Ostsee-Tournee

Reisezeit: Mai - August 2018  |  von Jörn Tietje

Baltisches Finale in Estland

Wieder ein neues Land, wieder ein erster Eindruck. Und wieder einmal ist er anders als vorher. Die Ortschaften wirken überall entlang der Küste sehr gepflegt und die Menschen sind freundlich. Die Blicke werden nicht abgewendet, sondern es wird gelächelt, gegrüßt und überall kommt man mit Englisch sehr gut durch. Und auch hier hat sich er erste Eindruck bisher nicht geändert. Ein sehr angenehmes Reisen hier in Estland. Ich habe mal die Tage überschlagen, die ich gebrauche, bis ich nach Russland komme und entschließe mich wegen eines ganz guten Zeitpolsters, nicht auf dem kürzesten Weg nach Tallin zu fahren, sondern einen Abstecher über die beiden größten Inseln des Landes, Saaremaa und Hiiumaa zu machen - und über Muhu kommt man dabei auch noch. Muhu und Saaremaa sind eigentlich nur Durchgangsstationen, weil die Fährverbindungen ganz günstig liegen, um dann Hiiumaa zu umrunden.

Unkompliziert und sehr günstig kommt man von Insel zu Insel

Unkompliziert und sehr günstig kommt man von Insel zu Insel

Am Fährhafen auf Saaremaa findet ein Symphoniekonzert des Talliner Staatsorchesters statt - alle in estnischer Tracht. Ein sehr schöner Anblick. Im Ankunftshafen auf Hiiumaa läuft gerade ein großes Jazz-Festival. Mir zu spät und die vielen Menschen ein guter Grund, hier nicht auf dem Campingplatz zu bleiben. Obwohl es schon recht spät ist, fahre ich 10km weiter zum nächsten Platz - ohne Erfolg. Der ist einer ganzen Gruppe zugesagt, unter Ausschluss fremder Gäste. Deswegen abends um 10 noch einmal weiter, um auf einer Gemeidefläche in Nurste - ohne jede Infrastruktur - zu übernachten. Geht auch, zumal mir hier versichert wird, dass die Insel absolut sicher ist.

Heute dann nach Frühnebel Aufbruch zu meinem eigentlichen Ziel dieses Umwegs: dem Leuchtturm von Köpu - es soll der drittälteste noch in Betrieb befindliche Leuchtturm der Welt sein - ein guter Grund einen Tag und 100km extra zu investieren

Ein außergewöhnlich schönes Exemplar eines Leuchtturms

Ein außergewöhnlich schönes Exemplar eines Leuchtturms

Früher soll es über 800 dieser Windmühlen gegeben haben, heute findet man sie nur noch vereinzelt

Früher soll es über 800 dieser Windmühlen gegeben haben, heute findet man sie nur noch vereinzelt

Die traditionelle Bauweise, nicht nur hier aus den Inseln - leider hat man hier, wie bei uns, vor gut 50 Jahren die Faserbetonplatten entdeckt...

Die traditionelle Bauweise, nicht nur hier aus den Inseln - leider hat man hier, wie bei uns, vor gut 50 Jahren die Faserbetonplatten entdeckt...

Und so sieht's in schick aus

Und so sieht's in schick aus

Noch ein paar riesige Findlinge, Kirchen, Herrenhäuser... Ansonsten unterscheiden sich die Inseln nicht so sehr vom Festland: flach, sehr viel Wald, brutale Forstwirtschaft, Moore und selten Aussicht auf die Ostsee. Und eines ist sicher: wo diese Schilder stehen, sieht man sie garantiert nicht...

Es gibt nochn ein paar tausend Kilometer Chance, sie auch mal als lebende Exemplare zu entdecken

Es gibt nochn ein paar tausend Kilometer Chance, sie auch mal als lebende Exemplare zu entdecken

Und ganz ohne Sunset über der Ostsee geht auch dieser Bericht nicht

Und ganz ohne Sunset über der Ostsee geht auch dieser Bericht nicht

Letzte Meldung aus dem Baltikum

Tallinn habe ich wie geplant erreicht und weil es hier, anders als in Riga, keinen zentrumsnahen Camingplatz gibt, habe ich mir ein Zimmer in einem Hostel mitten im Stadtzentrum genommen. 70 Euro für zwei Nächte ohne eigenes Bad und natürlich ohne Frühstück - man merkt schon an den Preisen, dass es hier anders ist als in den anderen Städten, die ich vorher besucht hatte - einschließlich Danzig und Riga. Im Hafen liegen immer mindestens zwei Kreuzfahrer und dazu die Fähren, die Tallinn mit anderen Metropolen im Ostseeraum verbinden.

Ja, Tallin hat eine tolle mittelalterliche Altstadt und sieht wiederum ganz anders aus als die beiden zuvorgenannten Touristenmagneten. Allein die in großen Teilen mit vielen Wachtürmen erhaltene Stadtmauer sucht ihres Gleichen. Allerdings erscheint einem hier in der Stadt vieles zu schön, zu perfekt, zu touristisch. Man wird einfach das Gefühl nicht los, in einem sehr gut gemachten Vergnügungspark á la Disneyworld zu sein. Mittelalterlich verkleidetes Animier- und Bedienungspersonal in zahllosen Lokalen, die neben den üblichen Spezialitäten aus aller Welt natürlich auch Mittelalterliches anbieten und auch so servieren. Fahrradrikschas für die, die zu bequem zum Gehen sind und die schon fast übliche Bimmelbahn, die durch die Gassen tuckert...

Dazu natürlich die Menschen aus allen Ecken der Welt. Spätens, wenn man buddhistischen Mönchen in einer japanischen Reisegruppe begegnet, weiß man, dass dieses Reiseziel kein Geheimtipp mehr ist.

Immerhin mussten die Mönche nicht auch noch gelbe Westen und Mützen tragen. Sind ja auch so schon auffällig genug.

Immerhin mussten die Mönche nicht auch noch gelbe Westen und Mützen tragen. Sind ja auch so schon auffällig genug.

Warum wird uns Deutschen im Ausland eigentlich immer nachgesagt, dass man uns schon an der Kleidung erkennt? Oder: "Vaddern, solln wir ma ne Kreuzfahrt machen?" "Nää, is mir viel zu steif!" "Nee, stimmt gaanich, ist heute ganz lejär, kannst ruhig so gehn, wie du bist."

Warum wird uns Deutschen im Ausland eigentlich immer nachgesagt, dass man uns schon an der Kleidung erkennt? Oder: "Vaddern, solln wir ma ne Kreuzfahrt machen?" "Nää, is mir viel zu steif!" "Nee, stimmt gaanich, ist heute ganz lejär, kannst ruhig so gehn, wie du bist."

Andere sind aber auch verhaltensauffällig - jeder eben auf seine Weise

Andere sind aber auch verhaltensauffällig - jeder eben auf seine Weise

Aber es gibt ja auch Schönes zu zeigen. Der erste Eindruck bei Erreichen der Altstadt im Abendlicht

Aber es gibt ja auch Schönes zu zeigen. Der erste Eindruck bei Erreichen der Altstadt im Abendlicht

Direkt gegenüber dem Parlamentgebäude ein Zeugnis russischer - nicht sowjetischer - Geschichte. Gleich nebenan liegt die deutsche Botschaft

Direkt gegenüber dem Parlamentgebäude ein Zeugnis russischer - nicht sowjetischer - Geschichte. Gleich nebenan liegt die deutsche Botschaft

Fast zwei Kilometer der mittelalterlichen Stadtmauer mit etlichen Wachtürmen sind erhalten

Fast zwei Kilometer der mittelalterlichen Stadtmauer mit etlichen Wachtürmen sind erhalten

Die wohl ungewöhnlichste Kirche, die ich je gesehen habe. Ein kleines ukrainisch-griechisch-katholisches Gotteshaus, in dem einem buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen wird, zwei Geländer werden ausgeklappt und im Keller findet sich ein kleine Ausstellung mit Ikonen und kunstvoll bemahlten Eiern

Die wohl ungewöhnlichste Kirche, die ich je gesehen habe. Ein kleines ukrainisch-griechisch-katholisches Gotteshaus, in dem einem buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen wird, zwei Geländer werden ausgeklappt und im Keller findet sich ein kleine Ausstellung mit Ikonen und kunstvoll bemahlten Eiern

Die drei Schwestern: Mittelalterliche Fassaden mit unterschiedlichen Baustilen aus verschiedenen Epochen, hinter denen sich heute natürlich ein Hotel verbirgt

Die drei Schwestern: Mittelalterliche Fassaden mit unterschiedlichen Baustilen aus verschiedenen Epochen, hinter denen sich heute natürlich ein Hotel verbirgt

Fluch und Segen zugleich: Eine sehr schöne Altstadt direkt am Hafen, wo die Kreuzfahrtschiffe quasi Schlange stehen

Fluch und Segen zugleich: Eine sehr schöne Altstadt direkt am Hafen, wo die Kreuzfahrtschiffe quasi Schlange stehen

Genug gelästert. Schließlich verhalte ich mich ja auch nicht anders, sondern klappere auch alle Sehenswürdigkeiten mit der Kamera in der Hand ab und lausche gespannt (manchmal auch gelangweilt), was einem der Audio-Guide aus der Touristinfo so Wissenswertes und Kurioses zu verraten hat. Eben nur nicht einem Herdentrieb folgend, einem Menschen mit Fähnchen, Schirmchen oder anderen Auffälligkeiten hinterherzulaufen.

Apropos Touristinfo. Mir war da unterwegs ein kleines Malheur passiert. Beim Aufpumpen meiner Isomatte ist mit einem Knall ein Steg zwischen den Längsrippen aufgeplatzt - eine dicke längliche Wulst macht es unmöglich, bequem auf dieser Matte zu liegen. Entweder ist der Druck zu groß und man liegt auf dieser dicken Wurst, oder der Druck ist zu niedrig und man liegt auf der Erde. Ich möchte jetzt keine Bemerkungen zu meinem Gewicht hören - es ist beim Aufpumpen passiert, nicht beim Drauflegen.

Nützt nichts, eine neue Matte muss her und wenn nicht hier in Tallinn, wo dann sonst. Also dem hilfsbereiten Menschen in der Touristinfo mein Problem erklärt mit der anschließenden Frage, wo es denn ein Geschäft mit Outdoor-Equipment oder Campingbedarf gibt. Da die Unterhaltung auf Englisch geführt wurde, habe ich den üblichen Begriff der "mattress" verwendet. Seiner Sache sicher empfahl er mir ein riesiges Einkaufszentrum am Rand der Innenstadt. Auf einem Stadtplan markierte er den Ort, wobei ich dem, was er drauf schrieb noch keine Beachtung schenkte. Dort wollte ich erst gegen Abend hin und dann ist ja Zeit genug, sich mit dem Plan zu beschäftigen. Dort stand in Großbuchstaben "JYSK". Ich ahnte was kommt, denn JYSK ist außerhalb des deutschen Sprachraums die Bezeichnung für die Ladenkette "Dänisches Bettenlager" - klar ich wollte ja eine Matratze kaufen. Und es kam wie es kommen musste: von der Fassade des gigantischen Einkaufszentrums grinsten mich hämisch die Gänse vom Logo des Dänischen Bettenlagers an. Ich stelle mir vor, eine 200x90cm große Federkernmatratze auf dem Fahrrad...

Glücklicherweise gab es in der Mall auch drei Sportgeschäfte und in einem war ich erfolgreich und bin jetzt stolzer Besitzer einer neuen, zu schmalen, zu dünnen, aber für einen Temperaturbereich von -15 - +55° geeigneten Isomatte. Der Hersteller meiner alten Matte, von der ich mich in Tallinn verabschiedet habe, hat wahrscheinlich ein Einsehen und schickt mir auf Kulanz eine neue Matte nach Hause - schön, aber die nächsten sechs Wochen werden hart...

Auch außerhalb des Altstadtkerns gibt es viel Sehenswertes

Auch außerhalb des Altstadtkerns gibt es viel Sehenswertes

Altes Klostergemäuer, das zum Teil rekonstruiert wurde

Altes Klostergemäuer, das zum Teil rekonstruiert wurde

Auch auf dem Weg liegt auch der höchste Wasserfall Estlands: ganze 7 m - in Worten: SIEBEN - stürzt das Wasser hier in die Tiefe. Und nach einer so langen Dürreperiode ist auch nicht gerade mit überwältigenden Wassermassen zu rechnen. Naja, die Landschaft bietet sonst keine große Abwechslung und zwei Kilometer Umweg sind ja nicht der Rede wert - also mal sehen...

Das erwartete Naturspektakelchen - mein erster Gedanke: "Hat da jemand vergessen, den Wasserhahn zuzudrehen?"

Das erwartete Naturspektakelchen - mein erster Gedanke: "Hat da jemand vergessen, den Wasserhahn zuzudrehen?"

Und als sollte meine lästerlichen Gedanken sofort bestraft werden, fängt es direkt an dem Wasserfall das erste Mal auf der Tour an zu regnen, sodass ich nach und nach das komplette Regenzeug anziehen muss.

Wer geglaubt hat, dass es östlich der Ostsee nie regnet und die Himmel immer strahlend blau ist, der irrt...

Wer geglaubt hat, dass es östlich der Ostsee nie regnet und die Himmel immer strahlend blau ist, der irrt...

Geschützt in einer Bushaltestelle ziehe ich die Stulpen über Schuhe, als es so richtig anfängt zu gießen

Geschützt in einer Bushaltestelle ziehe ich die Stulpen über Schuhe, als es so richtig anfängt zu gießen

Die nächsten vier Stunden fahre ich im strömenden Regen, werde dabei aber von einem kräftigen Westwind geschoben, sodass der Regen fast zur Nebensache wird. Ich bleibe aber dabei: Lieber Gegenwind und Sonne als Rückenwind und Regen. Selbst das beste Regenzeug kann nicht verhindern, dass man von innen nass wird - vom Schweiß, und irgendwann wird es dann auch kalt. Also lege ich in einer sehr gemütlichen, aber fensterlosen Raststätte an der Hauptstraße, die hier wie eine Autobahn ausgebaut ist, auf der man aber auch mir dem Rad fahren darf, eine Pause für einen Kaffee mit etwas Süßem ein, um mich aufzuwärmen. Irgendwann muss man ja wieder auf das Rad. Noch ein kurzer Blick auf die Wetter-App: Ab 16.00 Uhr Sonnenschein und weiter kräftiger Westwind. Es ist 16.00 Uhr und als ich nach draußen komme, schiebt der Wind gerade die Wolken weg und der bekannte, strahlend blaue Himmel kommt wieder zum Vorschein. Regenzeug aus, in der Sonne durchwärmen und noch mal 70km hinter mich bringen - am Ende des Tages stehen 167km auf dem Tageszähler und trotzdem komme ich entspannt auf einem sehr schönen Campingplatz auf einer Steilküste an.

Bei Sonnenschein sieht doch alles gleich viel schöner aus
Bei Sonnenschein sieht doch alles gleich viel schöner aus

Bei Sonnenschein sieht doch alles gleich viel schöner aus
Bei Sonnenschein sieht doch alles gleich viel schöner aus

Heute bin ich dann die letzten Kilometer bis nach Narva gefahren. Hier bildet der gleichnamige Fluss die Grenze zu Russland. Kein Grenzübergang wie jeder andere. Hier stoßen offenkundig Welten aufeinander. Es ist auch nicht so entspannt, wie ich die Kontrolle in Kaliningrad erlebt habe. Wer mit dem Auto kommt, sollte sich vorher per Telefon oder Internet anmelden und idealer Weise auch eine Kontrollzeit buchen. Außerdem bucht man einen kostenpflichtigen Parkplatz im Wartebereich vor der Grenze. Bei einem kleinen Spaziergang durch die Stadt habe ich mir Kontrollstelle schon einmal angesehen: Meterhohe Metallzäune, elektrische Tore, durch die die Fahrzeuge einzeln zur Kontrolle vorgelassen werden, überall Videokameras und viele Verbotschilder. Nach telefonischer Auskunft benötige ich mit dem Fahrrad keine Anmeldung oder Reservierung. Mal sehen, ob das klappt. Auf jeden Fall werde ich sehr früh am Grenzübergang sein, um dem Hauptverkehrsstrom auszuweichen. Deswegen und weil es hier im Ort keinen Campingplatz gibt, habe ich mir ein Appartement für 18 Euro die Nacht gebucht - Plattenbau. Abschreckend das Umfeld, das Treppenhaus und die Flure, umso überraschender das gepflegte und komfortable Appartement. Keine zwei Kilometer zur Grenze - mal sehen wie viele Stunden ich gebrauche, bis ich in Russland bin, wo ich so schnell wie möglich nach St. Petersburg fahren will, allerdings wohl nicht auf dem geraden Weg, sondern auf Nebenstraßen an der Küste. Ich werde wie immer berichten.

© Jörn Tietje, 2018
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Zwei Jahre lange Abstinenz, zwei Jahre ohne Urlaub neigen sich dem Ende entgegen. Das Fahrrad ist vorbereitet und erstmals starte ich direkt vor der Haustür, um nach drei Kilometern die Schlei, einen Arm der Ostsee, zu erreichen. Die Ostsee immer zur Linken ist der grobe Orientierungsrahmen für die kommende Tour, auf der ich in zehn Wochen die neun Länder rund um das Baltische Meer erkunden möchte. Wie immer seid ihr herzlich eingeladen, mich hier zu begleiten.
Details:
Aufbruch: 26.05.2018
Dauer: 10 Wochen
Heimkehr: 05.08.2018
Reiseziele: Deutschland
Polen
Estland
Lettland
Russland / Russische Föderation
Finnland
Schweden
Dänemark
Der Autor
 
Jörn Tietje berichtet seit 15 Jahren auf umdiewelt.
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