Heilige Kühe und GoGo-Girls

Reisezeit: Januar - Juli 2004  |  von Ralf Knochner

delhi - willkommen im chaos: das andere indien

wenn man indien so erlebt, wie gerade beschrieben, dann vergisst oder übersieht man oft, dass nicht die armut indien ausmacht, denn neben vielem anderen sind es vor allem die extreme. ich hatte die gelegenheit, dem anderen extrem ein wenig naeher zu kommen.

prasoon kumar ist softwareingenieur, also einer der berühmt-berüchtigten computerinder. er arbeitet jetzt in delhi, hat aber bis vor einem jahr für sechs jahre in den usa gearbeitet. kennengelernt habe ich prasoon über www.hospitalityclub.org: Hier bieten sich wildfremde menschen, über die ganze welt verteilt, übernachtungsplätze und - regional begrenzt - auch hilfe an. nach einigen telefonaten hat es dann auch geklappt, er holt mich mit seinem auto, einem winzigen suzuki maruti, um 21.30 uhr am vereinbarten punkt ab.
zuerst fahren wir nach noida, um ein befreundetes pärchen, das mit im auto sitzt, dort abzuliefern. noida ist eine neuere satellitenstadt unweit von delhi, sozusagen eine einfamilien- oder reihenhausgegend, nur dass hier die häuser zweistöckig und 100 Meter lang sind. noida wurde am reisbrett geplant und besteht mittlerweile aus fast 50 rechteckigen sektoren.
das pärchen - übrigens sikhs aus dem punjab - wohnt im erdgeschoss. meine bitte, mir die wohnung ansehen zu dürfen, wird erfüllt, und so komme ich erstmals dazu, die wohnung eines indischen mittelklasse-ehepaares bestaunen zu dürfen:
ca. 50 qm, alles im typisch-kräftigen babyblau gestrichen, mit neonröhren an der wand - sehen furchtbar aus, aber sparen strom. so gut wie keine möbel und in zwei räumen liegen doppelmatratzen auf dem boden, die kleider in haufen darauf verstreut, schränke gibt es nicht. aber es gibt gefiltertes wasser, fernseher, stereoanlage und sogar eine mikrowelle. nachdem ich das gesehen habe, frage ich mich ernsthaft, wie es diese inder im allgemeinen schaffen, immer wie aus dem ei gepellt auszusehen..., fantastische leistung!

ich will nicht lange stören, und so machen sich prasoon, sein freund und ich auf den weg in die nacht.
nach langer, langer fahrt - sogar eine mautstraße war dabei - halten wir am ersten multiplexkino delhi's. westlicher standard, schnellrestaurants (u.a. auch einer von mittlerweile über 20 mcdonalds in delhi) und hauptsächlich junge, westlich-orientierte inder.
wir fahren gleich weiter zu einem lokal am straßenrand und essen um 01.30 uhr in der nacht ein üppiges mahl, während sich dreißig meter von uns entfernt der allnächtliche stau nach delhi quält. ich werde eingeladen. nachdem mir prasoon gesagt hat, was er verdient, habe ich auch keine skrupel mehr:
100.000 rupien im monat, das sind ca. 1900 euro... (in indien kann man davon ca. 35 prozent an steuern und altersvorsorge abziehen). ein irrsinnsverdienst, wenn man bedenkt, dass ihn seine wohnung um die 4000 rupien kostet und dieses essen für drei Personen ca. 300 rupien. auch sein freund verdient als eine art bauingenieur 25.000 rupien, die frau arbeitet auch. der durchschnittsverdienst eines indischen angestellten dürfte bei ca. 5000-7000 rupien liegen, der eines rikschafahrers bei ca. 2000 rupien. soviel verdienen auch die boys in meinem hotel: dafür arbeiten sie immer sechs stunden, machen dann sechs stunden pause, usw. ... jeden tag, das ganze jahr.

aber prasoon und sein freund gehören nicht zur oberschicht, sondern - wie bereits erwähnt - zur mittelschicht. das merke ich eine halbe stunde autofahrt später: vorbei an einem supermarkt und riesigen bürokomplexen (ibm-callcenter, ericsson-callcenter, usw.) geht es zu den neuen großen shoppingmalls (einkaufscentern). alles vom feinsten: teure läden, wachpersonal und discos. in den discos tobt sich die reiche jugend aus. gestylte klamotten aus dem ausland, schminke, styling und der versuch, so cool wie möglich den reichtum der eltern zu präsentieren - also genauso bescheuert wie bei uns. 500 rupien sollte der eintritt in die disco kosten, das war uns allen drei zuviel, zumal am wochenende pärchen bevorzugt werden.

die centerstage mall in noida

die centerstage mall in noida

im stockwerk unter der disco arbeiten frauen und männer am ausbau eines geschäftes: ärmlichst gekleidet tragen sie die ziegelsteine auf dem kopf rein und raus. tagsüber schlafen sie vermutlich hinter dem gebäude mit einer decke auf dem blanken boden. außer einem fremden wie mir fällt dieser extreme unterschied vermutlich niemandem auf - und wenn, dann sicherlich auch nicht zur last. schlimm, aber ich glaube, in einigen wochen wird es mir schon ähnlich gehen - man kann ja so manches verdrängen oder es sich zurechtreden.

also zurück nach noida, und endlich sehe ich eine der blonden touristinnen, die sich in diesem Viertel öfter verirren und die zu sehen mir prasoon im scherz versprochen hat... leider liegt sie am boden vor einem parkenden auto und hat offenkundig einen anfall. ich tippe auf drogen oder epilepsie, wir können nicht helfen und der krankenwagen fährt bereits um die ecke, also machen wir uns auf den langen weg nach hause.
noch ein kurzer stopp in noida für den sikh, und dann doch noch zu prasoons wohnung. der wachmann öffnet das tor zur wohnanlage und ich denke, jetzt sehe ich eine fast westliche wohnung, doch das war wohl nichts: die wohnung ist, wie oben beschrieben, aber mit noch weniger möbeln. dieser nette mensch verdient einen haufen kohle, aber es scheint nicht viel zu geben, was es zu kaufen lohnt - oder die wohnung hat einfach nicht denselben stellenwert wie bei uns. später erfahre ich, dass inder ja im allgemeinen so lange arbeiten, dass sie eigentlich nur zum schlafen in der wohnung sind; zudem sind sie beruflich eingentlich ständig auf abruf.
das angebot, die nächsten tage bei prasoon zu schlafen, schlage ich aus und er scheint ein wenig enttäuscht, vielleicht sogar beleidigt zu sein, aber seine wohnung ist einfach zu weit weg vom geschehen. prasoon bringt mich über menschenleere straßen nach hause ins hotel. es ist 03.30 uhr als wir den armen boy rausklingeln, und ich falle erledigt ins bett.

mona dutta, die ich über hospitalityclub.org kennengelernt habe.

mona dutta, die ich über hospitalityclub.org kennengelernt habe.

mona dutta, personalreferentin in einer softwarefirma, lerne ich ein paar tage später ebenfalls über hospitalityclub.org kennen. wir treffen uns in noida in einer neuen shoppingmall und gehen gemeinsam in das neuerrichtete kino. "herr der ringe III" in super-bequemen sesseln (mit wippmechanismus), natürlich klimatisiert. sie ist nett, wir unterhalten uns anschließend noch zwei stunden in einem café und stellen einige gemeinsamkeiten fest. natürlich verdient auch sie entsprechend und träumt wie die meisten inder vom ausland, der eigenen firma und danach auch von ehemann und kindern (in dieser reihenfolge ist dies für indien eher ungewöhnlich). auch sie unterstützt mit ihrem gehalt eine mehrköpfige familie - und familien sind groß in indien.
nach diesem angenehmen nachmittag und frühen abend fahre ich mit der autorikscha (ein dreirädriges, offenes taxi) richtung "billig-touristenviertel". eine stunde dauert die fahrt, der fahrer hat keinen blassen schimmer, wo der zielort ist, und als wir schlussendlich ankommen, bin ich mir sicher, mich zusätzlich erkältet zu haben. zusätzlich..., ja leider, aber davon mehr beim nächsten mal.

© Ralf Knochner, 2004
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Die Reise
 
Worum geht's?:
. := Auf einer Enfield Bullet durch den Norden Indiens := . . Den zweiten Teil der Reise findet ihr in der Rubrik Südostasien/Laos unter "Dauerlächeln und Bombenstimmung - der Fortsetzungsroman in Südostasien". Bis jetzt ist erst der Teil über Laos fertig, Kambodscha folgt noch.
Details:
Aufbruch: Januar 2004
Dauer: 6 Monate
Heimkehr: 18.07.2004
Reiseziele: Indien
Jaipur
Udaipur
Jaisalmer
Leh
Der Autor
 
Ralf Knochner berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
Reiseberichte von Ralf sind von der umdiewelt-Redaktion als besonders lesenswert ausgezeichnet worden!
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