Kolumbien? Warum eigentlich nicht - Liegt ja auf dem Weg...

Reisezeit: Dezember 2010 - Januar 2011  |  von Birgit Sattler

Weihnachten bei den Staffelbachs

24.12.2010
Ich freue mich, denn heute heisst es wieder, ab nach Guasca auf die Finca. Mittlerweile habe ich mich damit abgefunden, dass ich wohl etwas schwer von Begriff bin, was die Tagesplanungen angeht. Ich dachte unsere fruehe Abfahrt aus Bogotà haengt nicht nur mit dem Verkehr zusammen, sondern auch mit einem Ausritt. Doch weitgefehlt. Am fruehen Nachmittag verstehe ich, dass wir zu den Staffelbachs fahren, ein Franzoesisch-Kolumbianisches Paar, mit dem wir zu "Mittagessen" wollen. Wir packen also ein Faesschen Bismarck und machen uns auf den Weg. Wir kommen zur der kleinen Finca, die mir auf dem Weg nach Guasca schon aufgefallen ist. Ihre rustikale Bauweise erinnert etwas an schweizer Berghuetten. Mit den zwei Kuehen, zahlreichen Ziegen und einem imposanten Ziegenbock ist zu erkennen, dass hier europaeische Haende mit im Spiel sind. Wen wir wohl kennenlernen werden?

Wir werden von Gilbert empfangen.

Gilbert ist offensichtlich Europaeer. Ich schaetze ihn auf Mitte 50 bis Anfang 60. Er ist gross, weisshaarig und in seinem einfachen Kleidungsstil mit Gummiklogs und Schuerze ist er mir auf Anhieb sympathisch.
Ich beobachte eine herzliche und aufrichtige Begruessung zwischen ihm und meinem Onkel. Kurze Zeit darauf springen Gilberts Toechter (20 +16) Erwein um den Hals und die Wiedersehensfreude will keinen Abbruch nehmen. Woher kommt diese Innigkeit? Gastfreundschaft unter "Auslaendern" oder ein langerwartetes Wiedersehen?

Pedro und ich machen die Runde und stellen uns allen der Reihe nach vor. Auch hier duerfen wir feststellen, dass man von unserer Reise wusste und uns erwartete. Wir lernen auch Gilberts Frau und seinen Sohn kennen. Spaeter sollte dann noch die Schwiegermutter und weitere Freunde der Familien unseren Bekanntenkreis erweitern. Wir machen es uns vor dem Restaurant der Staffelbachs "La petite Alsace" unter einem Sonnenschirm gemuetlich. Diosa und Marie wusseln in der Zwischenzeit im Inneren der Gourmetstube umher, damit jeder schnell ein Glas kuehles Bismarck zu trinken bekommt. Wir geniessen die warmen Sonnenstrahlen an Heiligabend und lassen den Herrgott einen guten Mann sein. Die Staffelbachmaedels, Diosa und Marie sitzen auf der Terrasse des kleines Restaurant als Gilbert kleine Tellerchen mit etwas Baguette und Kaese reicht. Selbstgemachter Parmesano - lecker! Ich erfahre, dass die Staffelbachs mit ihrer selbsterzeugten Ziegen- und Kuhmilch verschiedene Kaesesorten herstellen und vertreiben. Es folgen weitere gemischte Kaeseplatten aus dem Sortiment. Ergaenzt mit Schinken vom Schweizer Metzger nahe Guasca, frischen Fresas (Erdbeeren) und so weiter. Bis zum Hauptgericht werde ich keinen Hunger mehr haben, so befuerchte ich.

Waehrend wir uns ueber die gereichten Haeppchen hermachen und Gilbert wieder in der Kueche verschwunden ist, fuehle ich meinem Tìo etwas auf den Zahn. Ich will wissen, wie diese Freundschaft zwischen den Sattlers und den Staffelbachs zustande kam. Spaeter sollte ich durch Pedro erfahren, wie sehr mir waehrend Erweins folgenden Schilderungen die Gesichtszuege entgleisten....

Gilbert ist ein ehemaliger franzoesischer Fremdenlegionaer. Er lebt bereits laenger als Erwein in Kolumbien. Wie und warum es ihn nach Kolumbien verschlug erfahre ich nicht. Er war Inhaber einer gutfunktionierenden Glasfabrik. Bis die Guerilla kam. Die Guerilla verfuegt(e) ueber sehr gute Kontakte in die hiesigen Finanzaemter. Sie wusste ueber saemtliche Vermoegensgegenstaende aller Bewohner bescheid. Es war ueblich, dass gezielt Personen bedroht wurden. Diese "Opfer" hatten nun die Moeglichkeit sich meist mit der Haelfte ihres Vermoegens einen Freibrief zu erkaufen, oder aber sie wurden entfuehrt und deren Familien erpresst. So geschah es auch mit Gilbert mit dem Unterschied, dass ihm die Moeglichkeit eines Freibriefes nach meinem Kenntnisstand nicht angebot, sondern er gleich entfuehrt und in die Berge verschleppt wurde.

Das geschah etwa um 2003/2004...

Was ihm genau waehrend dieser Gefangenschaft zugefuegt wurde, darueber sprach Gilbert nie. Aber er erzaehlte Erwein von der Erpressung. Gilbert war also ein mittelstaendischer Unternehmer einer Glasfabrik. Die von der Guerilla geforderten Loesegelder flossen. Doch diese Banditen forderten immer mehr Geld. Das ging an die Substanz der Fabrik. Als die Banken spitz bekamen, dass Gilbert entfuehrt wurde, forderten sie alle Kredite sofort zurueck und sperrten alle Konten. Die Entfuehrung dauerte 5-8 Monate und Gilberts Familie musste alles verkaufen was sie besassen einschliesslich der Fabrik, um Gilberts Leben zu retten. Die Staffelbachs verloren alles.

Die Familie begann bei Null. Sie mieteten eine kleine alte Finca in Guasca und versuchten sich mit selbstgemachtem Kaese ueber Wasser zu halten. Eines Tages als Erwein und Diosa wie ueblich am Wochenende raus auf ihre Finca fuhren, entdeckte Erwein das bekannte Gesicht seines Freundes am Strassenrand. Erst jetzt erfuhr er, welches Schicksal die Familie durchleiden musste. Erwein begann die Staffelbachs bei der Kaeseherstellung zu unterstuetzen. Er entwickelte mit Gilbert diverse Kaeserezepte und stattete dessen Kaeserei nach und nach mit Edelstahl aus. Noch heute ist Gilbert die Meinung meines Onkels bei der Kreation eines neuen Kaese wichtig. Durch unermuetlichen Fleiss konnten sich die Staffelbachs die derzeitige Finca mieten. Sie eroeffneten dort ihr Restaurant, dass vorallem bei den Bogotànos am Wochenende sehr beliebt ist. Selbst hohe Generaele und Minister sind hier anzufinden. Unter der Woche wird weiterhin gekaest und Kunden in der Stadt beliefert.

Vom einst wohlhabenden Unternehmer, zum um drei Uhr morgens Ziegen melkenden Kaeser und Kleingastronom.
Zurueck gekaempft ins Leben fuer sich und seine Familie.
Es waere nur allzu verstaendlich, wenn eine Familie diesem Land den Ruecken zu kehren wuerde...

Diese Geschichte steckt mir in den Knochen. Ich bin baff. Ich bemerke nicht wie seit bestimmt 20 Minuten ein und das selbe Stueck Brot in den Finger halte und Claudio, der Gockel mit seinen Huehner um mich herum Patrollie laeuft. Mir wird klar, dass es sich hier um mehr als nur eine Freundschaft zwischen zwei Familien handelt. Es schliesst sich mir ein Kreis.

Kaum von meiner Schockstarre befreit halte ich bereits ein neues Tellerchen mit der glaube ich dritten Vorspeise in der Hand. Gebratene Scampi in Butter, Knoblauch mit Champion und was weiss ich noch alles. Fantastisch! Nun ist es amtlich - ich bin Oberkante Unterlippe satt. Mittlerweile ist auch Armin angekommen. Er musste heute noch arbeiten und ist vom Chaos der Hauptstadt sichtlich genervt. Doch Scampi und Bismarck lassen auch ihn den Alltag schnell vergessen. Zum Hauptgericht gibt es Kasseler mit gebackenem Kartoffelpueree. Was fuer ein Jammer, dass noch kein temporaer erweiterbarer Magen erfunden wurde.

Nach weiteren geselligen Stunden am Kamin bei Nachtisch, Bier und Aguardiente machen wir uns auf den Nachhauseweg. Auf der Finca angekommen folgt die "Bescherung" und wer koennte es nicht erahnen reichlich Bismarck. Pedro spricht an diesem Abend fliessen Spanisch. Er behauptet die Sprache ist Inhaltstoff des Bieres. Leider er nun dem Deutschen und auch seiner Muttersprache nicht mehr maechtig. Zu meiner Ueberraschung schwingt er sogar noch mit Diosa das Tanzbein. Lange geht das nicht mehr gut denke ich, schon liegt Pedro auf der Couch und ist im selben Augenblick bereits eingeschlafen.

© Birgit Sattler, 2010
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Was glaube ich zu wissen was mich auf dieser Reise erwartet? Einen genauen Plan gibt es nicht, aber eines steht bereits fest - auch diese Reise wird mich wieder auf die eine oder andere Weise veränderen. In wie weit? - Wir werden sehen. Ich bin gespannt.
Details:
Aufbruch: 16.12.2010
Dauer: 4 Wochen
Heimkehr: 13.01.2011
Reiseziele: Kolumbien
Der Autor
 
Birgit Sattler berichtet seit 13 Jahren auf umdiewelt.
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