DATELINE - "Über das Wünschen hinaus"

Reisezeit: November / Dezember 1986  |  von Wolfgang Baum

USA - NY

MIAMI - NEW YORK - NACHLESE - FASZINATION FLIEGEN

New York, die letzte Station auf seiner Reise, ordnete er als Pflichtübung ein, einen im Flugplan vorgesehenen STOP, zu dem er eigentlich nicht mehr richtig stand. Zu verbraucht war er - aufgezehrt von der Reizüberflutung -, um noch genussfähig zu sein. In überzeichneten Visionen sah er sich irgendwo im Dickicht der Grosstadt, - dieser Hundsgöttin des Erfolgs - versinken, hilflos, Fehler begehend glaubte er in Abgründe zu stürzen. Waren ihm doch die Erinnerungen an Los Angeles in seiner seelenlosen Härte noch zu wach, zu plastisch präsent. Musste nicht irgendwann etwas schief gehen, etwas passieren ? Unnötige Gedanken ! Er verkrampfte. Die Pause von Miami-Beach schien ihm gut getan zu haben. Er stand nicht mehr unter dem Zwang, optisch konsumieren zu müssen, sondern wurde in seiner melancholischen Müdigkeit zum stillen Beobachter, zum Analytiker. Menschen in ihrer Unvollkommenheit wurden die Objekte seiner Hinterfragung und Selbstreflexion. Die geschminkten "Alten" von Miami, die sich in ihrer aufgeputschten Selbstdarstellung zu entwürdigen schienen, das Alter unbewusst zu einer dekadenten Form des menschlichen Daseins degradierend, sind für ihn eine Atempause. Es gilt Kraft zu schöpfen für seinen letzten Auftritt in der Arena Manhattans.
Ein tauber, leblos wolkenverhangener Himmel, ein diffuses Grau, das die Zeit zu ersticken scheint, ein Tag von denen, die weder Namen noch Datum haben sollten. Miami hat heute keine Ambitionen. Der Abschied fällt nicht schwer. Er fühlt sich ausgeruht und gut durchblutet, steht wieder voll hinter seinen Plänen, ist zuversichtlich und auf der Fahrt zum Airport kommt wieder dieses gewohnt freudige Flimmern in ihm auf. Er hat Lust auf NEW YORK, ist wieder stark und bereit, sich in den Dunst der Großstadt zu begeben, die auf viele Menschen eine so tiefe Faszination ausübt und von Pöten und Literaten in den unterschiedlichsten Farben gezeichnet wurde. Er weiß, dass man sich für NEW YORK öffnen und das Irrationale ungeprüft bejahen muss. Ihm ist bewusst, dass er sich an den Siedepunkt der "Neurosen" begibt, in den Schmelztiegel von Illusion , Hoffnung und Erfolg, dort wo sich das Leben in entarteten Extremen entfaltet.

Durch eine wulstige Wolkenschicht quirlt sich die BÖING 727 der TRANS WORLD AIRWAYS nur langsam hoch, ehe sie die scharfe Trennlinie ins endlose Blau des Himmels überfliegt. Sein Nachbar, ein wortkarger, muffliger Zeitgenosse fortgeschrittenen Alters, einer von denen, die so wenig rübergebracht haben aus ihrem Leben, die weder Mut machen noch Mitleid erwecken können. In Gedanken prüft er seine "guten Vorsätze und weiß, so nicht werden zu wollen.
Der Blick schweift über seine krustigen Hände, die Knopfreihe der Weste entlang, hoch bis an sein schwammiges Kinn, ehe er für einen kurzen Augenblick in seine Augen sieht, die durch die schweren, adrigen Tränensäcke weiter als nötig geöffnet werden.
Die Flugroute führt ihn über Florida auf den Atlantik hinaus, bevor die Maschine aufs Festland zu schwenkt und über North Carolina, Virginia, Baltimore und Philadelphia hinweg in Richtung NEW YORK fliegt. Bald reißt die Wolkendecke auf und wieder klemmt er sich ans schmale Fenster, um die Realität ganz nah zu spüren. Ungewohnt stark ruckend schwebt der Jet durch die angekündigt heftigen Turbulenzen in den Luftraum des J.F. Kennedy Airports ein.

1986 - noch sind es 15 Jahre bis "September 11.

1986 - noch sind es 15 Jahre bis "September 11.

Noch fühlt er nicht die Eiseskälte, die NEW YORK bei strahlend klarem Himmel in diesem Dezember umgibt. Nur optisch wird sie ihm durch dichte Atemschwaden deutlich, die Flughafenarbeiter beim Herannahen an die Ladeluke ausstoßen. Nichts hat er von der einmaligen Skyline Manhattans gesehen, denn JFK liegt weit draußen. Physisch auf die milden Temperaturen Asiens, Ozeaniens und Floridas eingestellt, treffen ihn die minus l0 Grad Celsius wie ein Schlag. Nichts hat er dieser kristallinen, kratzigen Kälte entgegenzusetzen. Neben den Schmerzen an Händen und Füssen dehnt sich auch das Pochen an seiner Nase fächerartig über das Gesicht aus. Bei der konzentrierten Suche nach dem "Baggage-Claim" war er im unteren Teil des Arrival-Terminals krachend gegen die Plexiglasverkleidung einer Drehtüre gelaufen. Über seinem Kopf las er das Schild "WELCOME TO NEW YORK", als er nach kurzer Zeit die Fassung wiederfand und das nachlassende Sirren, Knistern und Dröhnen in seinem Kopf die Konzentrationsfähigkeit zurückriefen. Auch der blutende Riss an seiner Oberlippe hatte sich inzwischen wieder beruhigt.
Für 8 Dollar ergatterte er einen Platz in einem Schnellbus, der ihn nach Upper-Manhattan an die 8th Avenue, 42nd Street bringen sollte. Sein Anruf beim YMCA war erfolgreich und die "34-th street" sein einziger Anhaltspunkt in dem brodelnden Chaos des Nachmittagsverkehrs. Unauffällig, nichtssagend austauschbar war die erste halbe Stunde der Fahrt. Nur einmal weckte ein grünes Schild mit der Aufschrift "FLUSHING MEADOW" seine Aufmerksamkeit. Wie schön müsste die Silhouette der Stadt jetzt sein, wo die untergehende Wintersonne den klaren Himmel verfärbt ? Ihm schweben die vielen Bilder vor, die er auf den Reklameseiten der Gazetten und Magazine gesehen hat, wo die "Riverside" durch optische Sehhilfen zu wirkungsvollen Portraits "gezoomt" und "gefocusst" wird.

Sollten diese fernen, aalglatten symmetrischen Türme wirklich die Umrisse des höchsten Gebäudes der Welt sein ? Er suchte nach weiteren Anhaltspunkten, spitzte die Ohren, ob nicht einer der Mitreisenden etwas Aufklärendes von sich geben würde. Die Brückenpfeiler und Hochhausspitzen verschachtelten sich immer mehr und allmählich verdichtete sich die Szenerie zu dem Bild, das seine Vorstellungen prägte und seine Vermutung bestätigt sich, als er auf einem Schild EAST RIVER - BROOKLYN BRIDGE erkennt. Noch wenige Minuten und er wird verschwunden sein in den Schluchten und Schneisen, die sich zwischen Häuserwänden bilden. Nichts bleibt von dem befreienden Blick aus der Distanz. Jetzt gräbt er sich ein in die zwanghafte Unförmigkeit der Metropole und die wachsende Dunkelheit, das stumpfe, filzige Grau-Braun der schmutzigen Wandfluchten wird nur gelegentlich von gleißend spiegelnden Glasflächen unterbrochen. Von alpiner Dimension türmen sich die Wolkenkratzer auf und geben in der Höhe nur schmale Sehschlitze in den Himmel frei.
Etwas versöhnlich wirken die geradlinige Straßenführung und die gleichförmige Symmetrie ihrer Anordnung. Die ungeheure Vitalität des Lebens nimmt der erdrückenden Übermacht des Funktionalen etwas an Wirkung. Wie um Halt zu suchen und von der bedrohlich wachsenden Verflechtung aus Beton, Glas und Stahl abzulenken, klemmt er sich ans Detail, einen Menschen, ein Gesicht, eine Geste, ein Wort aus Lippenbewegungen. Unmissverständlich zwängt ihm die Grosstadt ihren Pulsschlag auf. Hier gibt es kaum noch eine Möglichkeit, sich dem JETZT zu enthalten oder dem GLEICH zu verschließen. Nichts Natürliches, kein Baum, kein Vogel, kein Platz für einen flüchtigen Tagtraum. Gegen seinen Willen muss er sich fügen in die zügellose Aggressivität, sich verfälschen und anpassen, um nicht aufzufallen.

Seine zwei Taschen zerren in den Kapseln der Schultergelenke, machen ihn unbeweglich, angreifbar. Er muss schnell zu seiner Unterkunft kommen, darf sich keine Zeit lassen für überflüssige Blicke. Immer geradeaus bis zum MADISON SQUARE GARDEN und dann rechts abbiegen, -"Just a walking distance"- hatte ihm der Busfahrer gesagt.
Seine naiven Ausweichmanöver für Entgegenkommende stellt er bald ein und "setzt auf Sieg". Der Alltag wird zum Kleinkrieg. Im letzten Moment nur kann er einer scharfkantigen Handkarre ausweichen, die ihn etwas oberhalb des Knöchels am rechten Bein getroffen hätte. Jetzt ist er "voll da", weiß worauf es ankommt, sein Herz schlägt schneller, keine Atemnot mehr, die Muskeln sind gespannt, auch sein Gesichtsausdruck versucht diese aufgesetzte Angriffslust erkennen zu lassen. Der Menschenstrom erdrückt ihn nicht mehr, er sieht nur den Augenblick und weiß, dafür all seine Konzentration sammeln zu müssen. Er macht zügig Meter, kommt voran, bahnt sich seinen Weg durch das Gedränge aus Haltlosen, Zielorientierten, Stolzen, Traurigen, Wissenden, Fragenden, Schicken, Schäbigen und selbstbewussten Negern. Das YMCA-Haus, ein 15-stöckiges Backsteingebäude unweit des HUDSON RIVERS hat nichts Einladendes, ist aber ein Zufluchtsort, gibt Sicherheit. Das kleine Zimmer gleicht mehr einer Zelle, einem Abstellraum für seine Zweifel und Unsicherheiten.
Jetzt kehrt Ruhe ein, er verschnauft, blickt aus dem schmalen Fenster, NEW YORK hat ihn für einen Moment losgelassen. Er kann wieder über sich selbst verfügen, entscheiden, tun und unterlassen was er will, ist nicht mehr dem Diktat des Treibens da draußen unterworfen. Er hört wieder seinen Atem, seine Schritte, das Knacken der Gelenke, kann wenn er will innehalten. - Welch eine Freiheit - Ein tolles Gefühl, so kurz vor Weihnachten an diesem Brennpunkt der Welt zu sein. Nur noch über den Atlantik und dann an den Niederrhein, mal wieder Kühe, Fasane und Hasen sehen.

In einem ersten "brainstorming" prägt er sich Namen und Wege ein, sortiert den Stadtplan, schätzt Entfernungen, prüft Transportmittel, setzt sich Teilziele. Noch während dieses hereinbrechenden Abends will er zu ersten Erkundungen ausschwärmen. Bloß nicht verlaufen - Adresse im Kopf - erstes Abtasten, keine Zeit zum Beobachten, nur Wahrnehmen, Einordnen, sich einen Überblick verschaffen, Spielraum gewinnen. Im Vorbeilaufen gilt es, sich Anhaltspunkte - etwas Statisches für den Rückzug einzuprägen. Ihn verunsichert die Zielstrebigkeit der Menschen , die ihn umgeben. Nur er scheint suchen zu müssen, er der Neuling, Anfänger, dem man keine Zeit lässt zum Lernen. Wo sind BROADWAY, TIMES SQUARE, 5th AVENUE ? Kann er all das zu Fuß erreichen ? Vielleicht noch heute Abend ? Im Vorbeilaufen sieht er die üblichen Schnellrestaurants, Bettler, Krüppel und viel Jugend in ungebremster Dynamik. Wer langsam ist, bleibt auf der Strecke. Er merkt, dass er trotz seines Handicaps, ein "Neuer" zu sein, gut mithalten kann, wird selbstbewusst unternehmungslustig. Vielleicht überschätzt er sich, wie andere in dieser Stadt, die zuerst so wenig Individualität duldet. Jetzt wird ihm die Bedeutung von Broadway und Showbusiness klar. Im Theater besteht die Möglichkeit, Persönlichkeit zu entfalten, seine Grenzen zu sprengen. - Ein soziales Ventil also - Die erste Groborientierung des Abends reicht, er kann Entfernungen einschätzen und Fixpunkte orten. Die Zeit ist fortgeschritten und die Stadt lockt Nachtschwärmer an, die Szenerie ändert sich, Gesichter werden entschlossener, scheinen unumstößliche Zielvorstellungen zu haben. Man muss noch heute etwas erreichen, darf keine Zeit verlieren, vermeidet Unauffälligkeit oder Mittelmass. Für diesen Tag ist seine Frist abgelaufen, es gibt nichts mehr zu tun. Er sehnt sich nach einem Wortwechsel, vielleicht ist sogar ein Gespräch drin, etwas menschliche Wärme.

Ein McDonalds-Restaurant könnte eine Gelegenheit bieten, vielleicht ein Blick, dann eine Frage, die Aussicht auf eine Unterhaltung. Doch auch hier herrschen die ungeschriebenen Gesetze der Strasse, die Isolation und die gespielte Souveränität, die stereotype Gleichmacherei , das Abfüttern in einer "Fressbatterie" mit standardisierter Kost und die neurotischen Bemühungen, sich dennoch abzuheben, besser zu sein als die Anderen. Dies war der letzte Anhaltspunkt, um sich Spielregeln und psychologische Hintergründe bewusst zu machen. Jetzt kennt er den "Geist" der Stadt - weiß, daß er diesem nicht entrinnen kann.
Vor dem Einschlafen spricht er es nochmals ganz bewusst aus, so als wollte er den Traum für diese Nacht vorbestimmen: " 8th AVENUE, 34th STREET, UPPER MANHATTAN, NEW YORK CITY, USA.
Der folgende Tag ist anstrengendes Sightseeing, es wird nichts ausgelassen. Sehr wohltuend dabei die flüchtige Bekanntschaft mit einem gleichaltrigen Südafrikaner aus Kapstadt. Ähnliche Interessen bringen intensiven Gedankenaustausch. Eine von diesen Begegnungen, die durch ihre Einmaligkeit, Unwiederbringlichkeit viel Offenes und Ehrliches in sich haben. Eine Tasse Kaffee in einem Straßenlokal beschließt die Kurzbekanntschaft, man tauscht gute Wünsche aus. Den Abend verbringt er in irgendeinem der vielen Kinos, bedürfnislos, müde aber mit der Genugtuung, einen Tag verlebt zu haben, der seiner Erinnerung für immer eingeprägt bleiben wird. Vor dem Einschlafen nimmt er noch ein Duschbad in der öffentlichen Waschkaue seiner Herberge. Schwarze um ihn herum, es riecht nach Kernseife und Männerschweiß.

Erst am frühen Abend des folgenden Tages ist "check-in-time" für den Weiterflug New York - London. Es bleibt also noch viel Zeit. Er vermeidet Termine, legt sich auf nichts fest, lässt sich einfach treiben als halbwegs ortskundiger nun, behält sich seine Aufnahmebereitschaft vor für Kleinigkeiten, Unwesentliches, Randerscheinungen. Nicht mehr dieser gehetzte Blick, die touristische Raffgier, sondern ausgeglichen, gelassen ortet er nach Sehenswertem, öffnet sich für die Feinheiten.
Nach dem Aufwachen merkt er bei einem Blick in den kleinen Schrankspiegel, dass er sich lange nicht mehr gesehen hat, an sich selbst vorbeigelaufen ist, seine Person nicht integriert hat in die Erlebniswelt. Die Augen sehen müde aus, um die Nase herum ziehen sich Furchen in Richtung Mundwinkel. Spuren, die man nicht mit bloßem Schlaf verwischen kann. Abstand, Seelenarbeit sind nötig, der CENTRAL PARK bietet sich an. Der halbstündige Fußmarsch über 7th Avenue und Broadway stimmt ihn ein auf die bevorstehende Ruhe. Er merkt, wie sich sein Gedankenkarussell allmählich verlangsamt, es ist kein Speichern von Fakten und Daten mehr, sondern nur noch gefilterte Reize, die Spielraum für Emotionales schaffen.
Er versucht nun, die über Jahre hinaus vorgefertigten Bilder und Vorstellungen an der Wirklichkeit zu messen, um den Mythos NEW YORK zu entschlüsseln. Jetzt kann er alles Gelesene, Gehörte auf die Probe stellen, unter Beweiszwang bringen. Hier kann er seine irritierten Wertmaßstäbe zurechtrücken, Meinung und Bedürfnisse für sich selbst festlegen. - ein Lernprozess- .
"THE BOXER", von "Simon and Garfunkel" geht ihm durch den Kopf. An welcher Stelle mag die Tribüne des schon legendären Konzerts vom 19. September 1981 gestanden haben ?
DAKOTA-HOUSE, die letzte Adresse von John Lennon am Central Park West, 72nd Street» bevor er von einem Geisteskranken im Hauseingang erschossen wurde. Wie hatte er noch gesungen ? '.'....IMAGINE all the people, living life in peace. You may say I'm a dreamer, but I'm not the only one, I hope some day you will join us, and the world will be as one." - Aus diesem Traum ist er nicht wieder erwacht.

Dakota House am Central Park. Hier wurde John Lennon erschossen

Dakota House am Central Park. Hier wurde John Lennon erschossen

Welche der durchnummerierten UNO-Resolutionen wird vielleicht jetzt gerade auf der anderen Seite Manhattans, am EAST-RIVER unterzeichnet und wird sie kurzlebiger sein als die Vorletzte ? Wann wird der gute Wille zerrissen von der nächsten Handgranate ? - IMAGINE - Der Park schafft Luft, Abstand, er ist nicht mehr Betroffener, sondern nur noch Betrachter. Der Wert der Natur wird ihm in diesem Gegensatz besonders bewusst. Er tritt wieder auf vertrocknetes Laub, Gras, ein Eichhörnchen ergreift die Flucht vor ihm, nachdem es seine Neugier befriedigt hatte. Entgegenkommende Menschen grüßen ihn, geben bei Fragen Auskunft, strahlen Ruhe aus. Müsste er länger in New York bleiben, hätte er hier seinen Zufluchtsort. In Gedanken beschließt er hier seine Reise, zieht erstmalig Bilanz, blickt zurück und weiß dass ihn all dies noch lange beschäftigen wird.
Er sieht noch mal die Gesichter der Zufallsbekanntschaften vor Augen, den Kölner aus Lindenthal in Taipei; die beiden älteren Amerikanerinnen, die vom "Shopping" aus Hong Kong kommend, auf dem Rückflug nach Hawaii waren ; die Kanadierin aus Calgary, auf dem Flug Richtung amerikanischer Westküste, für die er nicht zu jung war, um ihr ein anregender Gesprächspartner zu sein. Der Flüsterton während des Filmes und die körperliche Nähe schienen auch für sie etwas unerwartet Verbindendes zu haben; den Singaporianer und Australier in San Francisco; den Kalifornier und die neuseeländische Familie auf Hawaii; die kubanische Kellnerin in der Kneipe von Miami Beach, wie sie errötet als sie feststellt, dass er Spanisch spricht. Ihre knisternde Weiblichkeit und das gebremste Selbstbewusstsein wirken auf ihn sehr erotisierend. Auch sie scheint etwas gefunden zu haben, hält für einen Moment inne - er bestellt ein Bier.

Schrittweise verschieben sich die Perspektiven, als er wieder dem Parkrand näher kommt. Er zwängt sich in die Häuserreihen und schaltet um auf Routine, zweckorientierte, intuitive Handlungen logische Abläufe, die ihn auf seinen Sitz in der Economy-Class des internationalen Jetliners bringen. Schlechte Organisation und totale Überfüllung am JFK-Airport trennt Nervenschwache und Belastbare. Mit drei Stunden Verspätung hebt der Jumbo 747 der TWA in Richtung Europa ab und verliert sich im Nachthimmel über New York.

NACHLESE
Noch auf dem Trans-Atlantik-Flug versucht er auch die übergreifenden Werte der Reise zu ordnen, sich die Auswirkungen auf seine Persönlichkeit bewusst zu machen. Wie weit haben sich Wertmuster und Inhalte für sein späteres Leben verändert ? Was kann er an Positivem mitnehmen, integrieren in seine zukünftigen Denk- und Handlungsweisen ? Gibt es eine neue Interpretation und Sprachregelung für den Begriff des Reisens ? Ist er in der Lage, wenigstens für sich eine Wertprägung zu definieren ? Wie kann er dem Phänomen den Beigeschmack der kritiklosen Genussucht, der egoistischen Raffgier nach Erlebnissen und den Siegel des Statussymbols nehmen?
Es war kein Urlaub im therapeutischen Sinne als wohlverdiente Entspannung für entbehrungsreiche Zeiten. Es soll auch kein Aushängeschild sein zur Emaillierung seines Egos, um die Selbstdarstellung zu erleichtern. Es war ein durch äußere Umstände gegebener Zufall, den es sinnvoll zu nutzen galt. Ein einmaliges Experimentierfeld zur Selbstfindung, ein Ausklinken aus den räumlichen und gedanklichen Konventionen des Alltags, ja eigentlich eine Atempause in der Mitte des Lebens, in der er seine Erfahrungen und Werte überprüfen, und Korrekturen und Akzente für die Zukunft setzen konnte. Geographisch war es eine Reise ins Unendliche, doch psychologisch ein Ausflug in das Labyrinth seines Inneren. Es vermittelten sich Empfindungen, die bis an die Endpunkte seiner sinnlichen Wahrnehmungen reichten. Er sah Dinge, die ihn wachrüttelten, ihm die Augen öffneten für neue Betrachtungsweisen und Beurteilungen. Die Reise um die Welt war für ihn gleichzeitig eine Wanderung auf dem Pfad der Geschichte, vorbei an Narben menschlicher Verfehlungen, und den Blüten geistiger Genialität.

Er ging vorbei an den Abgründen irdischer Existenz und atmete gleichzeitig den Flugsamen unauslöschbarer Hoffnung. Er ging bis ans Ende der Welt und merkte plötzlich, dass man sich nirgends verstecken kann und erinnert sich dabei an seine kindlichen Visionen, wenn es ihm vorschwebte, "einfach wegzurennen", um einer unangenehmen Sache zu entkommen. Ihm wurde klar, wie unsere Existenz auf jedem Fleck der Erde zu gemeinsamer, kollektiver Verantwortung verpflichtet.
Die Reise hat ihn immer weiter weg geführt in die Ferne, in die schiere Endlosigkeit, bis er plötzlich wieder dort stand, von wo er aufgebrochen war. Er hatte viel erlebt, gesehen, erfahren, um daraus zu lernen und sich menschlich zu bereichern. Liegt nicht auch darin der Sinn unseres Daseins, um nach einem erfüllten Leben in Ruhe dorthin zurückzukehren, wo alles begann ? Nun hat er wenigstens eine Erklärung dafür gefunden, warum die Erde rund und das Leben endlich ist.

FASZINATION FLIEGEN

Die aktivierten Schubhebel entfesseln den Orkan an blindwütiger Kraft, die gezielt gebündelt, den über 300 Tonnen Gewicht des Jetliners Richtung und Geschwindigkeit geben. Der Druck in die Rückenlehne wächst mit jeder Sekunde und die durch Startklappen aerodynamisch verformten Tragflächen lassen schon eine gewisse Leichtigkeit spüren, bevor Momente später die Gesetze der Schwerkraft annulliert werden und die Maschine vom Boden abhebt. Ist dies nicht der Punkt, der eigentlich nur ein Traum sein dürfte, an dem wir die Regularien und Grenzen unserer Physis überschreiten und den Boden unter uns versinken sehen ? Kurz darauf dieses leichte Abfedern auf dem Luftbett und das Gefühl fast auf der Stelle zu schweben, wenn durch den Steigflug und die schwindende Erdnähe das Gefühl für die Geschwindigkeit verloren geht. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem das Fliegen zum einen eine faszinierende technologische Dimension annimmt, in erster Linie jedoch eine Bewusstseins-Angelegenheit wird, die Zusammenhänge offenbart, die dem am Boden Wandernden verborgen bleiben. Nach dem Durchstoßen einer dünnen Dunstschicht schwingt sich die Maschine auf ihre vorgegebene Luftstrasse ein, die sie in einer weitgezogenen Kurve erreicht, während das braun-güne Land in riesigen Flecken unter der Tragfläche vor dem verwaschenen Blau der Ferne vorübertreibt. Jetzt befindet sich das Flugzeug in einer ruhigen Luftschicht und hat die begleitenden Wolken und Turbulenzen weit unter sich gelassen.
Dunstschleier, konturlos, körperlos, ohne Horizont. Fliegen wir ? Kaum fehlen die irdischen Vergleichspunkte, schon lassen uns unsere Sinnesorgane im Stich. Wir könnten der Vorstellung nachgeben, uns rückwärts zu bewegen. Wir suggerieren uns, still im Raum zu stehen und auch das akzeptieren unsere Sinne. Für diese Welt wurden wir nicht geschaffen. Hier versagen unsere Sinne. Nur mit Hilfe navigatorischer Instrumente ist es möglich, uns hier zu behaupten, in einem Bereich zwischen scheinbarer Schwerelosigkeit und wahrnehmbarer Beziehung zur Erde, innerhalb des Flugzeugs noch den irdischen Gesetzen unterworfen. So schweben, schwimmen, treiben wir dahin, Dunstschwaden, Schichtwolkenfetzen unter und über uns. Gelegentlich bestätigt die milchig durchschimmernde Sonne, dass sich der Himmel noch immer über den Tragflächen befindet. Die Sonne: Manchmal ist sie weiter nichts als eine kreisförmige Andeutung von hellerem Grau inmitten der dunkleren ätherischen Masse um uns, plötzlich bricht sie ockergelb einen Atemzug lang durch, um sich wieder form- und farblos zurückzuziehen. Und dann zeichnet sich eine Aura auf der Leinwand des Dunstes ab, sich verengend oder erweiternd, je nach Höhe und Entfernung der Wolken. Ein Farbenspiel, eine Gaukelei aus Feuchtigkeit und Trübung, wie sie die Natur nicht phantastischer ersinnen könnte als Trost für die verloren gegangene Erdnähe. Und irgendwo auf der anderen Seite schwebt dann auch die Schattenkontur des Flugzeugs über die tiefere Wolkenschicht, Leitwerk und Kanzelaufbau deutlich erkennbar, vergrößert sich bei näher treibenden und verkleinert sich bei weiter entfernten Schichten. Alles ist im Fluss, alles verwandelt sich in diesem Traumreich der Unwirklichkeit dem Ziel entgegen.

© Wolfgang Baum, 2005
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Die Reise
 
Worum geht's?:
In 17 Tagen um die Welt. Saudi Araben, Bahrain, Taiwan, Hawaii, San Francisco, Miami, New York, Amsterdam. Versuch einer literarischen Betrachtung. Autor: Wolfgang Baum
Details:
Aufbruch: November 1986
Dauer: circa 4 Wochen
Heimkehr: Dezember 1986
Reiseziele: Singapur
Taiwan
Vereinigte Staaten
Der Autor
 
Wolfgang Baum berichtet seit 19 Jahren auf umdiewelt.
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