Frachtschiffreise

Reisezeit: Januar - Mai 2002  |  von Evelyn Freitag

Auf einer viermonatigen Reise mit einem Stückgutfrachter der Hamburger Rickmers Reederei rund um die Welt:
Abenteuer vom Sonnenauf- bis zum Sonnenuntergang.

Auszüge aus dem Buch "FRACHTSCHIFFREISE - Das größte Abenteuer meines Lebens" von Evelyn Freitag

Zwischen Hamburg und Antwerpen

Eine Frachtschiffreise, "Was?!?". Ich falle aufgeschreckt aus allen Wolken. Aber mein Mann meint es ernst! Er nimmt mich mit auf das größte Abenteuer meines Lebens. Das Leben an Bord dieses Stahlriesen wird für mich genauso atemberaubend, wie all die neuen Eindrücke in den vielen angelaufenen Häfen. Einen kleinen Einblick in das Leben an Bord und an Land sollen diese Leseproben geben und mehr Lust auf die ganze Geschichte wecken. Viel Spaß beim Lesen.

Schlepper am Heck

Schlepper am Heck

Am nächsten Morgen kommt der Lotse an Bord, der uns nach Antwerpen hineinführen soll. Das Schiff macht nur 10 Knoten Fahrt. Der Wind ist zu stark und die Wellen kommen immer noch genau von vorn. Später erfahren wir, dass es heute der letzte Lotse ist, der an Bord eines Schiffes in der Nordsee geht. Der Überstieg von dem kleinen Lotsenschiff zu den großen Frachtern ist bei dieser Windstärke und den hohen Wellen einfach zu gefährlich. Glück gehabt! Alle anderen müssen draußen auf der Nordsee warten, bis der Sturm vorbei ist.
Mir geht es etwas besser. Ob sich mein Körper schon an das Schaukeln gewöhnt hat? Für das Aufstehen lasse ich mir Zeit, denn mir graut davor, dass zu schnelle Bewegungen wieder das gefürchtete Unwohlsein auslösen könnten. In der Dusche muss ich mich mit einer Hand am Haltegriff festhalten und mit der anderen versuchen, das Duschgel aus der - natürlich! - noch verschlossenen Tube herauszuquetschen und auf meinem Körper zu verteilen. Akrobatische Einlagen. Ich denke dabei schmunzelnd an meine Gymnastikgruppe daheim.
Erhard hat erzählt, dass der Kapitän einen Arzt nach Antwerpen ordern will, wenn es mir weiterhin schlecht ginge. Eine andere Passagierin, die wir noch nicht zu Gesicht bekommen haben, liegt ebenfalls flach. Aber einen Arzt, nein, den will ich keinesfalls für mich an Bord kommen sehen. Deshalb gehen wir nach dem Frühstück auf die Brücke, damit der Kapitän sieht, dass es mir besser geht.

Auf der Brücke

Auf der Brücke

Die Brücke darf man hier jederzeit besuchen. Natürlich sollte man den Kapitän oder den wachhabenden Offizier nicht von der Arbeit abhalten und keine großen Gespräche beginnen, wenn man einen Hafen ansteuert oder ein Lotse an Bord ist. Aber wenn man sich ruhig in eine Ecke stellt und alles beobachtet, dann ist man ein gern geduldeter Gast auf der Brücke. Erhard erklärt mir einige Geräte und ihre Funktion. An einem Messgerät können wir ablesen, dass der Wind mit einer Geschwindigkeit von 20 Metern pro Sekunde bläst, das bedeutet immer noch eine Windstärke von 8 Beaufort. Von der Brücke aus hat man einen wunderbaren Blick nach vorn über das ganze Schiff, der nur durch die Ladebäume eingeschränkt wird. Obwohl die RICKMERS HOUSTON sehr groß ist, schaukelt sie in den Wellenbergen stark hin und her und die Gischt spritzt an den Seiten meterhoch, bevor sie vom Wind fortgerissen wird. Ein Schauspiel wie im Film. Ich bin fasziniert. Es ist überaus beeindruckend, diese Darbietung mit eigenen Augen zu sehen. Angst habe ich keine und übel ist mir auch nicht mehr.
Nur auf dem Radarschirm sind einige Schiffe in der Nähe auszumachen. Die Sicht beträgt lediglich ein bis zwei Seemeilen und es ist immer noch grau und diesig draußen. Der Lotse geht ständig von einer Seite zur anderen und hält immer und immer wieder das Fernglas vor die Augen. Hinter ihm am Steuerrad steht ein junger Filipino. Auf der Brücke geht es manchmal ziemlich militärisch zu. Der Lotse sagt den Kurs an, z. B. "One nine zero", was einem Kurs von 190 Grad entspricht. Dieser Befehl wird ziemlich laut gegeben, unser Kapitän wiederholt ihn und der Rudergänger wiederholt ihn dann noch einmal ebenso laut: "One nine zero, Sir". Alle fünf Grad wird der neue Kurs angesagt. Zwischendurch gibt es auch noch andere Befehle und der wachhabende Offizier muss ständig die Daten in die Seekarte und das Logbuch eintragen und die Instrumente ablesen und kontrollieren.
Der Lotse steuert einen sehr weiten Bogen in die Nordsee hinaus, damit der Wind das Schiff nicht seitwärts auf ein Flach drückt. Dadurch gehen viele Stunden Zeit verloren und wir nähern uns schließlich der Schelde-Einfahrt fast vom Süden, jedenfalls liegt Zeebrügge rechts - steuerbords - vor uns.
In der Landabdeckung wird es etwas ruhiger an Bord. Das Geschaukele nimmt ab und die Stimmung steigt. Der Vormittag geht schneller herum als gedacht. Es gibt so viel zu schauen und mehrmals ziehe ich mir meinen alten Daunenanorak an und mache mich auf den Weg zur Brückennock, wo die Aussicht am besten ist.
Um 15 Uhr passieren wir die Schelde-Schleuse, Millimeterarbeit für den Lotsen. Achtern hat wieder ein Schlepper an unserem Schiff festgemacht und begleitet uns in die Schleuse. Unten fährt ein scheinbar winziger Reisebus vorbei. Die Leute winken mir freundlich zu, und als ich zurückwinke, da erheben sich noch etliche Hände mehr. Was für ein liebenswürdiger Empfang!

Einfahrt in die Schelde-Schleuse

Einfahrt in die Schelde-Schleuse

Am Ufer der Schelde ziehen sich kilometerlang Industrieanlagen hin. Eine nach der anderen. Eine nicht enden wollende Fläche von Produktionsanlagen. Weiße Rauchwolken ziehen in den Himmel, Flammen leuchten beim Abfackeln von Gasen und es schlingen sich Rohre von ungeheurer Größe in den tollsten Formen um Kessel und Zylinder.
Eineinhalb Stunden später steuert uns der Lotse rückwärts in das breite Hafenbecken und unser Schiff wird am Kai vertäut. Voraussichtlich werden wir hier vier bis fünf Tage Aufenthalt haben. Der Immigration Officer kommt erst morgen früh an Bord. Vorher dürfen die Passagiere nicht an Land, die Crew hingegen schon. Diese Regeln verstehe, wer mag!
Mary denkt laut darüber nach, nach Mailand zu fliegen und dann in Genua wieder aufs Schiff zu kommen. "I don't like to stay here for four days!" Aber als wir ihr erzählen, wie schön Antwerpen ist, dass sie dort in den Kirchen Bilder von Peter Paul Rubens bewundern kann und dass sie in kurzer Zeit auch Brügge, Gent und Brüssel besuchen könnte, da scheint ihr Abreisewillen schon wieder gebrochen zu sein und sie plant stattdessen, sich ein Auto mit "Driver" zu mieten. Marcel, der französische Passagier, hat ihr erzählt, dass Belgien "as small as a handkerchief is" und "you can see everything within one day". Das scheint Mary mächtig zu beeindrucken und so bleibt sie an Bord.

Am nächsten Vormittag machen wir uns auf den Weg nach Antwerpen. Der Supercargo kennt sich hier gut aus, denn er kommt jedes Mal hierher, wenn RICKMERS-Schiffe in Antwerpen beladen werden. Er hat uns den Weg zur Bushaltestelle beschrieben, die wir dann auch heil erreichen, nachdem wir vorsichtig an allen Gabelstaplern und anderen Fahrzeugen vorbei den sichersten Weg gesucht haben. Der Hafenbetrieb ist hier genauso wie in Hamburg: schnell, laut und voller Frachtgutstücke.

Fracht für uns in Antwerpen

Fracht für uns in Antwerpen

Für nur je einen Euro - also nur "peanuts", wie Marcel meint - können wir bis in die City fahren. Immer wieder entdecken wir alt bekannte Ecken, die wir bei einem früheren Besuch gesehen haben. Damals war es brüllend heiß. Heute beginnt es schon wieder zu regnen und das nächste Tief kommt durch die Straßen gefegt. Für zwei weitere "peanuts" fahren wir deshalb bald wieder zurück zu unserem schwimmenden Zuhause.
Zum Abendessen sind wir wieder an Bord und treffen Mary, Marcel und als dritte Passagierin Ella aus der Schweiz. Es gibt Brot und polnische Wurst. Marcel ist entzückt, als er Senf entdeckt, schraubt den Deckel vom Glas, stellt aber enttäuscht fest, dass sein Esslöffel nicht in die Öffnung passt. Lächelnd behilft er sich mit dem Stiel.
Mary, die heute mit mehreren goldfarbenen Ketten erschienen ist, hat sich das angepriesene Sirloin-Steak bestellt. Sie bekommt es, zusammen mit einem Salatteller, auf den der Koch eine extra für sie zurecht geschnitzte Tomate gelegt hat. Sie berichtet uns mit einem Schmunzeln, dass sie drei Wochen gebraucht habe, um dem Koch zu erklären, wie sie ihren Salat gern hätte. Das Steak scheint ihr zu schmecken, und auch Marcel bestellt es sich. Es dauert nicht lange und er bekommt eine Portion überbratene "mashed potatoes" und einen Berg in kleinste Stücke geschnittenes Fleisch serviert. Mehrere Augenpaare schauen sich interessiert den Teller an. Marys Augen werden immer größer und ihr Hals lang und länger, bevor sie staunend sagt: "Marcel, whaaaaaat did youuuuu order?"
Unsere Speisen sind international: Marmelade aus Griechenland, Milch aus China, Wasser aus den Vereinigten Emiraten, Käse aus USA. Auf den Tischen stehen Eimer, in denen man Zutaten wie Ketchup, Honig, Oliven, Senf oder andere Dinge findet. Alles sieht sehr rustikal aus. Von den beiden Stewards James und Ron wird uns jeder Wunsch gern und bereitwillig erfüllt, jedoch weichen unsere Vorstellungen und ihre Ausführungen manchmal voneinander ab.

Beim nächsten Frühstück unterhalten wir uns mit Ella und dem polnischen Kapitän. Ella erzählt, dass sie in Ungarn geboren ist, aber schon seit 20 Jahren in der Schweiz lebt. Der Kapitän berichtet, dass die erwartete Ladung Stahl mit Leichtern auf dem Wasserwege herangeschafft wird und, wenn wir Glück haben, in zwei Tagen hier eintreffen soll. Am Kai liegen noch Berge von anderer Fracht, die aber noch nicht verladen werden können, weil der schwerere Stahl zuerst im Schiff verstaut werden muss. Inzwischen ist ein LKW aus Griechenland mit seiner Fracht angekommen, aber auch er muss auf die Entladung bis zum Montag warten. Der Fahrer und seine Frau werden kurzerhand auf unserem Schiff einquartiert.
Am Nachmittag begeben wir uns noch einmal in die Stadt und besichtigen das Rubenshuis. Wir schauen uns an, wo Peter Paul Rubens gewohnt, gelebt und gearbeitet hat, und bestaunen seine Bilder. Ich bewundere die Figur seiner gemalten Eva und hätte auch gern eine solche.

Später gibt es Musik an Bord. Der Kapitän lädt uns in den "TV-Room" ein, wo uns ein Vater mit seinen beiden Töchtern und ein Gitarrist erwarten. Sie machen Musik für die Seeleute. Die Stimmung ist gut. Die Filipinos sitzen freudestrahlend barfuß oder in Sandalen da, einer schaut im Schlafanzug um die Ecke, er hat wohl die Ankündigung verpasst und ist nun durch die Musik aufgeschreckt worden. Es ist richtig familiär, richtig zum Wohlfühlen.

Mit dem Kapitän am Kartent

Mit dem Kapitän am Kartent

Inzwischen sind wir nun schon eine Woche an Bord. Jeden Tag gibt es etwas Neues zu erleben und zu entdecken. Entfernungsmäßig haben wir es noch nicht weit geschafft: Wir sind immer noch in Antwerpen. Aber das macht nichts, so können wir uns gut an all die Gepflogenheiten an Bord und den Betrieb hier im Hafen gewöhnen. Die wunderlichsten Kisten und unförmigsten Teile, schwere Stahlrohre, -platten und -stangen und viele für uns undefinierbare Dinge verschwinden noch immer unablässig in den tiefen Ladedecks unseres Schiffes. Draußen rumpelt und quietscht, scheppert und poltert, dröhnt und rasselt, knarrt und klappert, kracht und tutet es von morgens um fünf bis abends um elf. Aber auch daran haben wir uns gewöhnt. Weil die Kabinen stark aufgeheizt sind, schlafen wir inzwischen sogar bei offenen Fenstern. Wer hätte je gedacht, dass man bei solch einem Getöse schlafen kann? Wir haben es inzwischen gelernt! Und die Geräusche der Hilfsdiesel hören sich dazu schon fast wie Schlafmusik an ...
Der Sturm hat nicht nachgelassen. Die Kräne können stundenweise nicht arbeiten. Die Wellen gischten auf den Kai. Unser Schiff zerrt an den Halteleinen und rüttelt ziemlich stark hin und her. Wir entschließen uns zu einem Zoobesuch. Wer hat schon jemals während einer Seereise einen Zoo besucht? Bei einer Frachtschiffreise ist halt alles möglich!
Am Nachmittag holen wir zum ersten Mal unsere Fahrräder von Bord und besuchen den nächsten Ort mit dem Namen Ekeren. Dreieinhalb Stunden sind wir unterwegs, fahren durch Wälder von Containern und am Rande von Bahngleisen entlang.

Wir waschen Wäsche, und als ich nach einem Bügeleisen frage, antwortet Ron: "Yes, Madam, this is a problem." Die "Bügelmaschine" sei leider kaputt und nur der Kapitän und der Chief Engineer hätten noch eines. Nun ja, diese beiden Herren will ich nicht fragen, ob sie mir ihre Haushaltsgeräte leihen, und Mary sieht mich mit riesengroßen Augen an: "I neeever iron cloth, when I am on a voyage. Neeeveeer!" Ernüchtert nutze ich die Gelegenheit, fahre noch einmal nach Antwerpen hinein und kaufe ein kleines Bügeleisen.

Nun haben zwei Schlepper an unserer RICKMERS HOUSTON angelegt und werden uns in die ungefähr 100 Seemeilen entfernte Nordsee zurückbringen, was ca. zehn Stunden dauern kann. Hoffentlich haben wir einigermaßen gutes Wetter in der Biskaya. Ich möchte nicht wieder seekrank werden.

© Evelyn Freitag, 2003
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Die Reise
 
Details:
Aufbruch: 22.01.2002
Dauer: 4 Monate
Heimkehr: 25.05.2002
Reiseziele: Belgien
Japan
Der Autor
 
Evelyn Freitag berichtet seit 21 Jahren auf umdiewelt.
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