Thailand - Malaysia - Singapur - Indonesien. Ein Reisebericht von 1989

Reisezeit: Juli / August 1989  |  von Peter Kiefer

Langhaus/Tag 12: Oben-ohne-Omis

Auch heute sind wir früh auf den Beinen. Angeblich besteht die Möglichkeit auf einem Transportfahrzeug zu einem der Langhäuser zu fahren. In einem Kramladen in der Nähe des Bootsanlegeplatzes erzählen uns die Besitzer, dass der Fahrer der Sohn des Häuptlings sei. Das Haus liege flussabwärts, also in Richtung Sibu. Aber es ist immer besser sich mehrere Optionen offen zu halten. Deshalb gehe ich zur Anlegestelle und frage, ob uns einer mitnimmt, der weiter flussaufwärts schippert. Ich habe sofort Erfolg, es ist ein kleiner Frachter, der um elf ablegen will. Weil bis dahin noch Zeit zur Verfügung steht, folgt zunächst in aller Ausführlichkeit die tägliche Frühstückssuppe.
Als wir danach mit unserem Gepäck am Steg auftauchen, ist der Frachter aber nicht mehr da. Oder sagen wir ehrlicherweise, ich kann die dort liegenden Kähne nicht mehr so genau voneinander unterscheiden und weiß daher nicht, wen ich vorhin angesprochen habe. Ich versuch's mit dem nächsten besten, auch mit dem klappt es auf Anhieb und eine Viertelstunde später sind wir damit bereits unterwegs.
Es erfordert einiges Geschick, vor allem eine gute Kenntnis des Rejang-Flusses, um so ein, wenn auch kleines, Schiff zwischen all den Sandbänken und Stromschnellen hindurchzusteuern. Wir sind in einer Region unterwegs, in der der Tropenwald in großem Stil abgeholzt wird. Inseln aus Baumstämmen treiben den Fluss hinab; gelenkt werden sie von Männern, die in Einbaumbooten hocken und riesige Pilzhüte auf dem Kopf tragen. Manchmal tauchen an den Ufern kleine Sägewerke auf.
In einen Seitenarm des Rejang biegt man ein, in den Batang Baleh, und wir beschließen nach kurzer Zeit und ganz willkürlich "beim nächsten Langhaus" abgesetzt werden zu wollen. Kaum dass wir kurz darauf mit unserem Gepäck knietief im Wasser stehen und das Boot schon wieder zur Flussmitte hin abgedreht hat, bereue ich unseren Entschluss ein wenig. Durch das Geäst der Bäume erkennt man nämlich, dass es sich um eins der neueren Häuser handelt (die bis zu diesem Punkt der Flussfahrt freilich in der Mehrzahl gewesen sind).

Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr. Kinder kommen schon zum Ufer gelaufen. Sie sind uns dabei behilflich die Rucksäcke trocken ans Land zu schaffen. Frauen in Sarongs stehen auf einer kleinen Anhöhe und blicken uns neugierig entgegen. Wir sprechen sie an, aber niemand scheint des Englischen mächtig zu sein.
Was sollen wir tun? Wir setzen uns auf die Erde und lächeln. Fünf Minuten später sitzen die Langhausbewohner in größerer Zahl um uns herum - und lächeln ebenfalls. Auf Dauer ist diese Art der Kommunikation ein wenig unbefriedigend. Karin hat eine Idee, sie nimmt ihren Rucksack, schüttet ihn auf den Boden aus, packt dann den Inhalt der Reihe nach wieder ein und nennt zu jedem Gegenstand dessen Namen. Alle haben jetzt Einblick in unser Reiseinnerstes, unsere reine Touristenseele und so peu à peu klappt es dann auch mit den Worten. Einige der Kinder wagen sich nämlich mit ihren Englischkenntnissen hervor, sie lernen die Sprache in einer nahe gelegenen Missionsschule.
Bereits wenige Stunden später - es ist Mittagszeit - sitze ich unter dem Vordach des Langhauses und schreibe in diesem Tagebuch. Das Dorfleben hat inzwischen wieder zu seinem alten Rhythmus gefunden. Karin hält sich im Inneren des Hauses auf, sie unterhält sich mit ein paar Frauen, einige Male tönt lautes Gelächter nach draußen. Der Rauch von schwelendem Sägemehl zieht mir unangenehm in die Nase, aber er vertreibt die Mücken. Aus einer Hängematte linst S. zu mir herüber, dessen eine Pupille fast weiß ist und der zu den Jungs gehört, die ständig um uns herum sind, ein, wenn's hoch kommt, Vierzehnjähriger.

Er, genau wie die anderen dieser Jungen, war zuvor bei unserer Ankunft sofort in Bewegung geraten: Man hatte uns von hier nach da gelotst, überall mussten wir Speisen und Früchte kosten, alle waren auf unsere Reaktionen gespannt. Mittlerweile bringt man uns bereits Iban-Wörter bei, "Katze" habe ich am besten behalten: meiau.
Kapit, der Name der Stadt, ist ein weiteres wichtiges Wort. Kapit ist der erste Anlaufpunkt eines anderen und für viele verlockenden Lebens, Kapit steht für "modern". Dieses Leben kann man im Fernsehen sehen, TV-Geräte nämlich existieren im Langhaus, Kühlschränke dagegen nicht.
Das Haus ist im Inneren traditionell in geräumige bileks aufgeteilt, in die Wohn- und Schlafräume der einzelnen Familien. Verlängert werden sie durch eine Außenveranda, die eine Art Eingangslobby überdacht und so etwas wie eine Dorfstraße ist. Man betritt das Haus ohne Schuhe und man tut es gerne, denn der Lehmboden ist sehr angenehm für die Fußsohlen.
Die bileks, soweit wir sie zu Gesicht bekommen, unterscheiden sich in ihrer Einrichtung voneinander, soziale Rangstufen sind erkennbar. Längst herrscht hier kein "Urkommunismus" mehr, wohl eher eine Art Mischwirtschaft, wobei ein Teil (der, ich nehme an, größere) privat, ein anderer kollektiv ist. Mit der Kleidung verhält es sich wie in den meisten von der Coca-Cola-Welt schon überrollten Gegenden: Die Männer laufen in abgetragenen und zerschlissenen Allerweltsklamotten herum (die Seitenstreifen auf Hose und T-Shirt sind das so zu sagen internationale Erkennungszeichen), die Frauen pflegen noch ihre angestammte Kleidung, hier ist es der Sarong. Ihre nackte Brust zeigen nur noch die Alten. Als ich jedoch eine von ihnen beim Korbflechten fotografieren möchte, zieht sie sich rasch ein Tuch über.

Die Großvätergeneration hat großflächige Tätowierungen. Verglichen mit den Tätowierungen der Enkel wie etwa S., lässt sich der radikale Moralwandel, der hier im Urwald im Gange ist, am eindrücklichsten studieren. Die genannten Jungs haben sich nämlich Bikinimädchen eintätowiert und demonstrieren mit ihrer neuen Bilderwelt eine wahrhaft seltsame Um- und Wiederkehr des Fleischlichen.
Oder was hat das Foto einer europäischen Punkband hier zu suchen? Fast möchte man hoffen, dass es aus ähnlichen Gründen da hängt, wie man sich bei uns vielleicht ein Poster mit Dschungelmotiven aufhängt: Auch "Exoten" haben exotische Träume.
Unsere Schlafsäcke sollen wir auf dem Boden im bilek unserer Gastgeberfamilie ausbreiten. Da liegen Strohmatten. Aber wir sind Besseres gewöhnt, denkt man zumindest, und rollt deshalb eine Plastikplane für uns aus. Durch einen sanften Einwand können wir's verhindern. Aber dann hat jemand eine bessere Idee. Jede Wohneinheit verfügt nämlich über einen geräumigen Dachboden, und man bittet uns jetzt zusammen mit dem Rest der Familie ebenfalls dort zu nächtigen. Die Schlafsäcke, die wir aus ihren kleinen Behältnissen ziehen, erregen (wie zuvor schon auf dem Schiff) großes Aufsehen. Nicht nur, weil sich ihre Füllung so ungeahnt aufplustert, sondern vor allem wegen ihres Materials, das sich in Iban-Händen so seltsam anfühlt.
Natürlich nervt es ein wenig, wenn jede Bewegung unablässig von Dutzenden Augenpaaren verfolgt und halb flüsternd, halb kichernd kommentiert wird. Dennoch drängt keiner sich auf unangenehme Weise auf, ein Abstand bleibt stets gewahrt. Das Umlagertwerden hat seine eigene Ordnung. Die Frauen bilden einen geschlossenen Knäuel, ebenso die Kinder, während die Männer sich ein größeres Stück entfernt halten und im Raum verteilen.

Es ist die Familie eines Fischers, die uns bei sich untergebracht hat und verköstigt. Wir hatten übrigens die freie Auswahl, denn alle bemühen sich um uns, bewirten uns und am Ende des Tages werden wir bei fünf verschiedenen Familien zu Gast gewesen sein. Der Häuptling ist leider nicht anwesend, nur seine Frau, die uns mit dem Anblick ihres vollen Busens beschenkt. Das Häuptlings-bilek präsentiert sich am Eingang mit einem besonderen Rautenomament. Bei (gar nicht viel) näherer Betrachtung erweist sich dieser Schmuck als ein irgendwo aufgelesenes Fertigbauteil. Auch der Eintrag ins Gästebuch - es sieht aus wie in manchen der billigen Hotels, in denen wir nächtigen - ist sicher ein Tribut an städtische Gepflogenheiten.
S. will uns sein im Fluss ausgelegtes Fischernetz zeigen, in erster Linie wohl das Motorboot, mit dem er herumkurven darf. Styroporbrocken sind an diesem Netz befestigt, damit es von den vorbeituckernden Booten gesehen wird. Es hat sich heute noch kein Fisch darin verfangen. Weil sich aber gerade eine Gelegenheit bietet, kaufen wir bei einem anderen Fischer etwas ein, einen ellenlangen Burschen, er selbst dann noch kräftig zappelt, als er wenig später in der Pfanne landet. Natürlich nimmt die ganze Familie an diesem Mahl teil, Omelett und Reis werden dazu angerichtet.
Am Abend kostet es einiges an Überredungskunst, nicht wieder mehrfach bewirtet zu werden. Wir kommen mit einem jungen Mann ins Gespräch, der ganz am Ende des Langhauses wohnt und erstaunlich gut Englisch spricht. Aber dieses räumliche Ende ist auch ein Hinweis auf die soziale Wertschätzung, die er im Langhaus hat. Er macht Gelegenheitsjobs, zumeist in einem der Holzfällercamps entlang des Flusses. Das sei, sagt er, eine gefährliche Arbeit, viele würden von umstürzenden Bäumen erschlagen. Er und seine Frau sind, weil sie außerhalb der Dorfgemeinschaft ihre Arbeit verrichten, "westlicher" eingestellt, in gewisser Weise sind sie Außenseiter.

Von dem Mann erfahren wir, dass das alte Langhaus noch existiert, dass man es aber vor zwei Jahren habe aufgeben müssen, weil es zu klein geworden sei. Ein wenig verwundert bin ich, als ich höre, dass die Langhäusler sich zum Christentum bekennen. Nur die Älteren, räumt der Holzfäller auf Nachfragen ein, hingen noch ihrer Naturreligion an. Ich frage daraufhin auch andere und erhalte zu diesem Thema einige undeutliche und widersprüchliche Antworten. Sicher ist nur, dass das von christlichen Missionaren beherrschte Schulwesen gerade an solchen Orten seine gravierenden Spuren hinterlässt.
Als die Schlafenszeit näher rückt, sind wir etwas müde vom vielen Angestarrtwerden, verkriechen uns in die Schlafsäcke und hoffen, dass wir das allgemeine Interesse für den heutigen Tag befriedigt haben. Aber wir kommen doch gerade erst zum gemütlichen Teil, mögen die erwartungsfrohen Menschen denken und fordern uns auf, ihnen etwas vorzutanzen. Wir kämen gerne drum herum, aber was hilft's, wir müssen uns erheben.
Wir summen eine Melodie und tanzen Wiener Walzer vor. Beifall und Gejohle. Nun wollen wir natürlich auch einen Iban-Tanz sehen. Eine Musik, die das unterstützen könnte, tönt die ganze Zeit schon aus einem Kassettenrekorder. Wer nun aber glaubt, dass jetzt ein kleiner Damm brechen würde, irrt. Stattdessen kehrt die Schüchternheit wieder zurück. Vielleicht ist das Tanzen ja den rituellen Handlungen vorbehalten, aber darauf kommen wir im Augenblick nicht, wir drängen weiter. Verlegenheitswitze werden gerissen. Schließlich erhebt sich doch jemand, ein geistig etwas zurückgebliebenes Mädchen, das von den anderen nach vorn geschoben wird. Sie nimmt die bekannte, leicht zur Seite gebückte Haltung ein, streckt die Arme aus und vollführt damit wellenartige Bewegungen. Nach nicht einmal zwei Minuten ist sie aber derart von Scham überwältigt, dass sie sich wieder zwischen den anderen verkriecht.
Und schon legt jemand, als sei dies ein Zeichen gewesen, eine neue Kassette ein, Diskomusik. Wir protestieren, mit Erfolg, und wir schieben nun den Jungen, der bisher am hartnäckigsten auf uns eingeredet hat, dazu an seinerseits etwas zu zeigen. Er macht seine Sache nicht schlecht, simuliert Kampfbewegungen. Aber auch er hält nicht lange durch.
Der Damm ist freilich schon in eine andere Richtung gebrochen und es ist die Diskomusik, die die Oberhand behält. Man zieht uns in die Höhe, damit wir uns am Finale grande beteiligen, bei dem alle im Takt dieser Musik wippen. Disko also ist der Höhepunkt einer Begegnung zwischen zwei Travellern und einem Iban-Dorf. Dann spricht der Patron ein kurzes Machtwort, die Musik wird wieder weggepackt und alle, soweit sie nicht zur Familie gehören, gehen in ihre eigenen bileks zurück. Der Rest, streng nach Alter und Geschlecht sortiert, legt sich nun zum Schlafen. Zwei Öllampen blaken und Räucherkerzen glimmen, um die Moskitos fern zu halten. In der Nachbarwohnung dröhnt noch ein Fernseher, aber nicht mehr lange.

Hinterm Horizont liegen die Langhäuser.

Hinterm Horizont liegen die Langhäuser.

© Peter Kiefer, 2005
Du bist hier : Startseite Asien Malaysia Langhaus/Tag 12: Oben-ohne-Omis
Die Reise
 
Worum geht's?:
Die Reise des Jahres 1989 ist ein wenig lückenhaft dokumentiert. Erstens streikte mein Fotoapparat zeitweilig, zum anderen hat der Atem des Tagebuchs nur etwa vier Wochen gereicht. Dennoch erfährt man einiges: die Begegnung mit einer Dorfgemeinschaft der Iban in einem Langhaus auf Sarawak, ebenso die mit einem javanesischen Sultan oder auch Einzelheiten einer Verbrennungszeremonie in einem balinesischen Dorf.
Details:
Aufbruch: Juli 1989
Dauer: circa 5 Wochen
Heimkehr: August 1989
Reiseziele: Thailand
Malaysia
Singapur
Indonesien
Der Autor
 
Peter Kiefer berichtet seit 19 Jahren auf umdiewelt.
Bild des Autors