Erstes Kennenlernen der Slowakei nach der Wende

Reisezeit: August / September 2000  |  von Manfred Sürig

eigentlich wollte ich nur mal dorthin, wo ich als 7jähriger 1944 mit meinen Eltern in der "Sommerfrische" im Sudetenland war. Doch mit dem Rad macht man ungeahnte Entdeckungen und fährt immer weiter nach Osten......
und heute, 10 Jahre danach, kann man sich einige Abenteuer in diesem Land so gar nicht mehr vorstellen.

Erste Bekanntschaft mit der Tschechei

Irgendwann, wenn ich einmal mehr Zeit als nur einen Urlaub hätte, wollte ich noch einmal dorthin, wo ich als 6jähriger Junge mit meinen Eltern war: Karlsbrunn, ein Luftkurort im Altvatergebirge in den Sudeten, auf tschechischer Seite. Die Altersteilzeit im Sommer 2000 - 3 Monate Freizeit hintereinander- bot nun die Gelegenheit, mir diesen Wunsch zu erfüllen.
Mehr noch: Eine Radtour ins Altvatergebirge, in die Hohe Tatra, in die Karpaten und nach Ungarn zu machen, wenn es die Kondition hergab.
Nachdem alle Bekannten, die Interesse gezeigt hatten, so eine Tour mitzumachen, sich stillschweigend abgesetzt hatten, kamen mir zuletzt auch leise Bedenken. Wäre Frankreich nicht ein mindestens genauso attraktives Reiseziel? Aber mit zuverlässigerem Kontinentalklima war im September sicher im Osten zu rechnen.
Weil am 29.August 2000 der Kern des Hochs gerade über Ostpolen und den Karpaten liegt- Tendenz festliegend - entschließe ich mich dann doch für den Osten. Die Anfahrt per Bahn ist nur etappenweise zu schaffen. Erster Tag bis Görlitz. Dort übernachten und am Tag darauf weiter durch Schlesien mit dem Zug bis Glucholazy (früher Ziegenhals), dem Grenzort zwischen Polen und Tschechien am Nordrand des Altvatergebirges, das heute Sibenik und mit seinem höchsten Gipfel Praded heißt.
Was eigentlich eine Notlösung darstellt, die Übernachtung in Görlitz in der Jugendherberge, ist schon eine erste angenehme Überraschung: Görlitz ist nach der Wende aufwendig restauriert worden und weil die Stadt im Krieg keine Bomben abbekommen hat, kann man hier ein historisches Stadtbild wie sonst selten in Deutschland bewundern. Hier hatte der schlesische Landadel wohl früher seine Stadtwohnsitze, inmitten großzügiger Parks gibt es zahlreiche Villen aus der Gründerzeit, die Jugendherberge selbst ist in einer denkmalgeschützten Jugendstilvilla mit farbigen Glasfenstern untergebracht und allein deswegen schon einen Besuch wert. Überraschend niedrig auch das Preisniveau in der Stadt: Ich diniere beim Chinesen zu abend für 8 DM und der halbe Liter Bier dazu kostet 3,80 DM.

Das Karstadt-Warenhaus ist liebevoll auf den Stand der Gründerjahre am Anfang dieses Jahrhunderts restauriert worden und so auch etwas einmaliges. Auf einer Rundfahrt durch den polnischen Teil von Görlitz (Zgorzolec) fühlt man sich fast wie zu Hause: Real­Kauf, Plus, Praktiker-Baumarkt, alle großen Supermarktketten sind vertreten und das Geschäft scheint zu boomen. - mit Kundschaft von drüben aus Deutschland. Am östlichen Ortsausgang macht mir ein Wegweiser klar, was für Entfernungen vor mir liegen: Nach Kiew 1289 km.
Aber ganz soweit will ich ja nicht.

Am Mittwoch, 30.8.2000

geht es gleich früh morgens per Interregio weiter bis Wroclaw (Breslau). Zeit zum Ablichten des Rathauses habe ich nicht, denn sofort habe ich Anschluß nach Südosten.
Das Rad darf ich in den Gang des D-Zugwagens (nach Przemysl an der ukrainischen Grenze) stellen und ein freundlicher Mitreisender spielt den Dolmetscher zwischen dem Schaffner und mir. Ich muß in Opole (Oppeln) und in Kedzierzyn-Koszle umsteigen und kann nicht bis Glucholazy, sondern nur bis Nove Swietow mit der Bahn weiter, aber von dort gäbe es eine Straße in landschaftlich schöner Umgebung, die direkt zum Grenzübergang nach Tschechien führe.

Der Schaffner im Anschlußzug nimmt lebhaften Anteil an meinem Vorhaben, hilft mir in Nove Swietow aus dem Zug und geleitet mich bis zur Straßenausfahrt und wünscht mir gute Fahrt
Etwas zögerlich fahre ich auf der Straße auf die Berge zu, es ist das erste Mal mit Gepäck und die leichte Steigung treibt die ersten Schweißperlen. Radwege sind hier unbekannt und an das Donnern beim Überholen durch Bau-Lastwagen muß ich mich erst gewöhnen.

Glucholazy ist eine typische schlesische Kleinstadt, der Rynek (Ring) ist ein großer rechteckiger Platz im Zentrum, um den sich alte Handwerkerhäuser und Geschäftshäuser scharen. Außergewöhnlich die Blumenpracht um die Bänke und den Brunnen.
Ein Stadtteil heißt Zdroj, was nichts anderes als Kurbad heißt, dort finde ich tatsächlich sogar Kuratmosphäre vor. Die Jugendherberge in einem Schulzentrum sieht nicht gerade einladend aus, mal sehen, wie es hinter der Grenze aussieht.
Nun geht es aber richtig bergauf, so steil, dass ich zeitweise schieben muß. Für einen Radler aus der Ebene eine ganz neue Erfahrung festzustellen, dass man auch beim Schieben gehörig aus der Puste und ins Schwitzen kommt. Aber schon an der Grenze geht es weit bergab in den ersten tschechischen Ort Zlate Hory.

Unterkünfte werden hier reichlich angeboten. Ich leiste mir erst einmal eine Ortsrundfahrt und am Bankautomaten ziehe ich Bargeld. 4000 Kronen ist das Maximum, was der Automat hergibt, aber wieviel die wert sind, kann ich mir an Hand der Aushänge hier nicht ausrechnen. Als ich dann in der Pension zur blauen Tulpe ein nagelneues Zimmer mit Duschbad für 300 Kr. bekomme, weiß ich immer noch nicht, ob das billig oder teuer ist, gepflegt jedenfalls ist es und die Küche ist ausgezeichnet. Und das Bier schmeckt so gut wie noch nie.

Tags darauf gilt es, Karlsbrunn zu finden. In meiner 1988er Autokarte für die Tschechoslowakei gibt es einen Ort Karlovice und einen Ort Karlova studanka, der Ort Vrbno für das frühere Würbenthal ruft vage Erinnerungen wach, aber niemand hier kann mir die alten deutschen Bezeichnungen nennen. Da Karlova studanka am nächsten am Praded, dem Altvatergipfel liegt, peile ich dieses Ziel an. 35 km für den ersten Tag im Gebirge halte ich im übrigen für kräfteschonend und angemessen. Sehr erstaunt bin ich, als unmittelbar am Ortsausgang von Slate Hory rechts ein beschilderter Radweg steil in den Berg abbiegt zu einem Ziel mit tschechischer Bezeichnung, die ich in meiner Karte nicht fmde. Ich bleibe auf der Straße, aber auch da geht es nach kurzer Einleitung steil bergauf.

Nach 40 Minuten Schieben fmde ich mich in kühler Höhenluft auf dem Scheitel eines Passes wieder. Zu meinem erneuten Staunen kommt von rechts oben eben jener Radweg wieder zurück zur Straße, der unten so steil nach oben geführt hatte. Und der führt kurz darauf nach links bergab wieder zu einem Ort, den meine Karte nicht kennt.

Der Radweg hat sogar eine vierstellige Nummer, also muß es doch ein ausgeklügelte Radwegenetz hier geben, zu dem mir leider nur die zugehörige Karte fehlt. Ich bleibe auf der Straße und werde mit 12 km leichtem Gefälle belohnt, wo ich das Rad mal so richtig schön fahren lassen kann.
Der Verkehr hält sich in Grenzen, will sagen, alle 5 Minuten begegnet mir ein Auto oder überholt mich eins.
Und dann diese Ausblicke auf Bergwiesen und bewaldete Höhen!
Der schöne Ausblick wird getrübt durch die Straße, die ich am gegenüberliegenden Hang den Berg wieder hinaufführen sehe. Wenn ich da auch rauf muß ?
Ich brauche es nicht, denn nach Vrbno geht es noch weiter bergab, und ich genieße die Wettfahrt mit einem Trabbi, der mich nicht zu überholen wagt. Von Vrbno an geht es im Tal eines Baches wieder bergauf nach Karlova studanka, eine weitere Konditionsprobe, bei der ich dieses mal aufs Schieben verzichte.
Schon um 12.30 Uhr passiere ich das Ortsschild Karlova studanka und hinter einer Kurve befinde ich mich in einer anderen Welt.
Ein Kurortmuseum tut sich auf, bestehend aus großen Hotels oder Kliniken, alles aus Holz mit gepflegten Kuranlagen und, mitten im Ort, dem Wahrzeichen, einem frei zugänglichen Naturbrunnenhäuschen, wo der Gast kohlensäurehaltiges Eisenkarbonatwasser direkt aus der Quelle trinken kann.

Ich koste auch mal davon und sofort erkenne ich nach 57 Jahren diesen einzigartigen Geschmack wieder.
Jetzt weiß ich genau, das hier kann nur das frühere Karlsbrunn sein. Ich fülle mir einen halben Liter in meine Getränkeflasche ab und beschließe, hier erst einmal Rast mit "Brotzeit" aus meinen mitgebrachten Essensvorräten zu machen.
Am Ortsrand finde ich einen geeigneten Rastplatz, zu dem auch eine Pension "u Peterku" gehört, in der ich für 25 DM übernachten kann.
An Hand der Geldumtauschsätze, die bei der Kurverwaltung aushängen, rechne ich einen Gegenwert von 450 tschechischen Kronen aus - da habe ich die Nacht vorher ja für nur 17,50 DM übernachtet! Und der halbe Liter Bier mit 13 Kronen hätte dann nur 0,75 DM gekostet!
Ich nehme mir das angebotene Zimmer, eins der letzten freien im Ort übrigens und, weil der Tag ja noch lang ist, mache noch eine Fußwanderung in Richtung Altvatergipfel.
Der Aufstieg neben dem tosenden Bach könnte in den Alpen kaum aufregender sein:
1998 waren hier die verheerenden Niederschläge gefallen, die das Hochwasser an der Oder ausgelöst hatten. Da hatten die Wassermassen Bäume entwurzelt und zu Tal geschleudert, Felsnasen unterhöhlt und zum Einsturz gebracht, Brücken weggerissen, kurz, ein Chaos hinterlassen.
Da man das Naturschutzgebiet Praded nicht verändern und die Natur sich selbst überlassen will, kann man nun, nach 2 Jahren, sehen, wie wirklich wilde Natur aussieht.
Und, wenn man sie durchwandert, können auch gut markierte Wanderwege zu Abenteuerpfaden werden.
So beim mehrfachen Seitenwechsel des Weges am Bach talaufwärts, wo die Handläufe der Ketten zum Festhalten viel zu hoch liegen und kein Verlaß darauf ist, dass der nächste Stein, auf den man tritt, nicht vielleicht davonrollt.
Nach fast 2 Stunden Aufstieg komme ich an die Waldgrenze zur Baborka, einer riesigen Holzhütte mit Gaststube und Hotel, in der ich mir bei einsetzendem Nieselregen zwei kühle Helle gönne, halbliterweise, versteht sich.
Der Rückweg wird nicht so halsbrecherisch, weil es einen zweiten Pfad mit roter statt gelber Markierung gibt, der oberhalb des Baches führt und nun von oben her dramatische Ausblicke in das Chaos an umgestürzten Bäumen unterhalb liefert.
Als ich beim Einbruch der Dunkelheit wieder ins Quartier komme, weiß ich, dass ich die kommende Nacht gut schlafen werde.
Aber dem ist nicht so, die ganze Nacht meine ich das Rauschen des strömenden Regens zu hören und mache mir Gedanken, was ich bei so einem Wetter nur am kommenden Tag anstellen kann. Als ich morgens bei strahlender Sonne aufwache, rauscht es draußen immer noch. Klar, der Bach führt direkt neben dem Haus vorbei....

© Manfred Sürig, 2011
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Die Reise
 
Details:
Aufbruch: 28.08.2000
Dauer: 4 Wochen
Heimkehr: 21.09.2000
Reiseziele: Tschechische Republik
Slowakei
Ungarn
Der Autor
 
Manfred Sürig berichtet seit 18 Jahren auf umdiewelt.