Leite mich auf den Weg, der von der Dunkelheit ins Licht fuehrt

Reisezeit: März 2010 - Januar 2011  |  von Guyaine Hemmer

Jemand erhoert; erhoert nicht. Hoert er?

Goodbye Germany. Ich war Passagier eines AirIndia Fluges von frankfurt nach Delhi. Schon im Flugzeug war der Geist der indischen Mentalitaet spuerbar. Eine Frau legte ihr Kind auf ihrem Platz schlafen und quetschte sich neben mir auf den Sessel. Sie hatte die Gabe, mich durch nichtige Fragen gespraechig zu halten. Eigentlich recht amuesant... Nachdem die Haelfte des Fluges zurueck lag, viel mir ploetzlich ein, dass ich den Leuten des Ashrams gesagt habe, ich kaeme am Mittwoch in Delhi an. Ray- ein Australier, der hier mehr oder weniger das Sagen hat und mit seiner Familie hier wohnt (Louise- seine Frau, 2 Kinners) wollte mich am Mittwochabend abholen, da der Weg von Delhi zum Ashram doch was laenger ist. Leider sass ich aber am Dienstag im Flugzeug und wuerde um ca. 22:30 in Delhi ankommen. Ich aergerte mich tierisch ueber meine Verplantheit und hegte die Befuerchtung, dass meine erste Nacht in Delhi schrecklich werden wuerde, denn ich hatte weder eine Telefonnummer, noch eine Adresse des Ashrams. Ich schloss ganz schnell meine Augen, um nicht ueber das Grauen nachdenken zu muessen -vor Ort koennte ich wohl besser abschaetzen, was zu tun ist. Ich habe kurz gebetet, dass alles gut wird und ich mir nicht die Nacht allein am Flughafen um die Ohren schlagen muss. Als ich aufwachte, war das Flugzeug schon im Anflug auf Delhi. Schnell stellte ich fest, dass es am Flughafen kein Internet gab und als mich eine Gruppe junger Kerle ein wenig bloed anmachte, hob das meine Laune auch nicht. Den Traenen nahe -ja, ich geb's zu- stellte ich mich neben einen Polizisten, um mich ein wenig sicherer zu fuehlen. Ganz in der Naehe standen ein Deutscher und ein Inder. Der Inder bemerkte, dass ich doch ganz traurig aussaehe und ob ich irgendwie Hilfe braeuchte. Ich schilderte den beiden meine missliche Lage, woraufhin sie mir erzaehlten, dass sie grade auf dem Weg zu einem Aurobindo Ashram (Ashram ist die Bezeichnung fuer ein geistliches Zuhause und Aurobindo ist ein schon vertorbener Meditationslehrer. Alles ein wenig eso, glaube ich.). Als normaler Touri kommt man ohne Weiteres nicht in diesen Ashram, aber wir erzaehlten den Leuten, ich sei die Schwester des Deutschen, was mir ein sauberes Einzelzimmer und Vollpension einbrachte -STRIKE!

Es stellte sich heraus, dass der Deutsche RTL2-Journalist war, der grade nen Videodreh ueber ein indisches Fest machen will. Wir haben uns total gut verstanden und als ich um halb eins im Bett lag, dachte ich nur: Wow, Gott ist treu. Es war so, als haetten die zwei am Flughafen auf mich gewartet, denn sie haetten schon viel frueher zum Ashram fahren koennen.
Am naechsten Morgen erlaubte mir die Ashramleitung "ausnahmsweise" mal das Internet zu benutzen. Ausnahmsweise, weil das Buero fuer Gaeste nicht zugaenglich ist; aber weil ich eine so nette Hindi-bolne-vala (Hindisprechende) war, drueckten sie ein Auge zu. So suchte ich die Adresse des Ashrams raus -die im Internet angegebene Telefonnummer half mir nicht weiter. Die Jungs brachten mich zu einer zentralen Metrostation, von wo aus ich bis zur noerdlichsten Station Delhis fuhr. Narela, der Stadtteil, in dem der Sewa Ashram ist, verfuegt ueber keine Metrostation. Ich musste also noch einen Rikshafahrer finden, der es gut mit mir meint. Der erste wollte mich absolut uebers Ohr hauen. Ploetzlich kam ein anderer, zog mich weg und meinte, dass dieser Typ nicht in Ordnung sei. Ich sagte ihm, wo ich hin wollte. Leider hatte ich in der Zwischenzeit wieder den Zettel mit der Adresse des Ashrams verlohren. Ich konnte also nur "Sewa Ashram in Narela" sagen und er meinte, er selbst wohne auch in Narela und koenne sich easy durchfragen. Er war so gut!!! Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Inder freuen, wenn man sich ein wenig mit ihnen auf Hindi unterhalten kann. Den Leuten geht dabei richtig das Herz auf und meins damit auch. Man begegnet sich auf Augenhoehe, in Sympathie, in Wohlwollen auf beiden Seiten. Freundschaften zu schliessen war nie so einfach. Seit meiner Landung in Indien fuehlte ich mich spuerbar beschuetzt. Es gibt einfach nichts auszusetzen...

Der Ashram von vorne

Der Ashram von vorne

Meine Ankunft im Sewa Ashram verhielt sich eigentlich recht unspektakulaer -nichts anderes habe ich mir gewuenscht. Ich rasselte direkt in eine mir ungewohnte Situation: Santosh -ein ca. 19Jahre alter Junge lag in der Klinik und Uwe -ein Krankenpfleger, der die Leitung der kleinen Klinik des Aschrams hat, war darum bemueht, Santosh irgendwie am Leben zu halten. Die Tuberkulose ( http://de.wikipedia.org/wiki/Tuberkulose ) hatte sine Lungen schon regelrecht zerfressen. und nur noch 40% der Lunge war intakt. Ich sass nur da und schaute Uwe zu; er erklaerte mir, was er machte. Santosh war so abgemagert -ein Skellett, dass ohne Atemgeraet nicht atmen konnte. Er konnte kaum essen und trinken, weil er so arge Schmerzen beim Schlucken hatte und die Atemnot hatte ihm die letzten drei Tage keinen Schlaf gegoennt. Er war total fertig.
Ich habe die ganze Zeit ueberlegt, ob ich einfach fuer ihn beten sollte, habe mich aber nicht getraut, dass laut vor Uwe zu aeussern. Irgendwann fragte er mich, ob wir zusammen fuer ihn beten koennten, weil die medizinischen Moeglichkeiten einfach erschoepft waren. Irgendwie empfand ich das als direkte Herausforderung, denn ich hatte Angst. Angst, mein Gebet koennte unerhoert bleiben. Ich weiss gar nicht, wie ich beschreiben soll, was in mir vor ging:
Ich setzte mich neben Santosh aufs Bett, legte meine Hand auf sein Bein -ich haette seine beiden Beine mit einer Hand umgreifen koennen. Ich habe sowas noch nie gesehen und einen so kranken Menschen noch nie beruehrt. Die Gebrechen, fuer die ich sonst gebet habe, waren Kopfschmerzen, Bauchweh, Zahnschmerzen, Durchfall (davon kann ich grad ein Liedchen singen!! Nee, mehr ne Ballade!); aber fuer einen Menschen, der im Sterben lag noch nie. Wenn die "kleinen Gebrechen" nicht direkt geheilt werden, ist das nicht schlimm, denn im Notfall kann man immer noch zum Arzt gehen. Bei einem Menschen, dem medizinisch aber nicht mehr geholfen werden kann und der sich zwischen Leben und Tod befindet, sieht sie Sache anders aus...

Da ist es aus mit grossen Worten. Uwe und ich haben wie kleine Kinder gebetet. Mein Hirn war so blockiert und ich konnte kaum klar denken. Ich war mir so im Klaren darueber, dass ich da aus meiner menschlichen Kraft nix machen konnte. Waehrend wir beteten, sah Santosh mich die ganze Zeit mit seinen grossen mueden Augen an. Irgendwie war das alles zu viel fuer mich und ich konnte mich nicht mehr darauf konzentrieren, mehr vom Ashram zu sehen. Ich bin erst mal pennen gegangen.

Am naechsten Tag haette ich vor Freude ausrasten koennen, als es um Santosh wieder besser stand. Es war wirklich ein Wunder!!! Er konnte in der Nacht schlafen, wo die Sauerstoffsaettigung am Tag zuvor bei 40 lag, war sie nun bei 80 ( normalerweise beim gesunden Menschen bei 90-95) und er konnte ohne Atemhilfe atmen. Er hatte auch Hunger und trank und hatte Appetit auf Fruechte. Was fuer eine Gebetserhoehrung!
Und jetzt das Unverstaendliche: am naechsten Morgen ist er zwischen 5 und 6Uhr einfach gestorben. So wie das jetzt auf den Leser wirken mag, wirkte es auch auf mich, als ich zum Fruehstueck ging und mir das erzaehlt wurde. Bamms. Punkt. Das war an Karfreitag.
Am Morgen hatte ich noch in der Apostelgeschichte gelesen, wie Paulus Tabitha von den Toten auferweckt hatte. Ich fragte Gott, ob das jetzt ein Witz sein sollte.

Santoshs Leichnam in der kleinen Kapelle

Santoshs Leichnam in der kleinen Kapelle

Ich wurde wuetend und fuehlte mich ueberfordert. Uwe hat das irgendwie mitbekommen und mich in dem Punkt voll gut aufgefangen. Ich sass neben Santoshs Leichnam in der kleinen Kapelle und erzaehlte Uwe, dass ich mich grade total herausgefordert fuehlte, fuer eine Aufersteheung zu beten. Ich kam mir so bloed vor. Uwe erzaehlte von ein paar Wundern, die er erlebt hatte, was mich vielleicht ein wenig mehr ermutigte, aber fuer die Aufersteheung eines Toten zu beten schien mir doch ne andere Liga zu sein. Vor allem habe ich mich die ganze Zeit gefragt, ob ich auf Hindi beten muesste, damit das Santosh mich im Falle des Falles ueberhaubt versteht. Ich ueberlegte die ganze Zeit, wie ich es sagen koennte... "Utho" (steh auf)? Da ich mir nicht sicher und auch meine Angst zu reoss war, bin ich zu den anderen Patienten gegangen, die grade einen "Jesusfilm" anlaesslich des Karfreitags sahen.
Ich sass grade fuenf Minuten vor der Glotze, als eine Szene kam, in der Jesus ein Maedchen von den Toten auferweckte. Da der Film auf Hindi war, konnte ich auch klar verstehen, was er sagte: "Beti, utho!" (Tochter, steh auf).
Mir wurde heiss und kalt und ich fragte mich, ob das nun der Wink mit dem Zaunpfahl sein sollte. Ich schaute zu Santoschs Leichnam hinueber, der sich ca. in 30m Entfernung befand; eingewickelt in ein weisses Leinentuch, mit Blumen versehen. "Wenn ichs nicht wenigstens versuche", dachte ich, "werde ich nie wissen, ob es moeglich ist und ich will mit der Entscheidung nicht leben muessen, dass ich dem Ruf fuer Auferstehung zu beten, nicht gefolgt bin." Also schleppte ich mich rueber in die kleine Kapelle, setzte mich auf Kopfhoehe des Leichnams auf den Boden und meditierte erst mal eine ganze Weile. Ich hatte so ne Angst und habe mich gefragt, was die anderen von mir denken, wenn sie sehen, dass ich vor dem Leichnam in Hindi bete und ihn in Jesu Namen versuche ins Leben zu rufen. Ich wollte meine inneren Motive klar stellen. Ich wollte, dass egal, was passieren wuerde, Gott fuer mich Gott bleibt und ich mir im Klaren darueber bin, dass ich nichts ohne seine Kraft tun kann.

Irgendwann plumpsten mir einfach die Worte "Santosh, abhi sona bas hai. Tumhara prabhu tumko bulaata hai. Utho, Santosh (Santosh, genug geschlafen jetzt. Dein Herr ruft dich. Steh auf Santosh)" aus dem Mund. Nichts geschah. Am selben Tag noch wurde der Leichnam ins Krematorium gefahren und verbrannt.

Karfreitag -Good Friday in Englisch. Was sollte gut an diesem Tag sein, fragte ich mich.
Irgendwann am Tag wurde es mir klar. Ohne diesen Tag, an dem Jesus gestorben ist, gaebe es nichts Gutes -keine Hoffnung. Der Tod war die Vorraussetzung fuer seine Auferstehung. Tod ist eigentlich etwas entgueltiges. Jesus hat aber bewiesen, dass diese Entgueltigkeit mit der engen Beziehung zum Vater gebrochen werden konnte. Liebe bis in den Tod und darueber hinaus. Das ist eine so andere Liebe, als die pervertierte Form der Liebe, die man sonst so kennt. Ein Gott, der sich dem Menschen gleich macht und um der Menschen Willen den Status des Abschaums einnimmt -wie es die Leute in diesem Ashram sind. Sozialer Dreck. Ein Gott, an dem in seiner Menschengestalt nichts goettliches zu sehen ist -jedenfalls nicht von aussen.

Santosh hatte den selben Todestag wie Jesus; nur kam er nicht zurueck ins Leben. Keine Ahnung, was passiert ist. Habe ich zuwenig geglaubt? Hat Gott einfach seine Zeit? Ist waehrend des Gebets zwei Tage zuvor schon etwas in Santosh passiert, was wir von aussen mit unserem Auge nicht sehen konnten? Keine Ahnung.
Es blieb mir persoenlich nicht viel Zeit, darueber nachzudenken, denn es gibt hier so viele Menschen, deren Gemeinschaft wertvoller ist, als ueber einen Toten zu sinnen. Die Lebenden sind es wert, dass ich meine Gedanken in sie investiere.

"Und ein anderer unter den Jüngern sprach zu ihm: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe.
Aber Jesus spricht zu ihm: Folge du mir und lass die Toten ihre Toten begraben!" (Matthaeus 8,21 und 22)

Prit. Er ist geistig behindert und hat eine Art Baenderverkuerzung in den Versen. Er kann nicht alleine gehen, aber er freut sich total an Wasser und liebt es, seine Mitmenschen voll zu sabbern.

Prit. Er ist geistig behindert und hat eine Art Baenderverkuerzung in den Versen. Er kann nicht alleine gehen, aber er freut sich total an Wasser und liebt es, seine Mitmenschen voll zu sabbern.

Mit den Namen habe ichs noch nicht...

Mit den Namen habe ichs noch nicht...

Suraj (rechts) und sein Kumpel. Suraj, sitzt im Rollstuhl- was man hier jetzt nicht so gut sehen kann.

Suraj (rechts) und sein Kumpel. Suraj, sitzt im Rollstuhl- was man hier jetzt nicht so gut sehen kann.

Ich habe es vielleicht schon im vorherigen Kapitel erwaehnt: Trauer und Hoffnung liegen hier so nah bei einander. Aber grade deswegen empfinde ich die Hoffnung umso staerker.
Meine Aufgaben sind es hier nun im Kidshouse mitzuhelfen. Ich werde Englisch- und Musikunterricht geben, haenge mit den Kindern ab, mache ein paar Computersachen, bekomme eine Einfuehrung in die Physiotherapie, da die momentane Physiotherapeutin bald weg ist.
Damit bin ich ausreichend gluecklich beschaeftigt.

Hoert er denn nun? Dass es Santosh besser ging, nachdem Uwe und ich fuer ihn gebetet haben, liessmich nicht daran zweifeln. Dass Santosh nicht wieder aufwachte ist schon schwierig fuer mich, aber im Endeffekt kann ich in solchen Punkten nur die weisse Fahne schwenken und eingestehen, dass ich ein Mensch mit beschraenktem Blickwinkel bin, der nur einen kleinen Zeitabschnitt in Gottes grossem Plan sieht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er einen Plan hat, der Sinn macht. Auch wenncih das jetzt nicht sehe. Wie ein Baby, dass im Bauch waechst: es ist klein, schleimig, hat kaum Augen, kleine Stummel als Beine, kann nicht alleine Atmen und in einer Momentaufnahme wuerde ein Unwissender vielleicht sagen: "Was soll man denn damit? Was kann das denn?"
Ein paar Monate spaeter ist aus diesem kleinen komischen Etwas ein schoener Mensch gewachsen, der im Laufe seines Lebens immer mehr Faehigkeiten erlernt. Ich glaube, so aehnlich ist es mit diesem goettlichen Plan. Dinge reifen und wachsen. Warum etwas passiert. Keine Ahnung. Mein Hirn ist zu klein, um den Masterplan der hoechsten Intelligenz des Universums zu verstehen.
Da beschaeftige ich mich lieber mit den schoenen Kindern hier in Indien...

Mal wieder Weltuntergang!

Mal wieder Weltuntergang!

Man achte auf das Baby oben mittig!!

Man achte auf das Baby oben mittig!!

Mein kleines geiles Zimmer und ich. Fast so unordentlich, wie zuhause. Haette ich nur mehr Sachen mitgenommen!!!

Mein kleines geiles Zimmer und ich. Fast so unordentlich, wie zuhause. Haette ich nur mehr Sachen mitgenommen!!!

© Guyaine Hemmer, 2010
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Freiwilligendienst beim Sewa Ashram in Delhi, Indien.
Details:
Aufbruch: 30.03.2010
Dauer: 9 Monate
Heimkehr: 02.01.2011
Reiseziele: Indien
Der Autor
 
Guyaine Hemmer berichtet seit 14 Jahren auf umdiewelt.