Gefühl, welches einem zumindest beim ersten Mal an der Kante erfasst. Man hält sich mit schweissnassen Händen am Geländer fest und will dieses am liebsten auch nicht mehr loslassen.
Nur "leider" gibt es hier kein Geländer und die Höhe ist mit Faktor 60 eben doch geringfügig anders.
Sogar Thor hat ein Einsehen, der Regen hört auf und die Sonne kommt raus...

Der Blick in die Tiefe ist schwindelerregend. Auf dem Bauch robbe ich zur Abrisskante und bin froh darüber, heute noch nicht so viel gegessen zu haben...

Sollte man hier den entscheidenen Schritt nach vorne gehen, hat man noch ca. eine Minute Zeit, sich zu überlegen, ob man unten im Fjord mit einer "Arschbombe" oder einem "Köpper" eintauchen will.
Die meisten ziehen es jedoch vor, wie ich ein Frotteehöschen zu sein und es auf dem Bauch liegend beim Angstschweiss zu belassen...

Die Füße baumeln zu lassen, war dann doch etwas zu hart für mich ...

Die Füße baumeln zu lassen, war dann doch etwas zu hart für mich ...

Die Aussicht ist wirklich atemberaubend schön...

Gegen 19.30 Uhr mache ich mich dann auf den Rückweg und zwei Stunden später habe ich den Parkplatz wieder erreicht.
Es hat auf dem Rückweg wieder angefangen zu regnen und ich gehe ins Hostel, um vielleicht noch etwas zu essen zu bekommen.
Es gibt drei Menüs zur Auswahl, dass "Günstigste" kostet ca, 60 €.
Mir fehlen echt die Worte, ich steige aufs Möppi, fahre zurück zu meinem Campingplatz und kaufe mir dort einen halben Liter Joghurt....den habe ich auch schon lange nicht mehr gegessen .
Draußen hat es 8 Grad, es regnet, aber in meinem Zelt ist es trocken und im Schlafsack ist es warm. `
Was will man mehr nach einem so tollen Tag ?

© Dirk Wöhrmann, 2012
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Mit dem Motorrad ans Nordkap über Tschechien, Polen, Russland, Litauen, Lettland, Estland, Russland, Finnland, Norwegen, Lofoten, Schweden, Dänemark
Details:
Aufbruch: 12.06.2012
Dauer: 7 Wochen
Heimkehr: 28.07.2012
Reiseziele: Deutschland
Tschechische Republik
Polen
Litauen
Lettland
Estland
Finnland
Norwegen
Der Autor
 
Dirk Wöhrmann berichtet seit 12 Jahren auf umdiewelt.
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