Erstes Kennenlernen der Slowakei nach der Wende

Reisezeit: August / September 2000  |  von Manfred Sürig

weiter in die ungarische Pußta

In Ungarn, in der ersten Stadt hinter der Grenze, in Satoraljaujhely kommt man sich vor wie früher nach dem Passieren der Sektorengrenze von Ostberlin nach Westberlin.
Überwältigend die Blumenpracht in allen Straßen und den Häusern, lebhaftes Treiben auf dem Wochenmarkt und in der Infostelle des Fremdenverkehrsbüros - das gibt es hier - werde ich mit Farbprospekten des schönen Ungarn überhäuft.
Man ist sichtlich betrübt, dass ich den Ortsnamen nicht aussprechen kann und immer nur von" diesem Ort hier" weg will bis Sarospatak am Fluß Bodrog, 22 km weiter südwestlich.
Diese Stadt wirkt auf mich wie ein Kurort, zumal ich mir aus dem Verzeichnis der Unterkünfte unter Hunderten eine aussuchen kann. Gleich in der ersten fühle ich mich wohl, und mit 2500 Forint (23 DM) ist es auch nicht teurer als in der Slowakei.
Im benachbarten Restaurant unterhalb der Burg kann man genüßlich aus einer großen Speisekarte auswählen, nur das slowakische Bier schmeckte etwas besser.
Auf dem PC meiner Wirtsleute lasse ich endlich meinen email-Sammelgruß an alle Bekannten los, der Sohn freut sich, mal eine Mail in die übrige Welt absenden zu können.
Abends gibt man mir die Hausschlüssel, denn am kommenden Morgen muß die ganze Familie schon um 6.30 Uhr aus dem Haus, so früh will man mich nicht verjagen.
Stecken Sie anschließend den Schlüssel in den Briefkasten, nachdem Sie Haus und Garage abgeschlossen haben. So viel Vertrauen bringt man einem wildfremden Gast entgegen, von dem man nicht einmal den Reisepaß verlangt hatte.

Donnerstag, 14.September 2000
Heute suche ich die ungarische Pußta.

Eben genug wird die Landschaft hier schon, und die Wege führen kilometerweit schnurgeradeaus. Aber berittene Hirten und Ziehbrunnen bis zum Horizont sucht man vergeblich.
Statt dessen kann man intensive Landwirtschaft sehen und riechen. Die Überquerung der Theiß ist vorsintflutlich:
An einem Seil zieht sich ein Floß über den träge dahinfließenden Fluß. Die Strömung allein reicht nicht, das Gefährt zu bewegen, vielleicht auch weil es mit einem vollbeladenen Erntewagen hoffnungslos überladen ist. So wird zum Antrieb ein riesiger Dieselmotor benötigt, der nicht etwa sich am Seill entangzieht, sondern der einseitig ein Schaufelrad dreht, das das Ganze dann tatsächlich über die Theiß bringt.
Meine ADAC-Straßenkarte von Ungarn enthält auch einige dünn gezeichnete Nebenstraßen, die mir fürs Radfahren besonders geeignet erscheinen. Doch als es einmal geradeaus in eine staubige Treckerspur am Rande eines Feldes weitergeht, kommen mir leise Bedenken.

Doch es ist weit und breit die einzige Piste, darüberhinaus eine Abkürzung von 13 Kilometern. So trete ich mich durch tief gefahrene Furchen, rechtwinklig um Felderenden bis die Übereinstimmung von Karte und Realität nicht mehr im entferntesten festzustellen ist.

Mit Solarnavigation halte ich Südkurs, und nach weiteren 6 Kilometern bin ich wieder auf einer befestigten Straße, die ich auch auf der Karte wiederfmden kann.
Die Entfernungen zwischen den Orten sollen in Ungarn immer 38 km sein, weil das die Strecke war, die früher ein Pferdegespann an einem Tag zurücklegte.
Entsprechend langweilig ist die Gegend dazwischen.

Ich fahre gegen die Zeit und rechne mir jeweils aus, wann ich im nächsten Ort sein müßte. Die Orte selbst sind ziemlich groß, aber die Ortskerne ohne winklige Innenstadtgassen, die Kirche steht in der Mitte zweier breiter Alleen, an denen sich das Geschäftsleben abspielt.

Oft wirken sie wie eine Kurpromenade. Mein Ziel, die Pußta, so wie ich sie mir vorstelle, werde ich trotz 100 km Strecke heute nicht erreichen.

Der Vorderreifen macht zudem häufiger schlapp, mit wiederholtem Aufpumpen kann ich jeweils eine weitere halbe Stunde fahren.
In Balmazjuvaros lasse ich mich von einem Schild "Zimer frei" in die Zielgerade für heute einschwenken. Ein Haus mit 8 Ferienwohnungen, von denen ich mir für 20 DM eine aussuchen kann. 28 Kilometer sind es von hier noch nach Debrecen im Osten und 15 km in den Hortobagy-Nationalpark nach Westen.
Dort soll es tatsächlich noch die PuBta geben. Ein warmes Freibad gibt es hier, das aus einer heißen Quelle gespeist wird und eine Bahnverbindung nach Debrecen.

Freitag, 15.September 2000
in die Großstadt Debrecen fahre ich lieber ohne Gepäck per Bahn, um ungestört bummeln gehen zu können. In der protestantischen Magistrale Debrecen pulsiert das Leben, die ganze Innenstadt ist eine Baustelle.
Ich lasse mich einfach ziellos treiben und komme ganz wie von selbst an vielen sehenswerten historischen Gebäuden vorbei, gehe im First-class Hotel für 3,50 DM zum Friseur und kaufe mir ein paar Souvenirs.
Mittags bin ich zurück in Balmazjuvaros.
Mein Vorderreifen ist platt und mir fällt das ewige Nachpumpen von gestern ein.
Mein Hauswirt sieht meinen betrübten Blick auf den Reifen und während ich ein kurzes Nickerchen halte, repariert er den Schlauch und stellt fest, dass der Mantel total brüchig ist. Zusammen gehen wir zu einem Fahrradhändler in der Nachbarschaft, wo ich für 6 DM einen neuen Mantel erstehe, den mir mein Hauswirt so profIhaft auf die Felge setzt, daß hinterher das Rad auch nicht mehr den "Schlag" hat, den ich für eine Delle in der Felge gehalten hatte.

Grund genug, anschließend ohne Gepäck, noch eine Fahrt in den HortobagyNationalpark zu machen.
Ich fahre 18 km bis zu einer Vogelaufzuchtstation, in der hervorragend die Vielfalt der Greifvogelarten in der hiesigen Landschaft dokumentiert ist.
Probleme wie bei uns mit dem Überhandnehmen bestimmter Vogelarten (Tauben, Möwen, Kormorane) kennt man hier nicht. Wenn man hinreichend viele Raubvögel hier ansiedelt und diese sich halten können, weil sie genügend Futter vorfInden, kann es nicht zu einer explosionsartigen Vermehrung von Vogel arten kommen, die zu wenig oder keine natürlichen Feinde haben.
Das Konzept scheint aufzugehen, und stolz ist man, bisher jede wieder angesiedelte Greifvogelart nachhaltig heimisch gemacht zu haben.
Auf dem Rückweg fmde ich die Pußta tatsächlich: Ich fahre auf einen großen Einsiedlerhof und dort steht der Ziehbrunnen, das Symbol der Pußta.
Man hat ihn stehen gelassen, obwohl die Wasserversorgung des Hofes über elektrische Pumpen läuft, wird mir erläutert. Die Hunde, die hier umherlaufen, wirken auch halbwild, aber sie gehorchen Gott sei Dank auf den AnpfIff ihres Herrn.
Sonnabend, den 16.September 2000
Es regnet zwar noch nicht, aber der Herbst scheint zu nahen. Der wolkenverhangene Himmel paßt zu dem tristen Landschaftsbild der Pußta, in der von Romantik nichts zu spüren ist, wohl dagegen von der unendlichen Weite.
Die Straße führt bis weit hinter den Horizont schnurgerade aus und ich bin heilfroh, daß ein leichter Ostwind weht, der mich vor sich hertreibt.

Beim Abkürzen des Weges begegne ich einem Jäger, als ich gerade unter Pappeln mit unzähligen Krähen auf den Bäumen hindurchfahre. Der Jäger feuert einen Schreckschuß ab und plötzlich stürzen alle Krähen mit gewaltigem Geschrei von den Bäumen und verdunkeln den Himmel. Sie fliegen scharenweise in Augenhöhe vor mir und auf mich zu und hinter mir her als wenn sie Attacken auf mich vorhätten. Ich trete die Flucht nach vom an mit kräftigen Tritten in die Pedalen und vergesse ganz, dieses Schauspiel auf einem Bild festzuhalten.

Im Zentrum des Naturparks wird die Pußta fremden-verkehrsfreundlich vermarktet. Da steht eine Czsarda, früher ein Steppenbordell, heute ein Nobelrestaurant und die gepflegten Parkplätze passen gar nicht so in das Landschaftsbild der Pußta.

Natürlich nehme ich auch die berühmte 9-Bogen-Brücke über den HortobagyFluß ins Bild, die von der reichen Stadt Debrecen im vorigen Jahrhundert in Stein gebaut worden ist, um die Stadt nicht von allen Handelswegen abzuschneiden.
Auf dem Weg nach Westen gibt es von nun an immer wieder Pußta satt zu sehen, wegen der unendlichen Weite aber meist in respektabler Entfernung von der Straße.
Nur die Czardas, die Kneipen sind überall als Restaurants herausgeputzt, alles für die Touristen.
Der Tag ist schon zur Hälfte verstrichen, als ich mir über die voraussichtliche Wetterentwicklung klar werde und feststelle, dass ich noch 71 km Ebene vor mir habe. Wenn ich die in 3 Stunden schaffe, kann ich in Füzesabony noch einen Zug nach Budapest erreichen.
Es folgt ein Wettlauf mit der Zeit, in der ich teste, wieviel "Schnitt" man auf glatter Straße ohne Steigungen und herabgesetztem Fahrtwind erreichen kann. Ich erreiche 2 Stunden lang 27 km Durchschnittsgeschwindigkeit, nur unterbrochen von einer Stadtrundfahrt durch Tiszafüred und die anschließenden Überschwenmmungsgebiete der Theiß.
In Füzesabony bekomme ich den Zug nach Budapest bequem und lasse mich die letzten 150 km der Großstadt entgegenrollen. Mit dem Fahrrad in der Metropole will ich keinesfalls an einem Werktag sein, der morgige Sonntag eignet sich wohl am besten dafür.

© Manfred Sürig, 2011
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Die Reise
 
Worum geht's?:
eigentlich wollte ich nur mal dorthin, wo ich als 7jähriger 1944 mit meinen Eltern in der "Sommerfrische" im Sudetenland war. Doch mit dem Rad macht man ungeahnte Entdeckungen und fährt immer weiter nach Osten...... und heute, 10 Jahre danach, kann man sich einige Abenteuer in diesem Land so gar nicht mehr vorstellen.
Details:
Aufbruch: 28.08.2000
Dauer: 4 Wochen
Heimkehr: 21.09.2000
Reiseziele: Tschechische Republik
Slowakei
Ungarn
Der Autor
 
Manfred Sürig berichtet seit 18 Jahren auf umdiewelt.