Russlands neue Kälte

Reisezeit: November / Dezember 2006  |  von Uschi Staffa

Eine Russlanddurchquerung von West nach Ost mit der Transsibirischen Eisenbahn. 30 Tage und 18.000 Kilometer. Unter Schwarzhändlern, Militärs und Großmüttern, die ihre Enkel am anderen Ende Sibiriens besuchen. Eine Idylle und ihre Schattengesichter.

Russlands neue Kälte

Moskau. Bahnhof Jaroslav. In der Wartehalle mit mehreren hundert Menschen ist es beinahe mucksmäuschenstill. Laut wird es erst, als im Fußballspiel, das über den Bildschirm flimmert - die Bildqualität erheblich verbessert durch eine selbstgebastelte Wandantenne - ein "Beinahe-Tor" fällt. Dann erheben sich zwanzig Gestalten von ihren Bänken, jubeln laut, setzen sich wieder und sind: mucksmäuschenstill. Selten werden Russen in der Öffentlichkeit laut oder emotional. Sie lieben die Gelassenheit. Russen leben gemütlich wie Bären im Winterschlaf. Tatsächlich?
Dreißig Tage im Zug zwischen Moskau und Vladivostok, mit der Frage im Gepäck, ob die Seele der Russen das Eis politischer Unfreiheit zum Schmelzen bringen kann, sollen eine Antwort bringen.

Moskau bleckt seinen Goldzahn

Keine Lautsprecherdurchsage. Kein Pfiff. Kein Tuten. Zug "Baikal" rollt aus dem Moskauer Bahnhof. Nur die Waggontüre knallt. Schaffnerin Jelenka packt die Schaufel am Gang und schiebt Kohle in den Ofen, der den Waggon beheizt. Feucht riechen ihr Wollmantel und ihre Pelzmütze. Vor den Fenstern wechselt das Eisblau des Wintertags in das Orange-Rot des Abends. Die Eisenbahn nimmt langsam Fahrt auf. Hinaus ins Gebirge. Hinaus in die Taiga. Nach Sibirien.
Viktor, technischer Entwickler in der Atomwirtschaft lockt in der Bahnstation Vladimir, nahe Moskau, aus dem Waggon. Er winkt zum besten Aussichtspunkt, von wo aus die prunkvollen Zwiebeltürme des Goldenen Rings um Moskau zu bewundern sind. "Hier erkennst du russische Geschichte", sagt er stolz. Auf der weiteren Zugfahrt geraten hässliche Vorortslums ins touristische Bild. Schlammwege verbinden verfallene Hütten mit Müllbergen und Autogerippen. Viktors Blick streift darüber hinweg.

Zuwanderer aus der Ukraine und arbeitslose Moskauer flüchten oft an den Stadtrand. Die Kriminalität unter den Jugendlichen ist groß. In sibirischen Straflagern sitzen fünfzehnjährige Jugendliche ein. Viele von ihnen in der Region Krasnojarsk, welche zu Sowjetzeiten das Zentrum des GULAGs und eine Sperrzone für Ausländer war.
Wissenschafter Viktor zweifelt nicht daran, dass die sozialistischen Dämonen dem Land geschadet haben. "Früher wollten sie nur unsere Arbeitskraft. Heute holen wir uns zurück, was uns gehört, von denen, die uns ausgebeutet haben", sagt der Mitarbeiter des Elektrochemischen Kombinats Ural (UEIP) in Novouralsk. Er glaubt fest an den Wohlstand.
Denn heute geht es ihm besser denn je. Er kann sich eine Wohnung, ein Auto aus deutscher Wertarbeit und sogar Urlaub leisten. Wenn Viktor auf Geschäftsreisen am Moskauer Bahnhof
Jaroslav dem Zug aus Novosibirsk entsteigt, trägt ihm ein freundlicher Mitarbeiter seiner Firma den schweren Ersatzteilkoffer. Im grauen Holzkoffer liegen reparierte Kleinteile einer atomaren Rakete.
Im Samowar blubbert Heißwasser. Mühsam kämpft sich die Elektrolok die Steigung zum Uralgebirge hinauf. Draußen klirrende Kälte, die Nacht ist dunkelblau. Wenige Schlaflose wärmen sich im Waggon die Finger an heißem Tee. Dann ein Ruck, ein Bremsen, Stopp. Aufenthalt in Perm, an der Gebirgsgrenze Eurasiens, dem Ural. Kinder drängen hinaus ins Dunkel und werfen Schneebälle von Europa nach Asien. Bis an diese Berge führte die russische Bahn von Moskau aus, als 1881 Zar Alexander III. sein Amt antrat.
Ehrgeizig plante der frischgekrönte Monarch, die Strecke über Dauerfrostboden und Baikalsee bis nach Vladivostok an der Pazifikküste fortzuführen. Das Vorhaben gelang. Nicht von Zarenhand, vielmehr im Schweiß von 90.000 Arbeitern: Bauern, Soldaten, Verbannten und Sträflingen. Viel Hoffnung setzte Moskau in den Bau der Transsib: Die Ausbeutung sibirischer Kohle, ein Handel mit China, womöglich sogar die Annexion der Mongolei.

Ein Zug fährt über Dauerfrost

Der Baikalsee wurde zum größten Hindernis. Damalige Ingenieure wussten noch nicht, wie man Zugtrassen in Felsen sprengt. Mit findigen Ideen umschifften die Erbauer das Problem: Zwei englische Dampfer `Bajkal` und `Angara` transportierten Lok und Waggons ans andere Ufer des Baikalsees. Im Winter zogen Pferd und Schlitten die Passagiere über das Eis. Im Februar 1904 drängt die Zeit: Russland tritt mit Japan nach dem japanischen Angriff auf Port Arthur in den Krieg. Die Eisenbahn soll Munition und Soldaten an die Front bringen. Kurzerhand baute man Schienen über das Eis. Dutzende Züge überquerten den gefrorenen See, nur eine Lok versank. 1916 ist die Transsib endgültig fertiggestellt. Heute führen die Gleise der Baikal- und
Transbaikal-Bahn um das Südufer herum. Die Baikal- Amur - Magistrale (BAM) streift das nördliche Ufer.
Großmütterchen Anna hat stundenlang schweigend im Abteil gesessen. Nun blickt sie aus dem Fenster. "Baikali", erklingt ihre Stimme liebevoll, ihre Augen bekommen einen warmen Glanz. Die Zugstrecke berührt soeben das Südufer des Sees. In drei Tagen wird Anna ihre Enkelkinder besuchen. Sechstausend Kilometer Entfernung trennen die Familie. "Russland ist riesig, was soll ich machen?"
Kleine Schaumkronen tanzen auf den Wellen. Das Wasser des Baikalsees schimmert blau. Ein sauberes Blau. Noch besitzt der See Trinkwasserqualität. Aus vierhundert Metern Tiefe wird das Wasser gepumpt und mechanisch gefiltert. Noch werden PVC-Flaschen mit Baikalwasser befüllt und zum Preis von Mineralwasser verkauft. Noch werfen Eisfischer ihre Holzruten aus und fangen Omul, eine Lachsart, die Marktfrauen am Fischmarkt von Listvjanka verkaufen. Noch schöpfen Dorfbewohner ihr Wasser in Plastikkübeln aus dem See. Doch wenn Annas Enkel erwachsen sind, könnte dieses Paradies Erinnerung sein. Die Fabrik des Papier- und Zellulosekombinats in Baikalsk am Südufer des Sees, etwa 80

Kilometer von Irkutsk entfernt, zerstört das natürliche Gleichgewicht. Täglich pumpt das Werk Abwässer in den See. Das erzählt Tatjana, Mitarbeiterin am gewässerökologischen
Institut in Listvjanka. Das Institut betreibt ein Museum und arbeitet mit seinen Forschungen für den Naturschutz des UNESCO-Welterbes Baikalsee. Viel wird inzwischen über das Werk
Baikalsk berichtet, doch geändert hat sich wenig, klagen Naturschützer.

Bauern und Arbeiter - ewige Verlierer?

Die Fahrt nach Nordosten führt dicht an der mongolischen Grenze vorbei. Die Zugräder hüpfen über die unverschweißten Schwellen, hier wurden die Gleise auf Dämmen über dem Permafrostboden erbaut. Der Untergrund würde sonst bei Tauwetter nicht tragen. Die Taiga, dichter Birkenwald, weicht im Osten der Steppe. Nicht immer ist die Schneedecke
Sibiriens dicht geschlossen. Manchmal blitzt ein Büschel Steppengras hervor.
Schon um fünf Uhr nachmittags bricht die Winternacht herein. Ab und zu die Lichter einer Stadt, schmauchende Fabrikschlöte im Nachtschichtbetrieb, Verschiebebahnhöfe. Das gleichmäßige Tuten der Lok in der Dunkelheit.
Im Abteil riecht es nach Gekochtem und Gebackenem. Die Reisenden teilen sich Hühnerschenkel, Blini (Pfannkuchen), Pilmeni (gefüllte Teigtaschen) und Piroschki(Hefegebäck), frisch erstanden von Marktfrauen am Bahngleis. Bei Minusgraden stehen die Frauen in Daunenjacke und Schürze vor Tischen mit dampfenden Kochtöpfen und warten auf Fernzüge. Ihr fliegender Handel bringt ein wenig Geld in die Haushaltskasse.
Anfang 2006 hatte Russland den Vorsitz der G-8, der führenden Industrienationen der Welt, übernommen. Zwei Jahre später, zum Zeitpunkt der beginnenden Wirtschaftskrise, beträgt das Bruttoinlandsprodukt noch 1,3 Millionen Dollar. Die jährliche Inflation steigt. Russlands Anteil an der Weltwirtschaft erreicht mit zwei Prozent ein Fünftel Chinas und die Hälfte Indiens. Die Arbeitslosigkeit ist niedrig, erklärt das offizielle Russland zum Jahresbeginn 2009. Tatsächlich sind laut Medienberichten zu diesem Zeitpunkt fast ein Viertel mehr Russen arbeitslos als im Vorjahr.

Ein Bahnarbeiter aus Krasnojarsk, der am Bahnsteig bei zwanzig Grad Kälte die vereisten Waggonräder des Zugs nach Irkutsk kontrolliert, erzählt während der Arbeit ein wenig von sich. Schön müsse es sein, einmal aus der Stadt heraus zu kommen, deren Luft von den zahlreichen Industrieanlagen stinkt. Das Klima ist rau. Als Mitarbeiter der russischen Bahngesellschaft dürfe er kostenlos bis nach Vladivostok fahren. Was großzügig klingt, verbirgt in Wahrheit rohen Zynismus: Die Karte gilt nur für einfache Fahrt. Flug oder Bahnfahrt zurück müsste der Arbeiter selbst berappen. Monatlich etwa 14000 Rubel (400 Euro) verdient ein durchschnittlicher russischer Arbeitnehmer. Davon kann man in Russland etwa siebzig Mal Lebensmittel einkaufen. Die Bahnrückfahrt würde fast ein Zehntel des Monatslohns auffressen.
Ab Citá gibt es keine Fernverkehrsstrassen mehr. Für Fernfahrer endet die Ostverbindung nach Chabarovsk und Vladivostok 400 Kilometer nördlich von Citá bei den
Autoverladestellen, wo auf die Eisenbahn umgesattelt wird. Weiter östlich gibt es nur noch Pfade und Pisten, die im Winter vereist und holprig sind, im Sommer schlammig. Oft stürzen LKWs um. Zugpassagier Sascha hat vor einigen Wochen hier seinen Lastwagen ruiniert, erzählt er. Ein Vermögen habe es ihn gekostet, 850.000 Rubel (24.000 Euro). Für einen Moment verschwindet das Lachen aus seinem wettergegerbten Gesicht. Doch dann blitzt schon wieder der Schelm in seinen Augen auf. Er lacht, scherzt mit Reisegefährten im Abteil und ertränkt seine Sorgen für den restlichen Abend im Wodka.

Grenze zu China - top secret

Dimitrij, Offizier bei der russischen Armee, macht sich vor allem Sorgen um die Grenze zu China. Ja, Russland fühle sich bedroht, deutet er mehr mit Kopfwiegen denn mit offener Rede an. Mehr will er dazu nicht sagen.
Am Gang des Zugabteils drängen sich dicht die Menschen, die nach Ostsibirien reisen. Ihr Weg führt nach Vladivostok, Importhafen für Autos aus Japan und pazifischer Militärstützpunkt Russlands. Ob denn viele Soldaten im Osten eingezogen würden, um die Grenze zu schützen, möchte ich von Dimitrij wissen. Einsilbig antwortet er: "Njät (Nein)!" und sieht aus dem Fenster. Neugierig strecke ich den Kopf aus dem Abteil. Im Gang der Eisenbahn wimmelt es von Männern in Militäruniformen. Das russische Schweigen gibt zunehmend Rätsel auf.
Die Endstation der Transsib liegt direkt am militärischen Pazifikhafen. Vladivostok bedeutet "Beherrsche den Osten". Die 1860 gegründete Stadt nimmt diesen Auftrag sehr ernst. Kriegsschiffe liegen vor Anker.
In den Wartehallen des Bahnhofs sitzen Menschen vor ihren blau-rot karierten Plastiktaschen, plaudern, rauchen, mustern die Stuckdecke des Bahnhofsgebäudes. Man hält sie für gewöhnliche Reisende. Doch die Besucher der Stadt fechten einen zivilen Überlebenskampf. Je näher zu China, desto zahlreicher werden die Schwarzhändler. Russen aus allen Teilen des Landes karren Billigimporte und gefälschte Markenartikel von Ost nach West, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Die Regelzüge der Transsib sind die Züge der materiellen Gewinner und Verlierer, wie schon zu Zeiten der Sowjetmacht. Die Züge der Bürokraten und der Vertreter eines allgegenwärtigen Sicherheitsapparats. Der Trittbrettfahrer des neuen Mittelstands. Der Handelsreisenden, die den russischen Schwarzmarkt füttern. Sie sind die Züge der Soldaten einer maroden Armee. Es sind aber auch die Züge ganz gewöhnlicher Menschen, die ihr Glück suchen.
Als die Lok der transsibirischen Eisenbahn nach 18.000 Kilometern und dreißig Tagen wieder am Kopfgleis des Moskauer Bahnhofs einrollt, flimmert kein Fußballspiel über den
Wandbildschirm. Das Sportereignis ist vorüber. Menschen hasten umher. Taxis hupen. Straßenverkäufer preisen ihre Waren.
Irgendjemand trägt einen Koffer weg. Darin noch immer verpackt schlummert die Frage, ob die Seele der Russen die neue politische Eiszeit im Land zum Schmelzen bringen kann.

© Uschi Staffa, 2009
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Die Reise
 
Details:
Aufbruch: 14.11.2006
Dauer: 4 Wochen
Heimkehr: 14.12.2006
Reiseziele: Russland / Russische Föderation
Der Autor
 
Uschi Staffa berichtet seit 15 Jahren auf umdiewelt.