Im Herzen der Basilikata

Reisezeit: Juli 2004  |  von Angelika Gutsche

Erdbeben und andere Heimsuchungen:Muro Lucano

Also folgen wir weiter, durch Steineichenwälder, dem Sträßchen, das uns nach Avigliano führen soll. In den Senken und Tälern lagert auf abgeernteten Kornfeldern das zu Ballen gebundene Stroh. Dazwischen finden sich vereinzelt einfache Häuser und kleine Weiler. Erinnerungen an Almwiesen werden wach. Auf den Hügeln drehen sich die Rotorenblätter von Windrädern zur Stromerzeugung. Dann öffnen sich berückende Ausblicke auf die gewaltige Bergwelt der lukanischen Dolomiten. Wir erreichen das nette Städtchen Avigliano, stärken uns mit Panini und fragen einen älteren Passanten nach dem Weg zu unserem nächsten Ziel, Muro Lucano. Sogleich winkt er uns erfreut zur Seite und hebt an zu einem kleinen Monolog. Genau erklärt er uns, wie wir zu fahren haben, wo wir abbiegen müssen, an welche Kreuzungen wir kommen, welche Orte wir durchfahren werden und welche Abzweigungen wir keinesfalls nehmen dürften. Der gute Mann ist fertig, holt tief Luft und... fängt mit der Beschreibung von vorne an. Vielleicht haben wir ja nicht alles richtig verstanden und es ist ja wirklich sehr kompliziert, zumal für Fremde. Es sind ihm inzwischen einige Ideen gekommen, wie er seine Rede noch ausschmücken könnte, um uns auf den richtigen Weg zu bringen. Und noch bevor wir nach diesem zweiten Vortrag kundtun können, wie dankbar wir ihm sind und wir jetzt genau wüßten, wo es langgeht, holt er ein weiteres Mal tief Luft und ist schon wieder am Anfang der Wegbeschreibung. Es ist ja wirklich nicht so einfach, die richtige Straße zu finden, zumal wenn man sie noch nie gefahren ist, und es kann nicht schaden, das Ganze ein drittes Mal, mit noch einigen Zugaben, zu wiederholen. Wir bedanken uns tausendfach und werden unter Winken und einigen letzten nachgerufenen Ratschlägen entlassen. Schon aus anderen Situationen wissen wir, dass wir Zeit mitbringen müssen, wenn wir in Süditalien nach Wegen fragen.

So gebrieft finden wir natürlich auf Anhieb den Weg nach Muro Lukano. Schon von weitem sehen wir es in den Felsen kleben. Es braucht keine besondere Phantasie sich vorzustellen, wie verheerend hier ein Erdbeben gewirkt haben muss. 1694 stürzten die Kathedrale, der Bischofspalast, das Klarissenkloster, Teile des Kastells und unzählige Häuser in sich zusammen und in die Tiefe. Sechshundert Menschen starben. Ähnlich schlimme Auswirkungen hatten die Beben von 1857, 1930 und 1980. Woher nehmen Menschen den Mut und den Willen, nach all diesen Zerstörungen ihre Dörfer und Städte immer wieder aufzubauen? Die Fahrt durch den Ort führt durch engste Gassen hinauf zum Aussichtspunkt über der Stadt, zum nichtbegehbaren Kastell und zum Dom. Die Landschaft ist geprägt von Felswänden, Bergen mit schroffen Zacken und Flußtälern. All die Beben überstanden hat eine römische Brücke aus dem zweiten Jahrhundert, die eine unterhalb des Orts gelegene Schlucht überspannt.

Diese Region hatte nicht nur gegen Erdbeben zu kämpfen. Heimgesucht wurde sie auch von dem Wüten der Malaria oder der Vernichtung des Weinbaus durch die Reblaus. Armut, Unwissenheit und Gewalt durch die Natur oder durch fremde Mächte waren die ständigen Begleiter der Bewohner Lukaniens. Welche psychologischen Mechanismen machten aus den Menschen trotz aller Widrigkeiten so ein freundliches, herb-heiteres Volk? Mit tiefer Religiosität, kirchlichem Reliquienzauber und dunkelstem Geisterglauben tritt man hier der sich in allen Katastrophen offenbarenden menschlichen Hilflosigkeit entgegen. Wunderglauben wird gegen Existenzangst aufgerechnet. Wenn nicht die Heilige Madonna/Muttergottes beschützt, tut es vielleicht der Heilige Donatus oder ein des Fliegens mächtiger Priester. Und im äußersten Falle können auch Elfen, Zwerge und Geister ihren Zauber entfalten und das Unglück bannen. Auch Wut findet ihren Ausdruck, wenn auf Heiligenfiguren geschossen wird, die trotz erfüllter Gelübde, zum Beispiel des inzwischen verbotenen Sauberschleckens von Kirchenböden mit der Zunge, nicht die erwartete Hilfeleistung erbrachten. Das Auftreten von Miracolati, Menschen, an denen Wunder geschehen sind, ist keine Seltenheit und führt zu tumultartigen Szenen, während man sich mit großer Ergebenheit in sein eigenes Schicksal fügt. In der Basilikata existieren viele Wahrheiten neben-, unter- und übereinander, für Außenstehende kaum fassbar. Die ständig gegenwärtigen und unabwägbaren Schrecken der Umwelt zwingen zu außergewöhnlichen Antworten auf die letzten Fragen des Seins.

© Angelika Gutsche, 2004
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Ein Besuch in der italienischen Provinz Basilikata, um ein etwas anderes Italien kennen zu lernen.
Details:
Aufbruch: Juli 2004
Dauer: unbekannt
Heimkehr: Juli 2004
Reiseziele: Italien
Der Autor
 
Angelika Gutsche berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
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