Komm! Draussen wartet die Welt ...

Reisezeit: September 2007 - September 2008  |  von Nicola Stratmann

"Scary-Nasi" - die ersten Eindruecke: Sleepless in Varanasi ...

... schon wieder!

Ich glaube meine Schlafstoerungen hier in Varanasi haben tatsaechlich etwas damit zu tun, dass ich tagsueber nicht wirklich Zeit fuer mich finde, um die ganzen Eindruecke zu verarbeiten.
Mein Gehirn hoert einfach nicht auf zu "denken" und so muesst ihr euch jetzt das anhoeren, was ich letzte Nacht aufs Papier gebracht hab.

Ich habe im vorherigen Kapitel geschrieben, dass ich kultur"geschockt" war. Ich habe Varanasi als die bisher emotionsgeladenste Erfahrung in Indien beschrieben - warum eigentlich genau?! Lasst mich noch einmal versuchen zu erklaeren ...

Der Philosoph Bernhard Waldenfels schreibt folgendes:

"Fremdheit beginnt bei mir selbst, oder sie bedeutet nicht viel."

Was meint er damit? Nun, ich habe mich in meiner Diplomarbeit intensiv mit seinem Konzept der 'Fremdheit' auseinandergesetzt und erlebe nun gerade am eigenen Leib, wie sich genau dies in meinen persoenlichen Erfahrungen wiederspiegelt.

Heute morgen um 5 Uhr bin ich mit dem Boot rausgefahren, um die Pujas der Hindus bei Sonnenaufgang vom Wasser aus zu beobachten. Die meisten von ihnen haben an den Ghats geschlafen, denn sie kommen von weit her und fangen bereits um 4 uhr frueh wieder an zu 'feiern', bereiten sich auf den Sonnenaufgang vor.

Ich habe mich fuer die Bootsfahrt entschieden, weil ich mich ganz bewusst reaumlich von ihnen entfernen und sie von dort aus bei ihren Zeremonien 'beobachten' wollte.
Wie fremd ist mir doch ihre Art zu feiern, wie wenig kann ich ihre Emotionen bei den Pujas nachfuehlen ... die hinduistische Religion, die die Kultur der Menschen so sehr praegt, ist mir so fremd und sie fasziniert mich, gerade deswegen.

Aber - und darueber habe ich mir heute Nacht noch eimal Gedanken gemacht - ihre Fremdheit kann mich eben auch 'schockieren'. Wenn ich hier in Varanasi also von der mir fremden Kultur 'geschockt' bin, so hat dies - folgt man den Worten Waldenfels - etwas mit mir selbst zu tun. Mehr noch - die schockierende Erfahrung von Fremdheit spielt sich allein in mir selbst ab.

Nur ganz kurz und knapp zum Hintergrund: Waldenfels ist ein Phaenomenologe. In der Phaenomenologie wird nichts als von vorne herein 'objektiv gegeben' angesehen, sondern es ist immer die Art und Weise, wie einem etwas erscheint(ob nun persoenlich oder auch kulturell gepraegt), die es erst zu einem 'etwas' fuer uns macht.
Vielleicht ein wenig zu komplex fuer einen Reiseblog, aber ein paar 'Hirnkraempfe' koennen auch Spass machen!

Fremdheit an sich gibt es aus phaenomenologischer Perspektive im Grunde nicht. Fremdheit beginnt bei 'mir selbst', denn das 'Gegenstueck' zur Fremdheit ist die Vertrautheit. Um Fremdheit ueberhaupt wahrnehmen zu koennen, braucht es also Vertrautheit.
Es ist folglich nicht der, die oder das 'Andere' an sich, was ich hier als fremd empfinde, sondern fremd ist allein die Wirkung, die es auf mich - auf das mir Vertraute - hat.

Mit der Liebe verhaelt es sich uebrigens aehnlich - Paulo Coelho, dessen Buch "Eleven Minutes" ich gerade lese - benutzt dafuer wunderschoene Worte, wie ich finde:

"Love is not to be found in someone else, but in ourselves; we simply awaken it.
But in order to do that, we need the other person."

Ich rede jetzt nicht (mehr) von Rationalitaet, sondern von reiner Emotionalitaet (darum auch der Vergleich mit der Liebe).

Ich wusste, was mich hier in Varanasi erwarten wird. Ich wusste, dass die Hindus ihre Toten am Ganges oeffentlich verbrennen, um ihre Asche dem heiligen Fluss zu uebergeben. Ich wusste, dass Leben und Tod in dieser Stadt sehr eng miteinander verbunden sind. Ich war rational vorbereitet auf Varanasi.

Aber war ich es auch emotional?! Nein. Fuer mich war es gerade das, was mir ja 'rational' so bekannt war, was 'mein vertrautes Fass' fast zum ueberlaufen gebracht haette - der alltaeglich praesente Tod, den ich hier mit allen Sinnen wahrnehme, ob ich es moechte oder nicht.

Ich musste mich uebergeben, als ich die erste Wasserleiche sah, ein paar Meter weiter spielende Kinder im selben Fluss. Mein Kopf haette erklaeren koennen, mein Gefuehl hingegen war ueberfordert. Und zwar in einem Masse ueberfordert, dass ich nicht laenger 'Herrin' ueber meinen eigenen Koerper war: Die emotionsgeladenste Erfahrung im mir fremden Indien, erfahren am eigenen Leib.

In diversen wisseschaftlichen Theorien spricht man - grob gesagt - von verschiedenen "Phasen" eines Kulturschocks.

Am Anfang steht hiernach die Idealisierung: alles ist neu, aufregend, anders, besser ... einfach nur toll!
Dann kommt die Ablehnung: Es ist zu dreckig, die Bettler fangen an zu nerven, den Indern kann man generell nicht trauen ... ich will Heim!!

Und letztendlich fuehrt die Phase der Ablehnung dann zur Abwertung der fremden Kultur, indem sie mit der eigenen verglichen und als 'nicht gleichwertig' herabgstuft wird. Man zieht sich in seine vertraute Welt zurueck, hat seine Erklaerung fuer das Unwohlsein in der Fremde gefunden und freut sich auf 'Daheim'.

Oder aber - und das passiert gerade in Indien auch nicht gerade selten - man gibt sich dieser fremden Kultur voellig hin, versucht sie zu uebernehmen, wandert aus und verurteilt ab sofort die eigene Kultur.

Soviel - ganz kurz, knapp und viel zu oberflaechlich - zu den wissenschaftlichen Theorien

Das 'Ende' eines Kulturschocks ist demnach haeufig ein 'krasser Rueckzug', ob in die eigene vertraute Kultur, oder aber in die fremde Kultur. In meinen Augen ist keiner der beiden Wege erstrebenswert, denn die wahrgenommene Fremdheit wird auf diese Weise nicht 'ausgehalten' und reflektiert, sondern verdraengt und somit 'ausgeloescht'.

Aber: What to do?!

Meiner Meinung nach kann der 'vorzeitige'(i.S. von nicht so krass) und gleichzeitig zeitlich begrenzte Rueckzug ein Weg sein, mit 'schockierenden' Erlebnissen von Fremdheit in der Fremde auf produktive Weise umzugehen.
Viele der Touristen - und auch ich selbst - muten sich vielleicht zuviel zu. Die 'Grenze', das ist klar, ist bei jedem einzelnen an einer anderen Stelle, aber es gibt sie bei jedem, so wuerde ich es jetzt mal behaupten.

Was aber ist so schlimm daran, sich von Zeit zu Zeit zurueck zu ziehen, wenn man merkt, das es zuviel wird?

Ich habe schliesslich fast 29 Jahre lang in einer (meiner) Kultur gelebt, bin durch sie gepraegt und fuehle mich daher ganz logischerweise am 'sichersten', wenn ich mich in ihr bewege.
Es ist doch ganz normal sich 'schuetzen' zu wollen, wenn man das Gefuehl hat, den Boden unter den Fuessen zu verlieren. Wenn die Verunsicherung so gross wird, dass man seine Emotionen nicht mehr kontrollieren kann, wenn man spuert, wie man den Zugang zu sich selbst verliert, dann macht das Angst. Klar.

Die Erfahrung von Fremdheit ist nicht zu unterschaetzen, wie ich es hier in Varanasi selbst erfahren habe.
Fuer mich ging und geht es also darum, mir Zeit zu geben, all die 'fremden' Eindruecke , die sich unweigerlich in die Seele einbrennen, reflektieren und verarbeiten zu koennen.
Und da die Fremdheit bei mir selbst beginnt und in mir selbst ihre Wirkung entfaltet, liegt es doch mehr als nahe, zunaechst dortin zurueck zu kehren.

In der 'Lotus Lounge' habe ich meine Sicherheit wiedergewonnen, ohne die ich mich nicht haette weiter 'oeffnen' koennen fuer Varanasi. Die 'Schotten' waeren dicht gewesen, was zuviel ist ist zuviel.

Vielleicht ware das letztendlich auch ein Grund gewesen, die Reise abzubrechen und nach Deutschland zurueck zu kehren.
Ich moechte damit nicht sagen, dass ein vorzeitiger Abbruch der Reise fuer mich nicht in Frage kommt oder etwas negatives waere. Wenn ich den Wusch habe, dann werde ich ihm auch folgen.
Aber nur dann, wenn ich mit einem guten Gefuehl das mir fremde Land verlassen kann. Ich moechte versuchen, mich meinen 'Schocks' dort zu stellen, wo sie mich treffen.
Nur dann kann ich sie in einer Weise verarbeiten, die den Respekt vor der mir fremden Kultur wahrt. Denn eine Abwertung 'Anderer', die aus der Angst vor meiner eigenen Unsicherheit im Kontakt mit eben diesen 'Anderen' resultiert, ist respektlos. Respekt ist es nun aber, was ich selbst immer propagiere und was ich auch von den Menschen erwarte, auf die ich fremd wirke.

Und Respekt hat sie verdient, jede 'uns' fremde Kultur - egal, wen das 'uns' bezeichnen mag - aber erst recht, wenn wir sie bereisen ... Das ist meine Meinung -

Fuer mich heisst es daher weiterhin: Komm! Draussen wartet die Welt ... und ich freu mich tierisch, auf mein naechstes Abenteuer: Kalkutta!

© Nicola Stratmann, 2007
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Meine Reise nach Indien, Sri Lanka, Thailand ... und was mir sonst noch begegnen möchte.
Details:
Aufbruch: 15.09.2007
Dauer: 12 Monate
Heimkehr: 03.09.2008
Reiseziele: Indien
Havelock Island
Thailand
Der Autor
 
Nicola Stratmann berichtet seit 17 Jahren auf umdiewelt.
Reiseberichte von Nicola sind von der umdiewelt-Redaktion als besonders lesenswert ausgezeichnet worden!
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