Bolivien - über alle Berge

Reisezeit: Dezember 2003 - Januar 2004  |  von Robert Rauch

Nächtlicher Gewaltmarsch nach Chussi

Frau Yanaguaya bekocht uns wie eine Mutter, ganz offensichtlich hat sie große Freude an unserem unersättlichen Hunger. Beiläufig erwähnt sie, daß ihr der Sohn doch recht fehlt, er ist bereits zwei Monate fort. Sie muß sehr einsam sein.

Um 21 Uhr verabschiede ich mich von Juan-Carlos und Braulio, die auf Kattuaya zurückbleiben werden und krieche mit Paolino ins Einmannzelt, um schnell noch ein bißchen zu schlafen. Um 23.30 Uhr reißt mich der Wecker hoch, momentan weiß ich nicht, wo ich bin, ich habe geträumt. Die Habseligkeiten sind schnell verpackt, zu Frühstücken brauchen wir nicht, weil wir erst vor zweieinhalb Stunden zu Abend gegessen haben. Wir betrachten den vollgesichtigen Mond, der silbriges Licht auf die Bananenpflanzung gießt. Nachtwind lebt auf und eine Prozession weißer Wolken, schnell wie große, schneeweiße Vögel, verdunkeln bald das Gesicht des Mondes, bald lassen sie ihn zauberhaft hell erscheinen. Die schnell dahinziehenden Wolken erwecken den Eindruck, als würde der Mond selbst über die Baumkronen gleiten. "Laß uns gehen!", mahne ich Paolino zur Eile, wir setzen uns in Bewegung.

Zunächst steckt mir der lange, gestrige Tag in den schweren Beinen, doch sobald sie warm sind, ist die Müdigkeit verflogen. Wir trotten in schneller Schrittfolge einen steilen Hang hinauf, bald perlt Schweiß auf der Stirn. Über die Pforte eines von den Yanaguaya's freigehackten Tunnels betreten wir erneut den Wald, in den das Mondlicht nicht eindringt. Es ist so dunkel, daß wir Pflanzen nicht von Bäumen und Steinen unterscheiden können. Man sieht nichts, was nicht direkt vom begrenzten Lichtstrahl der Taschenlampe erleuchtet ist: Stundenlang bewegen wir uns in einem kleinen, engen Lichttunnel, dessen schwarze Wände sich ständig nach vorne ausdehnen und hinter uns wieder schließen. Der begrenzte innere Tunnel wird durch den äußeren Vegetationstunnel erneut begrenzt - ein Universum im Universum. Wir steigen vom Äußeren ins Innere, vom Inneren ins Innerste Innere einer anderen Realität. Hinter mir spüre ich Paolino's schweren Atem, wir sprechen nichts. Die Nacht reduziert die Außenwelt auf ein Minimum, wir sind völlig für uns selbst und ich bewege mich gedanklich so weit weg, wie zu keinem anderen Zeitpunkt der ganzen Reise. Plötzlich entdecken wir silbernes Licht am Ende des Tunnels, unvermittelt gelangen wir von der mikroskopischen Buschwelt hinaus ins freie Grasland. Ein anderer Spiegel der Seele öffnet sich und reflektiert Eindrücke: Ein weiter, freier Blick, getaucht in silbernes Mondlicht. Wir trotten eine Stunde oder drei bis der Pfad von Kattuaya auf den "Weg des Goldes" trifft. Schwarze Wolken rotten sich zusammen, um den Mond einzuschüchtern. Einen Augenblick lang stehen sich Wolken und Mond direkt gegenüber, dann schieben sich die Wolken vor den Mond, es wird mit einem Schlag dunkel.

Wir lassen uns dadurch nicht aufhalten, auf dem relativ guten Weg des Goldes, der nach Chussi führt, können wir das Tempo sogar noch forcieren. Die Nacht hat einen großen Vorteil: Es ist nicht so heiß wie tagsüber. Wir passieren die Mine La Hoya, die Brücke über einen Seitenfluss wurde weggeschwemmt und nicht ersetzt - ein Zeichen dafür, daß die Mine kaum Gold fördert. Der Bergbau in Bolivien stagniert, viele Schürfer werden arbeitslos - nicht nur in La Hoya. Auch mein Begleiter Paolino ist ein arbeitsloser Goldgräber, der sich um die Zukunft sorgt.

Hinter einer Wegbiegung finden wir ein provisorisches Plastikplanenzelt mit zwei schnarchenden Schläfern, an den Bäumen haben sie zwei Kühe angebunden. Wir nähern uns harmlos pfeifend, um niemanden zu erschrecken. Wie von einem tollwütigen Hund gebissen fährt der erste hoch, entsetzt schreit er, "Scheiße!". "Verdammt was ist los, verflucht, was passiert denn hier?", wacht jetzt auch der andere auf. In ihrer heillosen Panik verfangen sie sich in der Plane wie in einem Spinnennetz. Schnell können wir sie davon überzeugen, daß wir keine mordenden Viehdiebe, sondern harmlose Wanderer sind. Sich mitten auf einem durchaus auch nachts begangenen Weg zu legen, ist selten dämlich, noch dazu mit zwei wertvollen Kühen. Die Kühe sind für Chussi bestimmt, wo sie nach ihrer Ankunft geschlachtet werden, um den Fleischbedarf der Goldgräber zu decken. Solche Viehtriebe, große wie kleine, gibt es viele, die Goldgräber haben Geld - solange sie etwas finden!

Schon ist die Nacht vorne kürzer als hinten, wir sehen zu, daß wir weiterkommen. Je näher wir an Chussi herankommen, umso schlimmer werden die Wunden, welche der Goldabbau der Landschaft zugefügt hat. Es beginnt zu dämmern. Im Zwielicht zwischen Tag und Nacht sieht die vergewaltigte Erde aus, als hätte ihr ein Riese die Eingeweide herausgerissen und liegengelassen. Wenn man bedenkt, daß noch immer keine Straße hier heraufführt, so ist das Ausmaß des Goldabbaus schon erstaunlich. Am Ufer eines kleinen Bächleins rasieren wir uns und richten uns so gut es geht einigermaßen zivilisiert her. Wir wollen uns für einen Augenblick hinsetzen und ausruhen. Plötzlich schrecke ich hoch: "Eingeschlafen!". Auch Paolino sind die Augen zugefallen, was ja nicht verwunderlich ist. Sanft wecke ich ihn, er kann ja bald in Chussi schlafen. Kurze Zeit später erreichen wir den Goldgräberort, die Sonne geht gerade auf und der bewölkte Himmel färbt sich rot.

Chussi bedeutet Menschen, Elektrizität, leichte Mädchen - die Annehmlichkeiten der Zivilisation. Aber ein Jeep ist keiner da! Am folgenden Tag hat mich Paolino mit anderem Ziel verlassen, ich sitze in Chussi fest. Naja, es läßt sich hier aushalten. Wenn du etwas lernst in Bolivien, dann ist es Geduld.

Inbegriff der Zivilisation - das Goldgräbercamp Chussi:

Die Haupstraße.

Die Haupstraße.

Eine der vielen Bars.

Eine der vielen Bars.

Goldgräber bei der Arbeit.

Goldgräber bei der Arbeit.

Elektrischer Strom mit Bierflaschen als Kondensatoren.

Elektrischer Strom mit Bierflaschen als Kondensatoren.

Nach abenteuerlicher und schwieriger Heimreise über Guanay, Caranavi und La Paz, komme ich nach über einmonatiger Abwesenheit wieder nach Sorata, meinem Zuhause.

Dank

Danken möchte ich José Lazo, Quirambaya, Martin Kea, Ancohuma, Pedro Zonco, Juan Bautista, Paolino Guispe, Juan-Carlos Kea, Braulio Segundino (alle aus Cocoyo) und Jorge Alvarez, Archäologe, La Paz.

Ganz besonderer Dank gebührt der Firma Lowa, welche uns das beste Schuhwerk zur Verfügung stellte, das wir jemals hatten.

Ohne den vollen Einsatz aller Beteiligten und die Hilfe der Firma Lowa, wäre diese Reise nicht möglich gewesen.

Robert Rauch

Über meine Abenteuer als Fußgänger habe ich das Buch "Wohin einer kommt, wenn er geht" geschrieben (Panico Alpinverlag).

Über die hier beschriebene Expedition habe ich das englischsprachige, reich bebilderte Buch "Timewalk", erschienen bei Illampu Enterprises, Bolivien, geschrieben. Es kann über meine Kontakt-Adresse (s. Link auf dieser Seite) bestellt werden.

© Robert Rauch, 2004
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Eine abenteuerliche Reise durch sämtliche Klimazonen und alle Kontraste Boliviens: vom subtropischen Sorata geht es hinauf zum höchstgelegenen Passübergang Boliviens (5700m!) und wieder hinab ins Goldgräberdorf Cocoyo, von dort in eine Steppe mit Bären, Füchsen und Pumas, dann zur Entdeckung einer geheimnisvollen uralten Ruine und am Ende in den hitzeflimmernden Urwald.
Details:
Aufbruch: 01.12.2003
Dauer: 5 Wochen
Heimkehr: 01.01.2004
Reiseziele: Bolivien
Der Autor
 
Robert Rauch berichtet seit 19 Jahren auf umdiewelt.
Reiseberichte von Robert sind von der umdiewelt-Redaktion als besonders lesenswert ausgezeichnet worden!
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