Unterwegs im südlichen Kalabrien

Reisezeit: Juni 2005  |  von Angelika Gutsche

Vor einiger Zeit hatten wir bereits den Norden und die Mitte Kalabriens bereist. Dieses Jahr sollte unsere Reise in den Süden Kalabriens führen, in die wilde Bergwelt des Aspromonte.

Coccorino: Zimmer mit Aussicht

Über das Internet hatten wir eine Telefonnummer in Coccorino bekommen, von einem Domenico, der uns ein Ferienhäuschen vermieten wollte. Gespannt sitzen wir in der Bar Roxy in Coccorino und warten auf Domenico, während ein paar alte Männer Kaffee trinken, Karten spielen und ab und zu neugierig-wohlwollende Blicke auf uns Fremde werfen.

Da kommt auch schon Domenico, ein bayrisch sprechender Kalabrese, der lange Jahre in München gearbeitet hat. Das Häuschen, zu dem er uns bringt, liegt etwas unterhalb Coccorinos und entpuppt sich als Urlaubstraum. Fröhlich gelb gestrichen, von einem farbenprächtigen Garten umgeben, klebt es am Steilhang. Vor der kleinen Terrasse breitet sich ein unglaubliches Panaroma aus: zur Rechten ragen die Felsen des Capo Vaticano aus dem Meer, vor denen gerade der glühende Sonnenball im Meer versinkt. Der Himmel strahlt in allen Rotschattierungen von Violett bis Orange. Ein Vorhang aus Dunst lüftet sich und vor uns erhebt sich plötzlich das in den letzten Sonnenstrahlen erglühende Stromboli, eine der Liparischen Inseln, aus dem Meer. Deutlich erkennt man schwarze Rauch- und Aschewölkchen, die aus dem Krater der vulkanischen Insel ausgestoßen werden, und bizarre, dunkle Wolkenformationen in den Abendhimmel zeichnen. Atemberaubend!

Blick von unserem Haus unterhalb Coccorinos auf Capo Vaticano und Stromboli

Blick von unserem Haus unterhalb Coccorinos auf Capo Vaticano und Stromboli

Heute, am 2. Juni, feiert Coccorino seinen Europatag. Auch wenn erst vor einigen Tagen die Niederlande und Frankreich die EU-Verfassung abgelehnt haben, hier in Coccorino ist die Europa-Euphorie ungebrochen. Rund um den großen Festplatz sind unter Partyzelten Stände aufgebaut, an denen Produkte aus der Region feilgeboten werden. Neben Käse, Wurst, Olivenöl, Wein und eingelegtem Gemüse bietet auch das Kunsthandwerk seine Produkte an. An einem Stand führen Frauen vor, wie Seidenfäden aus den Kokons der Seidenraupe gewonnen werden: Die Kokons werden in einem Kessel voll heißem Wassers ausgekocht, die losen Fäden durch ein Loch in einem über dem Kessel quergespannten Bambusstock gebündelt herausgezogen und dann aufgewickelt.

Übersetzungen sind manchmal Glückssache!

Übersetzungen sind manchmal Glückssache!

Bei einem Korbflechter erstehe ich einen der hübschen Weidenkörbe, der mir als Papierkorb dienen soll. Die Preise sind sehr zivil; für einen großen Topf des köstlichen Eukalyptushonigs zahlen wir weniger als tags zuvor für ein kleines Glas Industriehonig aus dem Supermarkt.
Die Frauen des Dorfes haben an einer langen Tafel köstliche kalabresische Spezialitäten aufgetragen: Kartoffel-Gurkensalat mit Tomaten, scharfen Gemüseeintopf mit Zwiebeln, frittierte Zucchini und Auberginen, polpette genannte kleine Fleischbällchen, Salat aus weißen Bohnen und Thunfisch, Nudeln in Tomatensauce, gebratener Kartoffelbrei mit Ei und vieles mehr. An einem anderen Stand werden Fleisch und würzige Bratwürste gegrillt, die, bevor sie zwischen die beiden Semmelteile wandern, noch mit einer Olivenöl-Kräuter-Sauce beträufelt werden. Lecker! Weiter hinten zeigen die Frauen aus Coccorino, was sie im Kuchenbacken drauf haben. Eine Riesenauswahl an dolce erfreut den Gaumen. Jeder kann nehmen so viel er will, die Spende ist freiwillig.

Es wird aber auch ein Augen- und Ohrenschmaus geboten: die "Giuvani Calabrisi", geben kalabrische Volksmusik und -tanz zum Besten. Die Frauen tragen über roten Unterröcken blaue Röcke mit Brokatschürzen, die schwarzen Oberteile schmücken fransenbesetzte, violette Brusttücher, die schlanken Hälse zieren Kropfbänder. Die Tracht der Männer besteht aus rotkarierten Westen und aus mit roten Schärpen umgürteten schwarzen Hosen. Getanzt werden verschiedene Arten des temperamentvollen pizzicatto, was soviel heißt wie "Kniff, kleiner Biss". Dieser Tanz stellt eine Art Balz dar; die Anmache zwischen den Geschlechtern wird trefflich vorgeführt. Die von den Sängern ausgestoßenen Jauchzer erinnern an bayerische Jodler. Plötzlich tanzen zwei große, von Menschen geführte Puppen aus Pappmaché auf die Bühne: die Riesen Mata e Grifone sollen die Verbindung der einheimischen Bevölkerung mit den Mauren symbolisieren. Spät abends bildet ein großes Feuerwerk den Abschluss des Tages. Ein schönes Fest ... und schön, dass Kalabrien ein Teil Europas ist!

Auf dem Nachhauseweg kommen wir am Kirchplatz vorbei, wo Kinder um diese Uhrzeit noch Fußball spielen. Hier wohnt Domenico mit seiner Familie. Er ist nicht zu sehen, aber sein Handy und seine Geldbörse liegen unbeaufsichtigt auf einer Parkbank. Die Angst vor Diebstählen scheint hier nicht sehr verbreitet zu sein.

Schwarze Madonna in Felsgrotte am Meer

Schwarze Madonna in Felsgrotte am Meer

Am nächsten Morgen erkunden wir die Gegend am Meer. Das kurvige Sträßchen hinunter zum Strand ist von hohem Gras umsäumt, durchsetzt von bunten Wiesenblumen, dazwischen knorrige Eichenbäume, stachelige Kakteen und buschige macchia. Ein würziger Duft liegt in der Luft. Wir erreichen den kleinen Badeort Santa Maria mit seinem schönen Sandstrand. Der Sand geht im Wasser leider gleich in große Steine über, die ein Laufen im Wasser mühselig machen. Doch kaum untergetaucht, stellt sich Genuss pur ein: das tiefblaue, reine Wasser des Thyrenischen Meeres erfrischt die Lebensgeister.

Der Strand von Santa Maria

Der Strand von Santa Maria

Nach dieser Erfrischung geht es mit dem Auto weiter zu dem nur wenige Kilometer entfernten Capo Vaticano. Ein Rundweg führt um das Kap herum, vorbei am Leuchtturm, entlang der schroffen Küste. Ein Augenschmaus, wenn langsam die Sonne im Meer versinkt und die Natur in ein orange-violettes Licht getaucht wird.

Blick vom Rundweg des Capo Vaticano

Blick vom Rundweg des Capo Vaticano

Bei unserer Rückkehr gießt Domenico seinen neben unserem schmucken Häuschen angelegten Gemüsegarten. Sogleich versorgt er uns mit frischem Salat, Kartoffeln und köstlichen Erdbeeren. Auf jede unserer Fragen oder Bitten antwortet der fleißige Domenico im besten Münchnerisch: "Des mach ma scho!". Wir fühlen uns wie zu Hause und sind auch nicht überrascht, als vor der Haustür Mieze "Fritzchen" auf uns wartet und um ein Leckerli bettelt. Etwas weiter vom Haus entfernt ist Domenicos Ferkel, das sich auch immer über einen Besuch freut, in einem kleinen Stall untergebracht. Es soll im Winter zu Salami verwurstet werden. Doch jetzt genießt es noch das Wühlen in seinem Schweinetrog. Wir erleben hier Agritourismus im Kleinformat. Und Heimwerker-Ratschläge bekommen wir von Domenico auch noch gratis: man soll Kalk vor dem Streichen immer Salz beimischen, dann hält die Farbe länger. Danke für den Tipp!

Blick auf Capo Vaticano von unserer Frühstückssterrasse

Blick auf Capo Vaticano von unserer Frühstückssterrasse

Am nächsten Tag folgen wir von Coccorino aus der Ausschilderung auf den Monte Poro. Längs der Straße erstrecken sich blühende Wiesen, durchsetzt von fröhlich gelbem Ginster und tiefblauen Disteln. Als plötzlich neben unserem Auto ein Bussard hochfliegt, schrecken wir zusammen. Am Gipfel des Monte Poro angelangt, erwarten uns erst einmal Handymasten und leerstehende Fabrikgebäude, dazwischen grasen Schafe. Doch nur ein kurzes Stück weiter erreichen wir das kleine Kloster mit seiner Kirche Madonna del Carmine. Das Kloster und seine Umgebung sind eine richtige Sommerfrische. Die hohen Bäume eines kleinen Parks sorgen in der Mittagshitze für eine angenehme Kühle. Die wohltuende Stille wird nur durch Vogelgezwitscher unterbrochen. Außerhalb des Klosters sind Verkaufsstände des immer montags stattfindenden Markts aufgebaut. Wir versorgen uns mit köstlich würzigem Schafskäse und bekommen noch ein Stück selbstgemachte Salami, dugia genannt, geschenkt. Die Salami ist weich wie Mettwurst, und der wohlbeleibte, sonnig-plaudernde Verkäufer rät, sie mit etwas Zwiebeln und Tomaten anzubraten. Das ergäbe eine köstliche Pastasauce, molto picante!, erklärt er strahlend. Da macht das nebenan mit duftenden Pizzas lockende Restaurant La Pineta mit uns natürlich kein Geschäft.

Marktstand am Monte Poro

Marktstand am Monte Poro

Vor dem Park füllen Frauen aus einem gefassten Brunnen Wasser in Plastikflaschen ab. Sie versichern uns, es handele sich um ganz ausgezeichnetes Trinkwasser. Ja, dann füllen wir unsere Plastikflaschen halt auch. Die Mineralwasserindustrie macht in Kalabrien bestimmt keine guten Geschäfte. Domenico hatte uns auch schon zu einer gefassten Quelle in der Nähe unseres Häuschens geführt, wo wir Trinkwasser abfüllen könnten.

An Häusern angebrachte Teufelsmasken, die das Böse abhalten sollen.

An Häusern angebrachte Teufelsmasken, die das Böse abhalten sollen.

© Angelika Gutsche, 2006
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Die Reise
 
Details:
Aufbruch: 03.06.2005
Dauer: 3 Wochen
Heimkehr: 20.06.2005
Reiseziele: Italien
Der Autor
 
Angelika Gutsche berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
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