Erstes Kennenlernen der Slowakei nach der Wende

Reisezeit: August / September 2000  |  von Manfred Sürig

Richtung Waldkarpaten

Zurück auf der slowakischen Seite bin ich wieder in unberührter Natur.

Um aus dem Seitental eines Nebenflusses wieder auf meine geplante Route nach Bardejov zu kommen, muß ich erst einmal einen Paß überwinden. das wird allmählich zur Routine, doch auf dem Gipfel erwartet mich eine Überraschung.
Vom Paß aus hat man einen Panoramablick auf das gesamte Massiv der Hohen Tatra wie auf einer Ansichtskarte, links daneben bei guter Sicht das Profil der Niederen Tatra, nach Nordwesten das nahe Pieniny Gebirge und nach Nordosten auf das bewaldete Grenzgebiet zu Polen.

An einer solchen Stelle stünde in Deutschland oder Österreich bestimmt schon ein 5Sterne-Hotel mit Sonnenterrasse. Ich baue mir meinen Picknickplatz auf und habe den Platz zunächst ganz für mich allein. Bären scheinen hier nicht vorzukommen, sonst hätten sie den Platz schon zum Honigsammeln aus Abfallen entdeckt.
Leider gibt es statt eines Abfallkorbes nur freie Natur, die von zu vielen Touristen mißbraucht wird, und der Wind tut das übrige.
Nach dem Picknick ist es 14 Uhr.
Die sportliche Leistung des Tages steht eigentlich noch aus und ich suche mir mein Tagesziel. Da gibt es noch eine Schlucht wie das Pieniny, dort nämlich, wo der Poprad die Grenze zu Polen bildet und das Gebirge nach Nordwesten durchbricht.

Aber da könnte ich nur die polnische Seite abfahren und käme nicht über die Grenze in die Slowakei zurück. Aber von der Slowakei einen Blick dorthin sollte ich schon wagen.
Gesagt getan, aber nun geht es ans Kilometerfressen, hinunter ins Popradtal bis zur Abzweigung in L'ubotin nach Bardejov, der nächste Paß über das Cergov-Massiv steht bevor und die Straße führt im Wechsel erst durch ein russisches Dorf (Ruski Livov) mit kyrillischen Ortschildern, dann durch ein Dorf, in dem nur Sinti und Roma zu wohnen scheinen und in dem offenbar polnisch gesprochen wird.

Dennoch bin ich klar rechts der Grenze zu Polen auf slowakischer Seite. Der Blick nach drüben ist idyllisch: als blicke man von oben in den Schwarzwald. Man sieht ein paar Einsiedlerhöfe, sonst nur Wald und ein
paar Almen. Irgendwo dazwischen muß der Poprad sich durch die Schlucht schlängeln.
Nach Hotels oder Pensionen sucht man trotz einer Bilderbuchlandschaft vergebens, also werde ich durchhalten müssen bis nach Bardejov.

Gott sei Dank geht es bergab mit flottem Tempo, um punkt 19 Uhr bin ich dort.
Eine malerische Altstadt mit einem großen Ring, dem zentralen Marktplatz, empfängt mich, ein paar Plattenbauten am Stadtrand. Nach Hotels muß man fragen. Die meisten sind im Stadtteil Bardejovske kupele, dem Kurort 12 km dahinter.
Aber in der City gibt es ein Sporthotel, bei dem ich wohl der einzige Gast bin, die Bedienung der Rezeption muß erst aus der Kneipe gerufen werden, dann zeigt sie mir den Seiteneingang, über den ich abends wieder ins Hotel komme und über den ich morgen früh das Hotel verlassen muß.
Ansonsten sofortiger cash und vorbei ist jeglicher Service. Im Dunklen fmde ich dann in der City eine einzige Pizzeria, die allerdings ist geschmackvoll eingerichtet, warm und bietet eine hervorragende Küche. Und herrliches Bier zu moderaten Preisen.

Sonnabend, den 9. September 2000

Da ich kein Frühstück im Hotel bekomme, radle ich schon morgens um 7 durch die Stadt, fmde aber alle Läden noch geschlossen vor. Was solls, unterwegs wird's auch was geben.
Wenn die Hotels oder Pensionen in den Dörfern weiterhin nicht vorhanden sind, werde ich heute bis in die nächste größere Stadt, nach Kosice, Michalovce oder Hummene müssen, alles respektable Entfernungen mit Bergen dazwischen. dafür kann man mit dem Rad Abkürzungen fahren, die dieses Mal zusammen fast 40 km ausmachen.

Doch auf den nächsten Dörfern ist um 8.30 bzw. 9 Uhr schon das Brot ausverkauft, nach Überwindung eines Passes bei Kucin über einen besseren Feldweg fmde ich dann wenigstens einen Tante Emma Laden (potravinny), in dem ich einer Kundin das letzte Brot vor der Nase wegkaufe . Dazu noch Bier und Käse und Obst. viel mehr gab auch nicht., aber ausreichend, um endlich ein Picknickfrühstück nachzuholen.

Auch hier fehlen Papierkörbe, viele Parkplatzbesucher vor mir haben ihren stillen Protest dagegen hinterlassen. Auf dem Weg nach Humenne habe ich mir einen schönen Weg an einer Talsperre (Velka domasa) entlang ausgesucht, an der ich fast 35 km am Wasser ohne Steigungen entlangfahren können müßte.
Müßte, irgendein Straßenplaner hat die Trassenführung wohl beleben wollen und hat saftige Steigungen und sinnlose Gefälle darin eingebaut, die heute mehr als sonst an meinen Kräften zehren. Der See liegt bildschön in einer flacher werdenden Vorgebirgslandschaft der Karpaten, aber jeder Parkplatz ist übersät mit Müll.
Naturpark ade, dafür darf hier jeder am Ufer wild zelten oder siedeln, zumindest temporär.
Gut, dass die Slowakei nicht so bevölkert ist wie NordrheinWestfalen. Meine Form ist heute ohnehin nicht die beste, also lasse ich Kosice oder Michalovce fallen und fahre nach Humenne.

Humenne ist eine Chemiestadt aus der Retorte der fünfziger Jahre. Im Hotel Chemes bekomme ich ein Zimmer im 11.Stock mit einem malerischen Blick über Humennes Chemiekombinate. Gut, dass am Sonnabend nicht gearbeitet wird, so bleibt noch Luft zum Atmen übrig. Eine Stadtrundfahrt führt über breite Straßen mit etwas unterentwickeltem Autoverkehr und durch Baustellen. Außer etwas besseren Verkehrsverbindungen nach Kosice hat die Stadt nicht viel zu bieten.

Sonntag, 10.September 2000

Strahlender Sonntagmorgen hebt die Laune. Heute geht' s in die Karpaten. Aber hinter Snina und Stakcin gibt es keine Städte mehr, nur ein paar kleine Dörfer. An der Hotelrezeption frage ich nach Unterkunftsmöglichkeiten in Ubl'a, Ulic Zboj oder Nova Sedlica oder anderen Grenzdörfern zur ukrainischen Grenze.
Mit Hilfe des Telefonbuches (Jahrgang 1995) und einem Kontrollanruf kann mir die Rezeption sagen, daß es in Nova Sedlica ein Hotel Kremenec gibt, wo noch Platz ist oder sein könnte. Bei der Entfernung von 75 km dorthin muß das nun klappen.
Ich stelle mir die dortige touristische Erschließung wie in der Hohen Tatra vor und radle guten Mutes los. Die Chemie ist schnell hinter mir und eine liebliche Landschaft tut sich auf, parallel zu einer Bimmelbahnstrecke geht es den Karpaten entgegen. Hinter Stakcin geht es links in ein Tal) das an einer Talsperre endet, die Straße erklimmt den Hang daneben, und ich muß kräftig schieben.

Dafür umgibt mich oberhalb der Talsperre wieder grenzenlose Einsamkeit. Die gut ausgebaute Straße wird nur gelegentlich von einem Auto befahren und auf einer Anhöhe höre ich aus einem Kirchlein russisch-orthodoxe Chorgesänge, genau die richtige Zeit zum Rasten.
Von dieser Anhöhe aus sieht man rund um den Horizont nur Wald, unterbrochen von ein paar Almen, auf denen aber kein Vieh weidet, sondern von Hand Heu gewendet wird.
Nur diese Nutzungsfonn ist im Naturpark Karpaten zugelassen, sie entspricht einer Tradition aus vielen Jahrhunderten, in denen man noch nicht die Möglichkeit hatte, den sauren Boden mit Düngemitteln so weit zu neutralisieren, dass er landwirtschftlich genutzt werden konnte. So läuft man auch nicht Gefahr, dass das Trinkwasser der Talsperre durch Überdüngung grün werden könnte, die Talsperre versorgt die gesamte östliche Slowakei mit Trinkwasser.

Hinter dem Paß führen alle Täler auf die Ukraine zu, will man näher an die polnische Grenze, muß man erneut über die Berge ins nächste Tal.

Zunächst einmal lasse ich mich wieder bergab rollen durch winzige Dörfer, die meiste Zeit durch Wald und Wiesen. Wüßte ich nicht so sicher, in Nova Sedlica ein Hotel vorzufmden, könnte ich es gar nicht riskieren, weiterzufahren, denn hier fmde ich bestimmt keine Unterkünfte. Vor dem Ort Ulic weist ein Wegweiser geradeaus zur ukrainischen Grenze (obwohl nach meiner Karte gar kein Übergang dort ist) links nach Nova Sedlica, dem letzten Dorf vor den Grenzen zu Polen im Norden und zur Ukraine im Osten.
Wovon mögen die Leute hier nur leben? Außer Holzfällen und Heuwenden gibt es nichts, und der Industriestandort Humenne ist über 60 km weit weg.
Die letzten 14 km nach Nova Sedlica wird die Straße noch einsamer, so dass ich manchmal nicht sicher bin, ob ich mich noch auf slowakischem Gebiet befmde. Und hier soll ein Hotel sein? Tatsächlich, schon am Orteingang leuchtet mir ein nagelneues gelbes Haus entgegen, Pension Kremenec. Zwei Gästezimmer hat das Haus, auf dessen Veranda gerade fast das ganze Dorf zum Sonntagnachmittag zecht. Und für mich ist ein Zimmer frei, für 12,50 DM.
Nach etlichen Bieren mache ich am Abend noch einen Rundgang durchs Dorf und werde von Leuten herangewunken, die auf einem Hanggrundstück eine Ferienhütte aufgebaut haben. Sie sprechen gut deutsch, wohnen in Humenne und sind jedes Wochenende hier. Sie kennen die Gegend und lieben sie und zeichnen mir eine kleine Landkarte der Umgebung, denn Wanderkarten von hier gibt es nicht. Sie überreden mich, doch einmal auf den Kremenec (1221 m ü.M.)zu gehen, das ist das Dreiländereck, an dem Polen, die Ukraine und die Slowakei zusammenkommen.

Genau die richtige Zeit, um mal wieder einen Tag Bergwanderung einzulegen.
Montag, den 11.September 2000
4 Stunden soll man bis auf den Kremenec brauchen, und auf dem Weg zurück kann man einen Haken nach Westen schlagen. Das Wetter ist ideal, etwas zu warm, wie sich später erweist, aber je höher man kommt, desto kühler wird es bekanntlich. Nach den Strapazen der Tatra scheint das ein Spaziergang zu werden. Nachdem das letzte Haus des Dorfes hinter mir liegt, bin ich völlig allein auf dem Wanderweg und ich bleibe es stundenlang bis auf den Gipfel des Kremenec. Nur von weitem sehe ich einmal eine Gruppe Menschen beim Heuwenden.

Erst oben auf dem Kremenec kommen von der polnischen Seite zahlreiche Wanderer, die auch vier Stunden hier herauf gebraucht haben. Wir tauschen unsere Erfahrungen aus und sind uns einig, daß dies ein herrliches unberührtes Waldgebiet sei und die Grenzen dazwischen bald überwunden sein werden.
So steht es auch auf dem Marmorstein und in vielen Eintragungen in einem auf dem Dreiländereck ausliegenden Gästebuch an einem eigens dafür gesetzten Pfahl.
Wanderer aus der Slowakei sind hier sehr selten, Wanderer aus der Ukraine kommen überhaupt nicht, alle übrigen Wanderer, auch deutsche, sind immer von der polnischen Seite aufgestiegen.

Vom Kremenec nach Norden sieht man, soweit das Auge reicht, Wald bis zum Horizont, auch die äußerste Südostecke Polens ist Naturpark und auch die ukrainische Seite ist völlig unberührt - bis auf die Grenzmarkierungen.
Auf dem Kamm des Gebriges gehe ich nach Westen, immer Slalom auf der slowakisch-polnischen Grenze bis zu der Abzweigung, wo es bergab zurück nach Nova Sedlica geht. Die Bergabstrecke wird zum anstrengenden Unterfangen, weil man nicht, wie im Sibenikgebirge oder in der Tatra, von Stein zu Stein springen kann, sondern mit nach unten abgewinkelten Füßen sich dem Gefälle anzupassen hat. Das strengt an und verfUhrt dazu, einfach den Berg hinabzurennen mit entsprechenden Auswirkungen auf die Knie. Nach gut drei Stunden, wieder, ohne einem einzigen Menschen zu begegnen, bin ich wieder in der Pension.

Beim Abendessen (wieder Schnitzel natur, das war das einzige deutsche Wort, das die Wirtin sprechen kann) setzt sich ein leicht angetrunkener Mann zu mir an den Tisch und redet ständig auf mich ein, seine Stimme wird dabei immer lauter. Ich verstehe kein Wort und versuche, ihn zu ignorieren. aber immer häufiger fällt in seinem Redeschwall das Wort Niemicki (was Deutscher oder deutsch heißt). Irgendwas scheint ihm an mir oder an den Deutschen nicht zu passen.

Eine Gruppe junger Männer am Nachbartisch ruft ihn wiederholt zur Ordnung - jedenfalls verstehe ich das so -, aber er wird immer lauter. Zum Schluß steht er gar auf und brüllt mich von oben an. Ich sehe ziemlich hilflos drein.
Da packen ihn die drei Männer am Nachbartisch und werfen ihn binnen Sekunden zur Tür hinaus. Anschließend setzen sie sich wieder an ihren Tisch, als wenn nichts gewesen wäre, als hätte man ein zu lautes Radio abgeschaltet. Ich bin heilfroh, daß die Szene so beendet worden ist und stelle mir vor, wie einem Ausländer in Deutschland wohl zumute wäre, wenn er so angepöbelt wird und alle andern Gäste einfach wegsehen.
Die Zivilcourage der Leute am Nachbartisch hat mir gefallen, und ich versuche es meiner Wirtin zu sagen, wenn sie es nur verstünde.

© Manfred Sürig, 2011
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Die Reise
 
Worum geht's?:
eigentlich wollte ich nur mal dorthin, wo ich als 7jähriger 1944 mit meinen Eltern in der "Sommerfrische" im Sudetenland war. Doch mit dem Rad macht man ungeahnte Entdeckungen und fährt immer weiter nach Osten...... und heute, 10 Jahre danach, kann man sich einige Abenteuer in diesem Land so gar nicht mehr vorstellen.
Details:
Aufbruch: 28.08.2000
Dauer: 4 Wochen
Heimkehr: 21.09.2000
Reiseziele: Tschechische Republik
Slowakei
Ungarn
Der Autor
 
Manfred Sürig berichtet seit 18 Jahren auf umdiewelt.