Im Steinernen Meer unterwegs

Reisezeit: Juli 2009  |  von Beate Piehler

5. Tag: Donnerstag den 30.07.2009

So wie ich es meinen drei männlichen "Bergkameraden" angekündigt hatte, ist zeitig Wecken angesagt. Für den heutigen Tag waren für den Nachmittag in Alpennähe vereinzelt Schauern und Gewitter angesagt. Also heißt es, zeitig aufbrechen, um möglichst vor eventuellem Regen im Matrashaus zu sein.
Um 4.40 Uhr, nachdem die Fensterlade zum zweiten Mal gegen die Hüttenwand der Biwakschachtel donnert, setze ich mich auf meiner Pritsche auf, um aus dem Fenster zu schauen. Fern über dem Hohen Göll färbt sich der Himmel rot. Ich greife zum Fotoapparat und schieße das erste Morgenfoto. Es folgen im zehnminütigem Abstand noch weitere vier Fotos vom anbrechenden Tag. Ein Tag, von dem noch niemand wusste, wie und wann er für uns enden würde.

Um punkt halb sechs beginne ich, mein Lager aufzuräumen und mich anzuziehen. Natürlich nicht leise, denn die drei Herren sollten sich ja auch aus ihren Schlafstätten bewegen. Sie murren nicht, als ich die Vorhänge öffne und durch die geöffnete Tür die Morgenluft hereinlasse. Schnell verschwinde ich aufs Naturklo, putze mir mit dem Wasser vom aufgetauten Schnee die Zähne, packe meinen Rucksack, lege Jon Sachen zurecht und nötige auch ihn, sich als Letzter zu erheben.

Um kurz nach sechs sitzen wir um den runden Tisch und frühstücken. Kaffee gibt's heute nicht, dafür die Frühstücksration Schiewasser auf Zuteilung. Lutz stellt zum wiederholten Male fest, dass er nie dialysepflichtig werden will, weil er dann nur so wenig trinken darf. Und wie schwer so etwas ist, merkt man, wenn man sich mit dem wenigen einteilen muss.
Die Rucksäcke stehen bereit und nur noch die Essenreste müssen verpackt werden. Alle tragen langbeinig und langarmig mit einer Jacke darüber. Die Sonne steht zwar schon am Himmel, aber die Luft ist noch frisch.

Wir verlassen die Biwakschachtel so, wie wir sie vorgefunden hatten, schließen als letztes die Fensterläden und die Tür. Natürlich muss ich auch hier das obligatorische Abmarschfoto schießen. Das Kommando danach lautet, zum Spaß aller: "Rührt euch!" Es ist 6.30 Uhr.

Abschied von der Biwakschachtel und dem Wildalmkirchl.

Abschied von der Biwakschachtel und dem Wildalmkirchl.

Es geht über ein Schneefeld und dann bergauf. Wir ersteigen in einer dreiviertel Stunde das Brandhorn mit seinen 2610 Metern. Das hätten wir nicht erwartet, dass wir dort drüber müssen. Was soll's. Wir halten uns nicht länger auf und steigen auf der anderen Seite wieder hinunter, um über den nächsten Berg zu steigen. Die Stimmung ist allseits gut, die Sonne scheint schon seit dem Frühstück, der Wind ist frisch, so dass man noch nicht ins Schwitzen kommt: was will man mehr?

Der Weg wird schwieriger und Jürgen nimmt Jonathan als Seil, damit nichts passiert. Um neun, nachdem Jonathan zum ersten Mal vor zehn Minuten nach einer Pause gefragt hatte, finden wir ein (relativ) windstilles Plätzchen in einer Senke, bevor es wieder hinunter in eine Senke geht. Es gibt die von mir festgelegte Ration Schiewasser und Waffeln als Pausensnack. Wir lachen, albern und legen schon die Stelle fest, wo wir Mittagsrast machen wollen. Hinter zwei weiteren Gipfeln und den auslaufenden Bergrücken können wir ein grünes Bergplateau erkennen. Das ist erst Mal unser nächstes Ziel, das wir über weitere Bergrücken um 10.30 Uhr erreichen. Wir sind schon mal rechtschaffen kaputt. Wir verkriechen uns in eine Senke, weil der Wind fürchterlich pfeift und uns fast die Kappen vom Kopf reißt. Wolken sind aufgezogen und das nimmt uns die richtige Ruhe zum Picknicken. Jürgen hat gar keinen Hunger, muss aber was essen. Trinken gibt's wieder eine Tasse voll. Nun haben wir noch einen Liter übrig. Jonathan und Lutz machen noch ihre Späßchen, aber ansonsten herrscht schon eine leicht angespannte Stimmung. Um das zu überspielen, beginnen wir uns auszumalen, was wir der Reihe nach im Matrashaus verspeisen werden und was jeder als erstes Trinken wird. Das ist ein Gaudi und allen ist klar, dass keiner das von ihm aufgezählte jemals essen und trinken kann.

Das Matrashaus, unser Ziel, haben wir schon in recht weiter Entfernung auf dem Hochkönig sehen können und nur Jonathan sprach es laut aus: "So weit noch?" Wir haben es uns im Stillen gedacht, ohne es auszusprechen. So treibt uns eine innere Unruhe nach 15 Minuten weiter.

Die hinterste Bergkulisse, der rechte obere Huckel (davor ist Schnee zu erkennen), dort drauf sitzt das Matrashaus.

Die hinterste Bergkulisse, der rechte obere Huckel (davor ist Schnee zu erkennen), dort drauf sitzt das Matrashaus.

Hier erkennt man das Matrashaus etwas besser, nachdem ich den Hochkönig rangezoomt habe.

Hier erkennt man das Matrashaus etwas besser, nachdem ich den Hochkönig rangezoomt habe.

Es geht über die grüne Ebene dahin, dann in eine Scharte hinab, von der wir später erfahren, dass es die Torscharte ist. Ein riesiger Strommasten stört die Idylle auf diesem schönen Fleckchen Erde. Die Leitung führt über dieses Plateau und versorgt die Täler zu beiden Seiten mit Strom. Rechts unten liegt der Ort Hintertal, rechts können wir keine Ortschaft ausmachen.

Natürlich geht es auf der gegenüberliegenden Seite wieder bergauf, wie auch anders? Auf dem Gras lässt es sich gut laufen, endlich mal nicht über Steine stolpern. Jeder kann laufen, wie er will, nur aus dem Gras lugende Steinbrocken weisen die rot-weiße Markierung auf. Einen richtigen Weg gibt es nicht, diesen Berghügel hinauf. Dann beginnt Schotter und Geröll. Ein Steinhaufen trägt zwei Schilder. Beide Pfade führen zum Hochkönig, der Mooshammer Steig führt über den Hochseiler Gipfel drüber und der linke Weg, der Herzogsteig, führt um den Berg drumherum, so wie es den Anschein hat. Jürgen holt die Karte raus und die Beratung fällt relativ kurz aus, da niemand von uns Bock auf eine Gipfelbesteigung mehr hat. Auf dem Schild mit dem Hinweis "Hochkönig über Herzogsteig" stieg steht das, was wir gar nicht wissen wollten: 4 Stunden! Erstaunlicherweise steckt Jonathan diesen Schock am besten weg. Es ist halb zwölf, also lassen wir uns nicht verrückt machen. Deswegen sind wir ja so früh aufgestanden. Allerdings hatte ich angenommen, dass wir bis hierher den größten Teil der Strecke schon geschafft hätten. Und nicht zum ersten Mal auf dieser Tour ärgere ich mich, dass ich mich vorher nicht belesen hatte. Ohne jeglichen Kommentar zu den vier Stunden ziehen wir in Serpentinen das Geröllfeld weiter bergauf. Diesen Weg hatten wir schon vom letzten Bergrücken aus sehen können. Es folgt ein steiles Schneefeld, vor dem nicht nur ich Angst habe. Jürgen, Jonathan und ich entschließen uns, weiter nach oben zu gehen und über Felsen zu steigen, um das Schneefeld zu umgehen. Aber das, was von unten immer so einfach aussieht, ist es nicht unbedingt. Die Felsplatten sind auch recht steil und bieten wenig Halt für unsere Füße. Die beiden Männer schaffen es mit vereinten Kräften, Jürgen immer Jonathan unterstützend, auf der anderen Seite anzukommen. Mir werden meine Stöcke zum Verhängnis. Beide zusammen in der rechten Hand, dem Berg zugewandten Seite, ist es mir unmöglich, irgendwo Halt zu finden. Ich kriege Angst und das macht die Situation nicht einfacher. Die Knie werden weich und ich kehre um. Beim Wendemanöver stehe ich im Vierfüßerstand. Plötzlich klappert es und mein Schirm rollt den Fels runter. Gott sei Dank landet er in der Felsspalte, in die ich ohnehin zurück wollte. Das Rufen von der anderen Seite nervt, wobei die Rufer außerhalb meines Sichtfeldes hinter den Felsen sind. Sie wissen nicht, wo ich bin und wo ich bleibe. Entnervt werfe ich den Rucksack ab, stecke den Schirm richtig in den Rucksack und die Stöcke bringe ich außen an. Jetzt habe ich beide Hände frei und starte nun den zweiten Versuch, die schräge Felsplatte zu überwinden. Dieses Mal klappt es und wir zeihen weiter. Zu der vorhergehenden Situation sage ich nur, dass ich meinen Schirm aus dem Seitenfach verloren hatte und ihn erst verstauen musste.

Ein weiteres Geröllfeld queren wir problemlos. Dann beginnt Fels. Nicht lange und die Kletterei beginnt. Jonathan steigt in sein Gurtzeug und wird von Opa gesichert. Soweit, so gut. Der Steig ist teilweise versichert. Stahlseile und einige Krampen bieten Halt. Allerdings ist es für Jonathan schon eine beachtliche Leistung, so steil zu steigen.

Beachtliche Kletterei.

Beachtliche Kletterei.

Ich gehe hinter ihm und halte ihn an kritischen und ausgesetzten Stellen an seinem Gurt unterstützend fest, so dass er sich sicherer fühlt. Ab und zu lasse ich mich zurückfallen und flüstere mit Lutz: "Was für ein Wahnsinn! Ich ahne Schlimmes. Wer weiß, wie hoch wir noch müssen und auf der anderen Seite geht's dann am Seil wieder bergab." Wir sprechen leise, damit Jonathan uns nicht hört. Er soll nicht mitbekommen, dass ich mir Sorgen mache. Die Sonne ist hinter Wolken verschwunden und der Wind ist kühl. Der Blick zum Himmel beruhigt nicht gerade.

Dann scheint die Kletterei erst mal vorbei und wir überqueren Geröll- und Schotterfelder, weniger gefährlichere Passagen. Doch man darf nie unachtsam sein, dass weiß mittlerweile auch Jonathan. Kurz drauf beginnt der nächste Klettersteig, seilversichert, mit Eisentritten und als Höhepunkt noch eine Aluminiumleiter, um eine Felsstufe zu überwinden. Jürgen redet unaufhörlich auf Jonathan ein.

Eine Leiter am Fels, und das Klettern geht weiter.

Eine Leiter am Fels, und das Klettern geht weiter.

Ich flüstere Lutz zu, der gerade um den Felsen biegt: "Schau nicht hoch. Du willst es gar nicht wissen!" Was sollte das noch werden? Vor allem ahnte ich, dass es nach dem Abstieg auf der anderen Seite noch einmal "gepunktet" bergauf zum Matrashaus ging. Gut, "gepunktet" war der Weg auf der Karte über die vielen Bergrücken, die wir überstiegen hatten, auch gewesen. Aber die zurückgelegte Strecke war kein Vergleich mit dem, was wir gerade als "gepunktet" begingen, oder besser gesagt, bestiegen. Nachdenken hilft nicht weiter, also steigen. Ich gehe zur Beruhigung für Jonathan hinter ihm die Leiter hinauf und rede mit ihm. Jürgen sichert ihn von oben. Als wir das geschafft haben, merke ich an dem Wortwechsel zwischen den beiden vor mir gehenden, dass etwas nicht stimmt. Jonathan weint, weil er sich gefürchtet hatte. Ich sage Jürgen, er soll sich eine sichere Stelle suchen und pausieren. Als wir die beiden erreichen, schimmern an seinen Wimpern die letzten Tränen. Ich rede mit ihm über seine Angst und dass das ganz normal ist, weil er so was noch nie gemacht hat. Ich erkläre ihm, warum man Leitern anbringt und dass man dadurch einfacher eine fast unüberwindliche, steile Felsstufe hinauf kommt. Jürgen verspricht ihm, dass gleich die Kletterei ein Ende hat. Woher will er das wissen, denke ich mir! Nichts ist schlimmer, als leere Versprechungen. Jonathan bekommt eine extra Ration Trinken aus seiner Flasche. Dann machen wir uns wieder auf den Weg. Die Sonne kämpft sich ab und zu durch die Wolken und sticht dann regelrecht. Kein gutes Zeichen! Als wir um die nächste Felsenecke biegen, ohne nochmal schwierig klettern zu müssen, eröffnet sich uns der Blick ins Tal und Jürgen hatte Recht. Die Kletterei hat ein Ende und es geht unschwer am Fels bergab. Niemand ist erleichterter als Jonathan. Aber ich auch, doch in meine Gedanken mischt sich schon die Sorge vor dem nächsten Anstieg.

Blick auf das Plateau und den beginnenden Gletscher.

Blick auf das Plateau und den beginnenden Gletscher.

Vor uns breitet sich ein riesiges Plateau aus. Felsen und Schnee wechseln sich ab, am oberen Ende erkennen wir einen Gletscher, der mir schon beim Ansehen Angst einjagt. Angst ist am Berg kein guter Berater, also versuche ich das Ganze beiseite zu schieben und mich überraschen zu lassen, wo es lang geht. Dem Matrashaus sind wir ein ganzes Stück näher gekommen, so sage ich es jedenfalls Jonathan, denken tue ich was anderes. Das Haus thront auf dem Bergkamm des Hochkönigs, dazwischen müssen wir scheinbar nicht nur dieses Felsplateau überwinden, sondern allem Anschein nach auch noch einen weiteren Berg. Es sei denn, man schickt uns oberhalb entlang. Es ist 12.45 Uhr und ich denke, wir liegen noch gut in der Zeit. Da noch ab und an die Sonne die Herrschaft am Himmel übernimmt, hoffe ich, dass es noch eine Weile so bleibt. Jonathan entledigt sich seines Gurtzeuges und ich verstaue es wieder in meinem Rucksack. Wir ziehen die Jacken aus und steigen bergab.

Als wir die Ebene erreichen, erkennen wir recht schnell an den deutlichen Markierungen, die weithin sichtbar auf die glatten Felsen gemalt sind, dass es bergauf geht. Erste Nebelschwaden breiten sich aus. Nach einer halben Stunde Steigen über glatt geschliffene Felsen und Schneefelder querend bergauf, machen wir Rast auf bequemen Steinen. Über uns plätschert Wasser in einer Rinne und sofort steht für alle fest: Trinken! Es stimmt wirklich: Durst ist schlimmer als Heimweh! Schon die ganze Zeit über haben die drei Männer vom Trinken gefaselt und dass man umso mehr Durst hat, wenn man weiß, dass nichts greifbar ist. Und dann dies: Ein gut gefülltes Rinnsal, gespeist von irgendeinem Schneefeld. Jonathan ist begeistert, als er mit zwei Flaschen ausgerüstet, für uns dort oben Wasser holen darf. Und wir sind froh, dass wir nicht hinauf müssen. Seine Freude ist noch größer, als er stolz zurück kommt und lauthals verkündet: "Es ist ganz klares Wasser, guckt mal, nichts drinne!" und streckt uns die Flaschen entgegen.

Stolzer Jonathan mit Wasser

Stolzer Jonathan mit Wasser

Ich muss sagen, wenn man Durst hat, ist einem fast alles egal. Jürgen holt das Multivitaminpulver heraus, um das kalte Wasser zu verfeinern. Außerdem kann ein wenig Energienachschub auch nichts schaden. Es zischt förmlich, als alle trinken. Ruck zuck sind die gefüllten Flaschen leer und Jonathan steigt begeistert wieder hinauf. Wir füllen fast alle verfügbaren Flaschen und sind erleichtert, dass wir eine Sorge los sind. Unser Flüssigkeitshaushalt ist erst mal aufgefrischt und den Nachschub von vier Litern verstauen wir sicher in unseren Rucksäcken. Die restlichen 500ml Schiewasser bereichern unser Trinkangebot. So gestärkt und voll des Lobes ziehen wir nach 15 Minuten, kurz vor zwei Uhr, gut gelaunt, trotz des jetzt recht dichten Nebels, weiter. Immerhin sind die Markierungen ausreichend und gut sichtbar. Ich hoffe nur, dass es noch nicht so bald anfängt, zu regnen.

Ein frisches Kreuz als Markierung auf dem Fels mit der Nummer 401 sagt uns, dass wir richtig sind. 20 Meter höher stehen wir vor einem Schneefeld. Eine Steindaube und eine riesige Markierung in Form eines Kreises, ähnlich einer Zielscheibe, auf einem Felsbrocken haben wir neben uns. Allerdings ist auf der anderen Seite nirgends die nächste Markierung zu erkennen. Trotz Nebel können wir die gegenüberliegenden Felsen erkennen. Jürgen geht suchen. Wir warten derweil geduldig. Das Resultat ist ernüchternd: Keine Markierung zu finden! Das kann doch nicht sein, oder? Wir marschieren alle hinüber und suchen in die verschiedensten Richtungen. Auf der linken Seite geht es Felsen hinter. An den anderen Seiten rundum Schnee, oberhalb der Gletscher. Was nun? Wir kehren zurück auf die andere Seite zu unserer letzten Markierung. Jonathan erinnert sich an einen Pfeil auf einem weiter unten liegenden Felsen, Lutz spekuliert, dass irgendwo eine Weggabelung gewesen sein muss. Und so diskutieren wir, steigen wieder tiefer zu dem Kreuz auf dem Fels mit der Nummer, suchen in dieser Umgebung, ob wir vielleicht eine Markierung in eine andere Richtung übersehen haben, steigen noch tiefer, nur um resigniert festzustellen: Wir müssen richtig sein. Also ziehen wir die schrägen Felsplatten wieder hinauf bis zum Schneefeld, überqueren es und suchen erneut. Jonathan und ich bleiben stehen, weil der Nebel kurzzeitig sehr dicht ist. Mit Rufen verständigen wir uns, aber keiner bringt eine positive Nachricht. Jürgen und Lutz steigen das Schneefeld hinab und suchen tiefer nach einer Markierung. Lutz überquert sogar dort unten das nächste Schneefeld, um auf der anderen Seite eine Markierung zu suchen. Ich gehe derweil auf dem Schneefeld weiter in die entgegengesetzte Richtung und erreiche wieder herausragende Felsen. Aber auch hier keine Spuren, Dauben oder Anzeichen von Markierungen. Resigniert kehre ich zu den anderen zurück. Wieder zücken wir die Karte und Lutz ist der Meinung, dass wir uns an dem Abzweig befinden müssen, von dem ein Weg über Fels hinab ins Tal gehen muss. Mit dem Mooshammer Steig, der über den Hochseiler führt, sind wir ja auch noch nicht zusammengestoßen. Und laut Karte kann nur dort der Abzweig sein, der mit der Nummer 431 an den Teufelslöchern vorbei zur Bertgenhütte und hinunter nach Hintertal führt. Wir diskutieren und streiten, wissen aber im Prinzip gar nicht genau, wo wir sind, laut Karte auf der "Übergossenen Alm", einer großen weißen Fläche, von der ich vermute, dass es der Gletscher ist, den wir beim Anblick vom Herzogsteig aus gesehen hatten. Da wir nicht sicher sind, wo überhaupt irgendein Weg weiter geht, taucht ein neuer, weniger erfreulicher Diskussionspunkt auf: Umkehr! Wie sich Jonathan dazu äußert, muss ich glaube nicht erklären. Den Herzogsteig geht er jedenfalls nicht zurück! Auch ich denke, dass wir ihm das nicht ein zweites Mal zumuten können. Die Nerven liegen blank! Verständlicherweise! Nebel, keine Markierung, kein Handyempfang und die einzige Alternative die bleibt, ist umzukehren. Eine schwere Entscheidung, für uns alle. Wir reden Jonathan gut zu. Ich eröffne ihm die Aussicht, dass wir, sobald wir Empfang haben, Susanne anrufen, die im Internet ein Taxi von Hintertal oder Maria Alm ausfindig machen soll, dass soweit es der Weg erlaubt, uns von Hintertal entgegenkommen soll, wenn wir die Scharte hinabsteigen.

Es ist 15.00 Uhr, also eine vergeudete Stunde später. Wir kehren um!
Wir laufen im Nebel. Der Weg hinunter und wieder hinauf bis zum Beginn des Herzogsteigs ist problemlos und geht schneller, als ich erwartet hatte. Unterwegs hatte ich Jonathan das Leitersteigen nochmal erklärt und wie wir es angehen wollten. Außerdem war der überwiegende Teil hinuntersteigen, was schneller und nicht so kräftezehrend ist. Ihn beschäftigte dann allerdings mehr der Gedanke, dass Susanne uns ein Taxi entgegen schickt und wie weit es wohl überhaupt bis hinunter ins Tal sei. Das konnte ich ihm allerdings nicht beantworten, auch nicht, wie weit überhaupt die Straße öffentlich befahrbar war. Den ersten Teil des Klettersteigs meisterte er sehr gut. Wir stiegen langsam und vorsichtig. Nichts wäre schlimmer, als zu stürzen. Auch Jonathan wusste mittlerweile schon den Satz zu erklären: "Die meisten Unfälle passieren beim Absteigen." So war es vorgestern ja an der Schönfeldspitze Jürgen ganz demonstrativ widerfahren. An einer vollkommen ungefährlichen Stelle war er auf einem Stein abgerutscht und einige Meter nach unten gestürzt. Zum Glück hatte er sich nur einige Schürfwunden unterhalb des linken Knies zugezogen. Ein lehrreiches Beispiel. Er konnte es auch erklären. Er hatte nach Jonathan und seinem Seil geschaut, statt auf den Weg.

Es ist kurz nach vier. Die erste Kletterpassage haben wir erfolgreich und komplikationslos überstanden, auch die Leiter. Wir überqueren Geröll, rutschen auf dem Hinterteil steile Passagen hinunter, wenn keine größeren Steine aus dem Geröll ragen, um ja nichts zu riskieren. Gerade als es breit und eben über einen Sattel geht, fallen dicke Tropfen und noch ehe wir reagieren können, geht ein Platzregen nieder. Schnell schmeißen wir die Rucksäcke runter, zerren an unseren Überziehern, kramen nach den Regenjacken und versuchen, uns so schnell und so gut wie möglich vor dem Nass zu schützen. Fast zwecklos. Als Jürgen seine Jacke anhat und die Kapuze übergestreift hat, rufe ich ihm zu, uns mit einem Schirm Schutz zu bieten, bis auch Jonathan und ich angekleidet sind. Mir bleibt erspart, meinen Schirm aus dem Rucksack zu kramen, denn gerade, als ich mich dazu entschließe, donnert es laut. Alle hinhocken, das einzige, was uns übrigbleibt. Und schon zucken Blitze gut sichtbar durch den Nebel. Die unmittelbar darauffolgenden Donner verkünden nicht nur Jonathan, dass das Gewitter direkt über uns ist. Ich trage schnell Seil mit Karabinern und den Schirm noch einige Meter weiter von uns weg. Mittlerweile prasseln nicht nur dicke fette Tropfen auf uns nieder, sondern auch Hagel mischt sich dem Regen bei. So eine ....! Nach 10 Minuten springt Jürgen entsetzt von seinem Platz, Gelächter von Jonathan begleitet seine Aktion. Das Wasser schoss nicht nur in kleinen Rinnsalen neben uns ins Tal, sondern schwoll zu Sturzbächen an und suchte sich auch genau dort einen Weg, wo Jürgen sitzt. Der Junge verliert auch in dieser Situation nicht den Humor und kann noch über so was lachen. Jonathan entdeckt überall was Neues und schwatzt, sicher auch, um seine Angst nicht zu zeigen. Er witzelt mit Lutz, wen wohl als nächstes ein Bächlein erwischt. Die Sekunden zwischen Blitz und Donner brauchen wir gar nicht zu zählen, weil es dazwischen keine Sekunde gibt. Der Regen wird auch nicht schwächer. Jürgen und ich tauschen sorgenvolle Blicke.

Ganze 25 Minuten dauert dieses Naturschauspiel. Als zwischen Blitz und Donner mehr als fünf Sekunden liegen, schultern wir unsere Rucksäcke. Es tröpfelt nur noch. Der Nebel bleibt. Es hat sich merklich abgekühlt. Unangenehm fühlen sich die nassen Sachen an, weil selbst der beste Cape oder Regenjacke diesen Wassermassen nur bedingt standhalten konnte. Außerdem waren wir ja bereits unter den Jacken schon nass geworden. Die Schuhe sind nass und fühlen sich innen auch schon feucht an. Ich weiß nicht, was die anderen denken und meine Gedanken spreche ich nicht aus. So wie hier wird das Wasser überall vom Berg schießen. Was ist, wenn Teile des Weges weggespült sind, vor allem auf dem steilen Geröllfeld auf der anderen Seite. Wie wird es auf dem Schneefeld sein, vor dem wir auf dem Hinweg schon kapituliert hatten. Wie wird es sich an nassem Fels klettern lassen. Immerhin kam ja noch ein beträchtliches Stück Kletterei. Fragen über Fragen und Sorgen über Sorgen.

Einige Minuten später, es ist halb fünf, erreichen wir eine Felsspalte, in die wir hinabsteigen und mit Hilfe eines Sicherungsseils nach unten klettern müssen. Diese Felskluft war zu einem Canyon geworden, in dem das Wasser nur so zu Tal schießt. Von den Felswänden stoßen unaufhörlich neue Wassermassen dazu. Und am Ende dieser Felsspalte folgt ein ausgespülter steiler Anstieg gerade nach oben. Ich kann mich nicht erinnern, ob dort Sicherungen angebracht waren, erkennen kann ich nichts. Aber ich weiß, dass dort keinesfalls das Ende der Kletterei ist. Unmöglich mit Jonathan dort entlang zu kommen. Jürgen findet keine Möglichkeit, in die Felsspalte hinabzusteigen. Dann versucht es Lutz. Er hat arge Problem, überhaupt erst mal hinab zu kommen. Die andere Felswand zu erreichen und am Sicherungsseil entlang zu kommen, wird auch sehr schwer werden. Mit großen Schwierigkeiten steigen wir erst mal die erste Felsstufe hinunter, die mit einem Eisentritt versehen ist. Ich schaue den Weg hinab und schüttele resigniert den Kopf. Ich sage Jürgen, dass er mein Handy nehmen soll, weil es das einzige ist, bei dem der Akku noch voll ist. Er soll sich auf den Weg machen, um Hilfe zu holen. Ich würde mit Jonathan hier warten. Ich zittere wie Espenlaub, Jonathan nicht weniger. Eiskalte Hände sind nicht gerade geeignet, sich an nassem Fels oder Drahtseil festzuhalten. Da einmal ausgesprochen, greift Jonathan diesen Gedanken sofort auf. Ich denke mir, dass er nicht weiß, was dieser Vorschlag bedeutet. Sonst würde er ihn nicht befürworten. Was heißt: Hol Hilfe, wir warten hier? Erst mal müssten die beiden Männer wohlbehalten soweit kommen, dass sie überhaupt Handyempfang hatten. Dann mussten sie die Bergrettung informieren, die sich dann etwas einfallen lassen muss, wie sie uns aus dieser misslichen Situation holen kann. Schlimmstenfalls würde es bis morgen dauern. Denn ein Hubschrauber bei dem Wetter? Unmöglich! Zu Fuß bei der Witterung? Und wer weiß, was das Wetter uns noch bescheren würde!

Ein Blick hinunter in den Felsspalt zu Lutz zeigt mir erneut, dass es für Jonathan ein zu großes Risiko birgt, sich dort hinab zu bewegen, denn selbst Lutz hat diese Passage in zehn Minuten noch nicht bewältigt. Jürgen redet auf uns ein. Er würde erst die Rucksäcke runter bringen, dann uns holen. Ich bleibe dabei und bitte ihn inständig, endlich abzusteigen, weil uns die Zeit davon rennt. Es wird nicht mehr lange hell sein und dann zu gefährlich, um zu uns zu gelangen. Lutz meckert, dass es Schwachsinn ist. Ich lasse mich gar nicht darauf ein, sondern Flehe immer wieder, sie mögen doch endlich losgehen.

Wir klettern wieder hinauf. Ich gehe mit Jonathan zurück an eine geeignete breitere Stelle. Jürgen bringt seinen Rucksack, um ihn bei uns zu lassen und ohne Gepäck schneller klettern zu können, was auch immer das bedeuten soll unter diesen Bedingungen. Ich lasse mir seine Rettungsdecke geben, sage ihm noch mal, wo wir hier sind, damit er möglichst genaue Angaben machen kann. Na klar hat auch er Zweifel, ob das die richtige Entscheidung ist, aber das habe ich zu verantworten. Wenn dem Jungen beim Abstieg etwas passiert, hat er es zu verantworten.
Auch für mich ist es eine unvorstellbar schlimme Situation, die Bergrettung in Anspruch nehmen zu müssen. Wie wir die Zeit bis dahin überstehen sollen, weiß ich auch nicht. Aber ich weiß, dass wir hier sicher in Rettungsdecken eingehüllt eine bessere Chance haben, unverletzt vom Berg zu kommen, als anders. Jürgen geht schweren Herzens. Ich versichere ihm, er soll sich um uns keine Sorgen machen. Wir stehen das durch und warten geduldig, wenn es sein muss, bis morgen früh. Unsere Hoffnung begleitet ihn. Jonathan bleibt stumm.

Ich erkläre Jonathan, was Opa und Lutz jetzt tun werden, was wir jetzt der Reihe nach machen und was eventuell alles geschehen kann. Auch die Frage nach einer Zeitspanne erkläre ich ihm völlig realistisch und nüchtern. Sollten die beiden Männer sicher auf der Scharte ankommen und nicht telefonieren können, mussten sie weiter hinunter ins Tal. Wie lange das dauern würde? Ich sage, dass durchaus zwei Stunden hingehen können. Dann muss sich die Bergwacht etwas einfallen lassen, was auch wieder Zeit in Anspruch nimmt. Sollte der Nebel aufsteigen, wäre durchaus ein Hubschraubereinsatz denkbar. Aber ich weiß nicht, wie lange es noch einigermaßen hell bleibt. Und ich weiß nicht, ob in der Dunkelheit ein Hubschrauber eingesetzt werden kann. Dass eventuell jemand im Dunkeln hier herauf zu uns klettert, dazu mache ich ihm vorsichtshalber keine Hoffnung und streiche diesen Gedanken auch aus meinen Erwägungen. Er trägt und erträgt alles mit einer mir unvorstellbaren Gelassenheit und ohne murren oder meckern. Einfach unvorstellbar, als wären es mal gerade zehn Minuten bis der nächste Film im Fernsehen beginnt.

Während ich in meinem Rucksack krame und alle möglichen Utensilien zu Tage fördere, von denen ich mir denke, dass wir sie brauchen können, höre ich plötzlich Jürgens Stimme energisch und laut rufen: "Komm doch mal her!" Ich drücke Jonathan die Handtücher, die ich gerade rausgeholt habe, in die Hände und sage: "Halt mal fest, damit sie nicht nass werden. Das war Opa. Da ist was passiert." Ich renne zurück zu dem Einstieg in die Spalte, mit der Angst im Nacken, dass sich einer der beiden verletzt hat. Stattdessen stehen sie da unten und beginnen, auf mich einzureden. Ich sollte mit Jonathan kommen, es würde schon irgendwie gehen. Lutz schimpft, dass ich so einen Schwachsinn machen würde. Was ich mir vorstellen würde, wie lange ich hier sitzen müsste. Ob ich denken würde, dass in einer halben Stunde ne Rettungsmannschaft da wäre? Ich könnte nicht die ganze Nacht mit einem Kind hier auf dem Berg hocken. Ich schneide ihm weitere Sätze ab und sage, dass sie schon fast unten sein könnten, wenn sie sich gleich auf den Weg gemacht hätten. "Geht jetzt endlich los, so weit, bis ihr telefonieren und Hilfe holen könnt. Der Rest ist meine Sache." Ich bitte Jürgen noch mal flehentlich, doch vernünftig zu sein und keine kostbare Zeit weiter zu vergeuden. "Ich bleibe hier mit Jonathan!"

Endlich machen sie sich auf den Weg und ich gehe zurück zu Jonathan.

Es ist 17.00 Uhr. Ich suche die Gegend nach einem oder zwei dicht beieinander liegenden geeigneten Sitzplätzen für uns ab. Für Jonathan präpariere ich einen am Hang liegenden, fast geraden Stein. Eine Folietüte soll von unten vor Nässe schützen und das zusammengefaltete Handtuch ihn etwas bequemer sitzen lassen. Wir falten die erste Rettungsdecke auseinander, die er sich umhängt und es sich so eingehüllt auf dem Stein bequem macht, wobei das Wort bequem maßlos übertrieben ist. Seine Füße berühren zwar den Boden, aber stehen schräg zum Hang und ich weiß schon jetzt, dass er so nicht lange sitzen kann. Jetzt mache ich mich an meinen Platz auf dem Stein neben ihm. In Gedanken beschäftige ich mich damit, was ich noch anstellen kann, um uns die Lage zu erleichtern. Ich beschließe, noch mal austreten zu gehen, ehe ich mich in meine Rettungsdecke hülle. Ich sage es Jonathan und er will's auch. Leider geht das mit Klettergurt schlecht. Also ausziehen. Ich verstaue ihn in meinem Rucksack obenauf. Wir benutzen natürlich getrennte Klos, ein bisschen Spaß muss sein. Er nimmt das Linke und ich das Rechte, hinterm Fels, versteht sich. Dann mummele ich ihn wieder ein. Die Flasche Wasser stelle ich neben mich. Jonathan hat noch keinen Durst. Wieder erzählen wir von dem glücklichen Umstand, dass wir so viel zu Trinken haben. Zum Essen haben wir für uns auch noch ausreichend, etwas Brot und Wurst. Jonathan fragt, ob wir für morgen früh zum Frühstück noch was Süßes haben. Was für ein Kind! Statt zu jammern oder zu wehklagen betrachtet er die Sache nüchtern und fragt schon nach der nächsten Mahlzeit, die wir eventuell noch morgen hier am Berg einnehmen müssen.

Die nassen Sachen kühlen und ich friere. Er klappert auch mit den Zähnen. Ich sage, wenn es uns nachher langweilig sein sollte, können wir ja ein Klapperkonzert geben. Wir lachen, einfach grotesk in dieser Situation. Aber für mich ist es wichtig, dass wir erzählen und uns so normal wie es nur möglich ist, benehmen, ohne in Wehklagen zu verfallen.
Unter unseren Decken sind wir zwar windgeschützt, aber warm werden kann man wohl so durchnässt nicht. Ab und zu lugen wir unter unseren Hauben hervor, um nach dem Nebel zu schauen. Wenn er aufreißt, kann ich bis hinab auf den grünen Sattel sehen. Da er mit dem Rücken zu dieser Seite sitzt, sage ich ihm immer, wenn ich geschaut habe, ob ich die beiden Männer dort unten sehe. Leider kann ich ihm keine positive Nachricht geben. Zu kurz sind die Augenblick, die mir zum Ausspähen bleiben, dann ist wieder alles grau. Eine Stunde sitzen wir schon hier, da sagt Jonathan, dass er nicht mehr sitzen kann, weil seine Füße so schief stehen. Ich schäle mich aus meiner Umhüllung und platziere ihn etwas seitlich hinter mir auf einem anderen Stein. So hocken wir weiter und warten. Ab und zu reden wir miteinander. Ich frage ihn, ob ich laut beten darf und er will wissen, was ich da bete. Letztendlich will ich nur, dass er meine Stimme hört und dass die Zeit vergeht. Zwischendurch befragen wir uns, wie es uns geht. Ich muss ihm erklären, wie eine Rettung mit dem Hubschrauber geschieht, wenn er nicht landen kann. Aber auch ihm erscheint es mittlerweile unwahrscheinlich, dass ein Hubschrauber bei dem Nebel fliegt. Ist nur gut so, dass er sich keine falschen Hoffnungen macht.

Wir spekulieren, wie weit Opa wohl schon sein mag, ob er schon anrufen konnte und wie es ihnen wohl geht. Es hat wieder angefangen zu regnen. Und jetzt geschieht etwas, was ich nicht bedacht hatte. Da wir uns auf unsere Rettungsdecken gesetzt hatten, um alles möglichst dicht zu machen, läuft jetzt der Regen an der Folie hinab und durchtränkt unsere Handtücher, auf denen wir sitzen. Nicht zu ändern und ich wartet geduldig ab, bis die Regenschauer durch ist. Es ist nur Nieselregen gewesen. Jonathan fragt nach der Uhrzeit und ich sage, dass es kurz nach sieben ist. Anhand der Dunkelheit würde man allerdings neun Uhr schätzen. Ich stehe wieder auf, um uns bequemere Plätze zu bereiten. Ich hatte die ganze Zeit gegrübelt, wie ich uns auf die Nacht vorbereiten könnte. Wir trinken erst mal ein paar Schlucke.

Ich lege Jürgens Rucksack mit der zu öffnenden Seite auf die Erde mitten auf dem Weg, so dass er sich auf das gepolsterte Rückenteil setzen kann, das zum Glück noch trocken ist. Seine Rettungsdecke klemme ich unter den Rucksack, lasse ihn Platz nehmen und wickele den Rest der Decke um ihn herum. So ist er dicht eingehüllt, wieder samt Kopf und Füße. Die Seiten beschwere ich mit Steinen, damit die Folie nicht im Wind abhebt. Durch sein Basecape hat er ein kleines Dach, so dass die Folie ihm nicht ins Gesicht hängt, wenn er alles zuzieht.

Dann mache ich mich wieder über meinen Rucksack her. Ich krame das Radio hervor, zwei Rollen Bobons, die Taschenlampe, das Handy und erkläre nebenbei immer, was ich tue, damit er weiß, was geschieht und was da raschelt. Die Idee mit dem Radio begrüßt er, weil es dann nicht so still ist. Ich nehme auf der gleichen Weise wie Jonathan auf meinem Rucksack Platz, nachdem ich die Folie untergeklemmt habe. Jetzt ordne ich erst mal alle Dinge. Die Taschenlampe und die Bonbons stecke ich in die linke Jackentasche, das Handy in die andere. Kein Empfang! Ich schalte das Radio ein und suche einen passenden Sender und platziere es neben meinen Füßen, damit es mit im Trocknen liegt. Die Flasche stelle ich rechts von mir, so dass ich sie problemlos erreichen kann, alles immer mit den Erklärungen für Jonathan. Dann hülle ich mich ein, was allein gar nicht so einfach ist. Da mein Körper eine größere Fläche bietet, reicht meine Folie zwar rundum, aber vorn kann ich sie nur ca. 10cm übereinander schlagen und muss sie immer mit einer Hand zuhalten. Auf die äußeren Zipfel trete ich mit den Füßen und beschwere meine Folie von innen mit Steinen. Zu allem Übel stört die beschichtete Folie wohl den Radioempfang. Ich suche einen anderen Sender und lege das Radio so, dass die Antenne unter meiner Umhüllung hervorragt und der Empfang gesichert ist. Wenn ich beide Hände zum Hantieren brauche, flattert mir immer die Folie auf und kalter Wind lässt mich kurzzeitig fühlen, wie unangenehm es jetzt ohne Folie wäre. Dann komme auch ich zur Ruhe.

Es fängt wieder an zu regnen, diesmal stärker. Wind kommt auf und zerrt an unseren Hüllen. Da wir beide bis über die Ohren eingemummt sind, sehen wir natürlich nicht, was der Andere tut. So fragen wir uns gegenseitig, ob es der Wind ist, der raschelt, oder ob der Andere grad umherwuselt.

Es ist 19.30 Uhr und am Wetter ändert sich nichts. Ganz kurzzeitig reißt immer mal der Nebel auf, ansonsten ist es recht finster.
Jonathan fragt: "Was ist, wenn wer kommt?" Ich sage, dass eine Gämse, die hier lang kommt, dumm gucken und sich ganz schön über die goldenen Haufen hier auf dem Weg wundern würde und sicher erschreckt die Flucht ergreifen wird. Da wir gestern schon geklärt hatten, dass es keinen Yeti gibt, kann der also auch nicht hier erscheinen. Dass andere Wanderer bei dem Wetter hier vorbei kommen, ist eher unwahrscheinlich. Und wenn jemand kommt, um uns zu holen, können sie uns nicht verfehlen und vor denen brauchen wir uns ja nicht zu fürchten.
So plätschert unsere Unterhaltung dahin. Jonathan stellt immer mal wieder Fragen nach dem Wetter und ob ich glaube, dass Opa jetzt schon angerufen hat. Ich denke schon, sage ich ihm, erkläre aber trotzdem, dass es auch sein kann, dass sie sich noch nicht im Empfangsbereich eines Senders befinden. Auf jeden Fall macht sich Opa Sorgen um uns und wird alles in Bewegung setzen, darauf können wir uns verlassen. So spreche ich, um ihm Mut zu machen, weiß aber genau, dass dieser Zuspruch nicht nur für ihn ist. Ich bin glücklich, dass ich Jonathan noch vor dem Urlaub im Alpenverein angemeldet hatte und sage ihm das auch.
Mir tut der Rücken im Kreuzbeinbereich und in der Nierengegend weh. Ich umklammere abwechselnd meine Beine in Höhe der Knie, dann immer tiefer, um so Stück für Stück zu erwärmen, was natürlich ein sinnloses Unterfangen ist. Die Hosenbeine sind noch feucht und kühlen zunächst. Und ich habe ja immer nur eine Hand zur Verfügung. Außerdem birgt diese Folie natürlich auch einen Nachteil. Durch die Atemluft bildet sich innen Schwitzwasser, das in die Kleidung dringt, wo die Folie anliegt. Prost Mahlzeit! Ich sage es Jonathan vorsichtshalber nicht und er hat es scheinbar noch nicht festgestellt. Am liebsten würde ich fluchen, aber das geht nicht.

Ich sage Jonathan, dass ich aufstehe, um aus meinem Rucksack eine Tablette gegen Rückenschmerzen zu holen. Gut, dass ich alles in wasserdichten Tüten habe. Ich setze mich wieder, nehme eine Tablette, stecke das Kärtchen mit noch fünf Tabletten in meine Jackeninnentasche und zerre meine Folie über mich. Ein positiver Gedanke. Vielleicht kann ich das Sitzen so aushalten, wenn die Tablette wirkt. Alles ist klamm.

Dann sagt Jonathan, dass ihm sein Hinterteil weht tut vom Sitzen. Ich rate ihm, dass er immer mal wieder auf dem Rucksack vor und zurück rutschen muss. Als er das tut, rutscht seine Decke unter dem Rucksack hervor. Sofort ergreift sie der Wind und er bittet mich um Hilfe. Ich befreie mich, befestige meine Plane, damit sie der Wind nicht fortzerren kann und packe ihn erneut ein.

20.00 Uhr - Nachrichten. Zumindest melden sie es noch nicht in den Schlagzeilen, dass zwei Wanderer am Berg festhängen. Ob das nun besorgniserregend oder beruhigend ist, sei mal dahingestellt. Der Wetterbericht kündet weitere Regenfälle an, wo sie hinkommen. Die nächtlichen Temperaturen sollen bis auf 10°C sinken. Nun, keine Temperatur, bei der man erfriert. Das beruhigt mich etwas. Ich hoffe nur, dass kein Gewitter mehr kommt. Wir können sogar über die Vorstellung lachen, was morgen wohl in der Zeitung steht: "Großmutter musste mit ihrem Enkel aus Bergnot gerettet werden", wie sich das anhört?

Ich frage Jonathan, ob wir ein bisschen hier auf dem Weg rumlaufen wollen, um unseren Kreislauf wieder in Schwung zu bringen und dadurch vielleicht ein wenig warm werden. Ob das wirklich gelingen würde, bezweifle ich, weil ich vor Kälte schon ganz steif bin. Er verneint und ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll, dass mir jetzt die Joggingrunde am Berg erspart bleibt. Sinnvoller wäre es auf alle Fälle, sich zwischendurch mal zu bewegen. Wir legen fest, dass wir das später tun werden.

Unsere Unterhaltungen beschränken sich auf kurze Sätze:
"Oma, bist du noch da?"
"Ja, Jonathan. Geht es dir gut?"
"Ja, dir auch?"
"Ja. Frierst du?"
"Nein."
Oder:
"Oma, was machst du?"
"Ich habe meinen Kopf auf die Beine gelegt und habe die Augen zu."
"Ach so."
Oder:
"Jonatahn, bist du noch da?"
"Ja."
"Eigentlich ne blöde Frage. Wo solltest du wohl hin sein, oder!"
Er lacht!
"Bist du müde?"
"Nein."
"Geht's dir gut?"
"Ja."

Alle drei bis vier Minuten fragt einer von uns beiden den anderen so oder in ähnlicher Weise. Dann merke ich, dass er nicht antwortet und lausche. Er atmet tief, also ist er eingenickt. Ich warte und überlege zum x-ten Male, wie lange ich so sitzen, oder besser gesagt, hocken kann. Mein Basecape ist nass und stört, wenn ich meinen Kopf auf die Arme oder die Knie legen will. Dass die Tablette merklich wirkt, kann ich nicht sagen. Plötzlich schreckt Jonathan hoch und ruft: "Oma?"
"Ich bin noch da, Jonathan. Ich sitze neben dir. Du bist kurz eingenickt und hast geschlafen."
"Ach so!"
"Oma ist auch müde und hat die Augen meistens zu."
"Ist gut."

Auch ich ändere öfter mal meine Position, nicht ohne es Jonathan zu sagen, was ich tue. Ich fordere ihn auch immer mal wieder auf, sich anders zu setzen, aber er sagt, dass es geht. Manchmal wird mein Atem schneller und tiefere Atemzüge machen mich aufmerksam, dass es wohl an Sauerstoff mangelt. Ich frage Jonathan, ob er seine Plane richtig dicht zu hat. Denn ein Gedanke durchzuckt mich, als ich diese Tatsache erkenne. Ich trage ihm auf, ab und zu einen Spalt breit die Folie auf zu machen, um nach dem Wetter zu schauen, dann müsste ich nicht immer schauen. Ich wollte ihm den wahren Grund nicht sagen, damit er keine Angst bekommt. Eine Horrorvorstellung: Wenn er die Folie zu dicht um sich zog und kein oder zu wenig Sauerstoff hineinkam, konnte es durchaus passieren, dass er dadurch einschlief und vielleicht nicht wieder aufwachte. Mit einer Folientüte überm Kopf war ein 13 jähriger Junge in unserem Dorf erstickt. Mich beschleicht der Verdacht, dass diese Decke einen ähnlichen Effekt bewirken könnte. Mir wird klar, dass ich nicht einschlafen darf, um ihn immer wieder zu erinnern, dass er frische Luft in sein Zelt lässt und um bei mir dasselbe zu tun.

Jonathan bittet um Trinken. Ich reiche ihm die Flasche und trinke anschließend selbst. Ich frage ihn, ob er schon Hunger hat, aber er verneint. Insgeheim bin ich froh. So muss ich mich nicht erheben. Dabei checken wir beide noch mal die Wetterlage. Keine Sicht, fast dunkel und momentan recht windstill. Wir pflegen weiter unsere Unterhaltungen, alle paar Minuten, damit wir vom anderen wissen, dass alles in Ordnung ist.

Mittlerweile ist es neun Uhr durch. In meine Gedanken, die sich um das Wetter, um die Nacht und die morgendliche Rettungsaktion drehen, dringt ein menschlicher Laut. Ich halte es für eine Sinnestäuschung. Trotzdem sage ich Jonathan, dass ich wieder ein bisschen Umherwusele und raschele, damit er sich nicht erschreckt. Ich stecke den Kopf aus meiner Vermummung und zurre die Folie fest um meinen Hals, damit ich nicht kalt werde. Es ist windstill. Da, was war das? Das hörte sich wieder an wie eine Stimme. Schließlich konnte es doch sein, dass Jürgen und Lutz zurückkamen, um uns nicht allein in der Nacht zu lassen, so denke ich und lausche angestrengt. Eine Ewigkeit später dringt ein leises "Hallo" aus weiter Ferne an mein Ohr. Ich sage Jonathan, er soll sich nicht erschrecken, weil ich laut rufen will. Aber ich mache ihm noch nicht allzu große Hoffnung, sondern sage nur, dass es mir so vorkam, als hätte ich was gehört. Laut schreie ich mehrmals ein lang gezogenes "Hallo" in die Nacht. Nichts geschieht. Jonathan fragt:
"Hörst du was, Oma?"
"Nein, war sicher meine Spinneritis. Hab schon Halluzinationen!"
Er lacht über diese Krankheit, die wir schon mehrmals hatten, vor allem heute Mittag, als alle damit angaben, was sie heute nach Ankunft im Matrashaus alles essen und trinken wollten. Das Wort hatte ihm gefallen, darum habe ich es benutzt. War gut so, denn wenn man so schon nichts zu lachen hat!

Da, wieder! Was war das? War das wieder ein "Hallo"? Ich rufe erneut mehrmals hintereinander, nicht ohne Vorwarnung. Da steckt auch Jonathan den Kopf aus seiner Decke. Ich sage ihm, er soll sie schön zuziehen und mit mir lauschen.
Und dann kam ein deutliches "Hallo" aus der Dunkelheit, von links und weit unter uns. Ich rufe erneut mehrmals und ein deutliches "Hallo" kommt zurück. Dann können wir hören, dass sich Männerstimmen unterhalten, noch weit weg, aber immerhin.
"Jonathan, jetzt kommt wer."
Meine Freude steckt ihn an und er ruft nun auch laut. Dann lauschen wir wieder in die Nacht.
Plötzlich entdecken wir einen Lichtschein im Dunkel und ich vermute, dass er unten von der Felsenecke kommt, um die Jürgen und Lutz verschwunden waren. Vor lauter Freude vergesse ich das Wichtigste und Jonathan erinnert mich daran:
"Oma, leuchte mit meiner Taschenlampe!"
Schnell hole ich sie hervor und leuchte. Als Antwort vernehmen wir deutlich:
"Wie geht es euch?"
Ich antworte, dass wir beide wohlauf und unverletzt sind. Die Stimme antwortet:
"Wir holen euch. Wir sind gleich bei euch!"

Ich hatte zwar vermutet, dass die Bergrettung auch mit Lampen in der Dunkelheit sucht, aber nicht zu hoffen gewagt, dass es wirklich passiert. Vor allem hatte ich es vermieden, Jonathan damit einen Floh ins Ohr zu setzen. Und nun war die Freude groß. Er jubelt mit mir. Tränen rinnen über mein Gesicht, als ich ihm sage, dass sie uns gefunden haben und dass wir uns jetzt keine Sorgen mehr machen müssen. Er hört es an meiner Stimme und fragt:
"Oma? Weinst du?"
"Ja, aber weil ich mich freue, dass sie kommen."

"Dann sind das ja Freudentränen!"
Ach Gott, was sagt man zu so einem Kind? Er benimmt sich gefasster und couragierter als mancher Erwachsener in dieser so misslichen Lage. Allerdings glaube ich zu sehen, dass auch er feuchte Wimpern hat. Ich sage zu ihm:
"Jonathan, ich verrate dir jetzt ein Geheimnis. Ich hatte ganz, ganz große Angst um dich und um mich. Ich hab's dir nur nicht gesagt."

Er wird einer Antwort enthoben, weil gerade in dem Moment die Lampen der Männer ganz in unserer Nähe zu sehen sind. Wir schauen in die Richtung und dann kommen plötzlich Männer auf uns zu und der erste ruft freundlich "Grüße Gott, schön dass wir euch gefunden haben. Seid's wohlauf?"
"Sie schickt der Himmel! Bin ich froh, dass ihr da seid." sind meine ersten Sätze und schon scharen sich die Männer um uns. Wir befreien uns aus unseren Umhüllungen, stehen auf, schütteln Hände, die sich uns entgegenstrecken, nennen unsere Namen und hören die unserer Retter. Aber ich kann mir keinen merken. Sie fragen alles Mögliche durcheinander. Das Wichtigste für sie ist, dass es uns gut geht und wir unverletzt sind. Plötzlich zwängt sich ein Hund zwischen unseren Beinen durch. Ein Hund? Das ist kaum zu glauben! Der ist den Klettersteig hoch? Ich hatte zwar vorhin in der Dunkelheit ganz kurz so etwas wie das Winseln eines Hundes vernommen, es aber für unmöglich gehalten und nicht weiter erwähnt. Jonathan staunt nicht schlecht und muss ihn gleich erst mal graulen.

Ein Mann fragt, ob wir Durst haben, aber ich erkläre ihnen, dass wir bestens bestückt waren. Schließlich hatten wir uns auf eine lange Nacht eingerichtet. Wir sollen trotzdem trinken und ein Mann reicht uns seine Flasche mit lauwarmer Flüssigkeit. Nun gut, heißer Tee wäre mir lieber gewesen, aber das ist jetzt nicht wichtig. Eine Stimme fragt durch ein Funkgerät nach dem Stand der Dinge und einer antwortet, dass sie die zwei vermissten Personen wohlbehalten, nur durchfroren, gefunden haben. Bei dem Wort "Vermissten" rinnen mir wieder die Tränen, weil dieses Wort die ganze Tragweite unserer Situation deutlich macht. Den Wortwechseln entnehme ich, dass sie Vorkehrungen zum Abstieg mit uns treffen. Sie klären, wer wem einen Klettergurt gibt. Ich lasse mich anziehen und als Jonathan dran kommt, sagt er selbstbewusst und stolz:

"Ich habe einen eigenen! Hat mir mein Opa gekauft."
Na, da staunen sie nicht schlecht und loben uns, dass wir so gut ausgerüstet sind. Ich gebe Anweisung, in welchem Rucksack sich sein Gurt befindet und flink hilft man ihm hinein. Obendrein bekommt er noch eine wärmende Jacke von dem Mann neben ihm, damit es ihm wärmer wird.

Ich zittere wie Espenlaub, möchte aber nicht untätig rum stehen. Jonathan unterhält den neben sich stehenden Bergretter und erzählt ihm alles, was uns passiert war. Ich suche derweil alle unsere Utensilien zusammen, verstaue alles, was ich in meinen Taschen habe, samt Radio im Rucksack und verstaue als Letztes die geknüllten Planen unter den Rucksackdeckel. Ich zurre meine Stöcke fest und stecke den Überzieher in die Seitentasche. Ich sage, dass wir drei Rucksäcke haben, aber das scheint kein Problem. Sie sind, soweit ich es sehen kann, zu sechst und klären, wer was trägt und wer wen ans Seil nimmt. Wir bilden eine lange Seilschaft von fünf Leuten. Jonathan zeigt keinerlei Angst vor dem Abstieg und auch ich habe keine Bedenken, dass uns etwas zustößt. Jetzt kann nicht mehr viel passieren, da sie mit Sicherheit ihr Handwerk verstehen. Sie verteilen unsere Rucksäcke und schultern sie, trotz ihrer eigenen. Leider müssen wir Jonathan seinen Stock zurücklassen, den er gleich zu Beginn unserer Wandertour gefunden und mit dem er die ganze Zeit gewandert ist. Ich verspreche ihm, bei seiner nächsten Wanderung wieder einen zu suchen, der dann sein Maskottchen werden soll.

Ich kann nicht umhin, auf die Uhr zu sehen. Es ist 21.30 Uhr, als wir starten. Immer wieder die Fragen, ob es uns gut geht und ob wir uns in der Lage fühlen, abzusteigen. Ich frage, wohin und wie weit dass es ist. Wir steigen ab nach Hintertal, ungefähr 2 bis 2,5 Stunden. Mir verschlägt es fast die Sprache. Oh nein! Das kann Jonathan nicht schaffen, denke ich mir, sage es aber nicht laut, weil ich nicht undankbar erscheinen möchte. Der Junge war heute schon so weit marschiert und mit Sicherheit erschöpft. Und selbst mir erscheint es zu viel und zu weit. Aber ich mache keine Einwände und belasse es bei der erhaltenen Information und verweigere vorerst jeden weitern Gedanken daran.

Zwei Männer gehen ohne Seil mit dem Hund vorweg. Einer geht vor Jonathan und einer hinter ihm. Danach gehe ich und werde von dem Mann hinter mir gesichert. Den Schluss bildet ein Mann, der glaube ich nicht angeseilt ist. Aber das kann ich gar nicht mit Sicherheit sagen. Die Männer leuchten mit ihren Stirnlampen die Felsen an, so dass wir sehen, wohin wir treten müssen. Der Mann hinter mir lässt sich noch eine Handlampe reichen, um mir damit noch besser leuchten zu können.

Wir bewegen uns sehr langsam. Der Mann vor Jonathan sagt ihm, wo er hintreten soll und der hinter ihm gehende Bergretter unterstützt ihn bei schwierigen Schritten. Mir geht es gut und ich bewege mich erstaunlicherweise trotz zittrigen Knien und eiskalten Händen sehr sicher. Nach und nach wird mir warm und Jonathan höre ich immer im Gespräch mit seinen Begleitern. Er hat durch diesen doppelten Schutz keine Probleme am Fels. Auch das Schotterfeld ist kein Problem für uns. Nur am Schneefeld bleiben wir stehen und es wird aus Sicherheitsgründen ein Seil gespannt, damit auch hier nichts passieren kann. Danach werden wir vom Seil genommen. Noch vier weitere Männer stehen hier und erwarten uns. Erneut Händeschütteln, Namen nennen und Fragen beantworten. Für uns werden noch Stirnlampen ausgepackt und aufgesetzt. Der Hund schleicht um unsere Beine. Auch er hat am Hansband ein Licht. Im Dunkeln leuchten seine Augen grün, fast unheimlich. Ich erkläre Jonathan, dass wir jetzt hinab nach Hintertal laufen, sage aber nicht, wie weit das ist. Und er fragt nicht.

Es ist 22.00 Uhr, als wir den Weg ins Tal antreten. Aber auch für unsere Retter gestaltet sich die Wegsuche im Nebel schwierig. Wir sind auf dem Grashang. Plötzlich fragt einer, wo die Markierung ist. Sie schwärmen aus und suchen. Sie dirigieren sich untereinander, schwenken weiter rechts hinüber und suchen. Plötzlich habe ich einen Stein vor mir mit einem gelben Strich, was ich laut sage. Na dann sind wir noch richtig, bekomme ich zur Antwort und kurz darauf findet einer tatsächlich die rot-weiße Markierung und dann geht's auf dem richtigen Weg weiter. Dann beginnen die Serpentinen, die wir heute Mittag gesehen hatten.

In endlosen Kehren steigen wir hinab. Der Weg ist oftmals schwierig zu gehen, weil nass und ausgespült. Einer der Männer fragt plötzlich, ob wir Stöcke nehmen wollen und will sofort welche für uns organisieren. Ich sage, ich nehme meine, weil ich sie bei dem ersten sehe, der übrigens meine Rucksack auf hat. Schon habe ich sie vom Klettverschluss gelöst, aber es ist mir unmöglich, mit meinen kalten Händen die Größe zu verstellen. Ich bitte den, der mir am nächsten steht, dies für mich zu tun. Derweil bekommt Jonathan Stöcke angeboten, nimmt aber nur einen.

Ich gehe hinter Jonathan. Der vor ihm gehende Mann unterhält sich ab und zu mit ihm. Er zeigt ihm Salamander und setzt sie ins Gras. Danach hat Jonathan eine Aufgabe. Aufmerksam schaut er auf seinen Weg, schiebt auch so manches Tier zur Seite oder zeigt mir einen am Wegesrand, damit ich nicht drauf trete.

Von Zeit zu Zeit unterhalte ich mich mit dem Mann hinter mir, nachdem er mich gefragt hatte, ob wir oft ins Gebirge gehen? Daraufhin erzähle ich ihm, dass wir einen Kletterkurs absolviert haben und bisher viel in den Berchtesgadener Alpen unterwegs waren. Er sagt mir, dass er das an meiner Trittsicherheit gemerkt habe. Seine Frage bestärkt meine Vermutung, dass sie sicher glauben, dass sie wieder mal so Luftschnapper vom Berg holen mussten, die leichtsinnig gehandelt hatten. Ich erzähle ihm, wie wir heute gegangen waren, an welcher Stelle wir keine Markierungen mehr gefunden hatten und wann wir umgekehrt waren. Ich erkläre ihm auch, was mich zu meiner Entscheidung bewogen hatte, am Berg zu bleiben, statt dass Leben unseres Enkels zu gefährden. Er versicherte mir, dass wir genau das Richtige getan hatten und auch gut ausgerüstet gewesen seien.

Es wäre für mich unerträglich, wenn man über uns sagen würde, dass wir leichtsinnig gewesen waren. Sicherlich in dem Punkt, dass wir um 11.30 Uhr nicht, entgegen unserem Vorhaben, hinunter nach Hintertal abgestiegen waren. Immerhin zogen da schon Wolken auf. Aber wir sind schon so oft im Gebirge unterwegs gewesen, auch bei schlechtem Wetter. Wenn man eine Rundtour geplant hat, muss man weiterziehen, kann maximal einen Tag abwarten. Da für Dienstag schlechtes Wetter angesagt gewesen war, hatten wir den Tag schon als Ruhetag im Riemannhaus eingeplant und das hatte sich als gute Planung herausgestellt. In der Biwakschachtel hatten wir auch Radio gehört, aber: An welchem Alpenrand regnet es nun und wieviel Uhr ist nachmittags?

Ich schiebe diese Gedanken beiseite und zähle noch weitere Gipfel und Gebirge auf, die wir besucht hatten, erzähle auch von unseren Fernwanderwegen, rund um Mount Blanc, Großglockner und Monte Rosa, den Überschreitungen von Watzmann und Jubiläumsgrat. Meistens laufen wir aber ohne Unterhaltung, weil wir uns auf den Weg konzentrieren müssen. Dann irgendwann, nach unendlich langer Zeit, stellt Jonathan die unvermeidliche Frage:
"Wie weit ist es noch?"
Einer der Männer antwortet, dass es ungefähr noch eine halbe Stunde ist. Wir bleiben stehen und sollen nochmal trinken. Jonathan bekommt einen Früchteriegel, den er nebenbei knabbern kann. Dann geht's weiter. Ich vermeide es, auf meine Uhr zu schauen, denn der Blick ins Tal zeigt mir, wie weit die Lichter von Hintertal noch entfernt sind, vor allem wie weit unten im Tal. Sind wir denn nicht schon lange genug abgestiegen? Das verkraftet kein Mensch, erst recht nicht ein Kind von 10 Jahren. Jonathan tut mir leid und ich versuche, ihn immer wieder aufzumuntern und in Gespräche zu verwickeln. Als er erneut fragt, wie weit es noch ist, zeigt ihm der Mann vor ihm Lichter, tief unter uns und sagt, dass dort Autos stehen, die auf uns warten. Er denkt, er macht ihm eine Freude mit dieser Nachricht. Das wäre es auch tatsächlich, wenn wir näher dran wären. Nicht nur ich bin enttäuscht, sondern auch Jonathan und ich höre es an seiner Stimme, als er sagt:
"So weit noch?"
Wie soll ich ihn trösten, wenn ich selbst Trost gebrauchen könnte. Meine Hose und Schuhe waren während dem Abstieg wieder halbwegs trocken geworden. Jetzt werden sie wieder patschnass vom Gras und Gebüsch, das den schmalen Weg säumt. Ab und an bleibt der Mann vor Jonathan stehen, um ihn zu warnen, dass ihm nicht Büsche ins Gesicht schlagen.

Doch auch das geht vorbei. Auf den letzten Metern stolpern wir über Kuhkacke und versuchen drumherum zu balancieren. Endlich angekommen, schütteln wir auch hier Hände und hören Namen. Es ist 23.45 Uhr. Ein Mann fragt, ob er ein Foto fürs Archiv machen kann. Natürlich, wir versuchen krampfhaft, zu lächeln.

Endlich angekommen. Jetzt kann es nicht mehr weit sein.

Endlich angekommen. Jetzt kann es nicht mehr weit sein.

Dann nehmen wir die drei Autos, von denen ich zwei als Landrover bezeichnen würde, in Beschlag. Die Rucksäcke und Stöcke wandern ins Heck hinter die Sitze. Fünfzehn Männer und zwei Vermisste quetschen sich in die Autos. Wir sitzen zu viert auf der Rückbank des letzten Wangens. Wir sind einfach nur glücklich, dass wir nicht mehr laufen müssen. Jetzt wird alles gut!

Unterwegs hatte man mir schon gesagt, dass für Quartier gesorgt war. Ich habe nicht gefragt, was und wo, weil es letztendlich egal ist. Jetzt bin ich nun doch gespannt und auch, was der eine mit der "Brettljausn" gemeint hatte. Sicherlich würden wir auch noch was zu Essen bekommen.

Es ist eine beeindruckende Fahrt, auch für Jonathan. Die Autos waren ohne Straße noch ein beträchtliches Stück auf der Wiese zu uns hinaufgekommen. Und nun geht's hinab. Wir werden durchgeschüttelt, obwohl die Autos recht langsam fahren. Wir scheuchen Kühe auf, die aus Protest neben uns herlaufen. Eine Kuh läuft und läuft vor dem vor uns fahrenden Auto her, bis sie kurz anhält. Während dieses Auto die Kuh passiert, setzt sie sich vor uns wieder in Bewegung und die Jagd geht weiter. Unser Fahrer gibt sich alle Mühe, ihr Möglichkeiten zu bieten, dass sie ausweichen kann, aber sie tut es nicht. Er bleibt stehen, sie auch. Er fährt los, sie läuft los, immer vor uns. Das Spiel wiederholt sich mehrmals, bis sich unserem Fahrer eine Möglichkeit bietet, nach rechts auszuweichen. Er hält an und Sekunden später bleibt die Kuh stehen. Sofort setzt sich unser Fahrzeug wieder in Bewegung, weicht noch weiter nach rechts aus und beschleunigt. Jetzt sind wir an ihr vorbei und die Kuh klotzt uns nach. Endlich! Dieses Wettrennen einer Kuh mit einem Auto war so lustig, dass Jonathan vergnügt darüber erzählt. Er fragt mich, ob wir auch noch was zu Essen kriegen und ich sage, dass uns Opa bestimmt was aufgehoben hat. Er wird uns Brote geschmiert haben. Diese Enttäuschung in Jonathans Stimme, als er sagt: "Aber ich will kein Brot", öffnet wieder meine Tränenschleuse. Ich versuche ihm zu erklären, dass es nach Mitternacht ist und dass es in keiner Gaststätte um diese Zeit mehr warmes Essen gibt. Insgeheim hoffe ich doch, dass sie ihm noch was machen.

Endlich erreichen wir so was wie eine Straße. Aber Feldweg wäre wohl die bessere Bezeichnung. Es geht durch Senken und Wasserläufe, immer in Serpentinen weiter hinunter bergab. Manchmal kippt das Auto bedrohlich zur Seite. Echte Fahrkünste sind hier gefragt, immer im ersten Gang. Plötzlich bleibt das Auto vor uns stehen. Der Beifahrer steigt aus, um eine Schranke hinter uns zu schließen, die wir gar nicht bemerkt haben. Jonathan auch nicht, weil er nachfragt, was los ist. Dann setzt sich unser Konvoi wieder in Bewegung. Wir fahren eine richtige Straße. Die Lichter kommen jetzt näher und dann sind wir in Hintertal.

Wir halten vor einem hell erleuchteten, großen Gasthaus. Jonathan erkennt sofort Opa hinter einem Fenster am Tisch sitzend. Es ist 0.15 Uhr, also sind wir geschlagene 25 Minuten gefahren. Wie gut, dass wir das nicht auch noch laufen mussten. Steif vom Sitzen und kaputt vom Laufen krabbele ich aus dem Wagen. Ich frage die Männer, ob sie noch mit rein kommen und sie bejahen. Ich nehme meinen Rucksack entgegen und schultere ihn. Ich frage nach dem von meinem Mann. Stattdessen bekomme ich erst mal Jonathan seinen Rucksack, den ich ihm weiter reiche. Dann habe ich auch Jürgens Rucksack. Trotzdem bleibe ich stehen und warte und frage nach meinem, aber es ist keiner mehr da. Plötzlich wird mir bewusst, dass ich ihn schon auf dem Rücken habe und sage das auch noch laut. Nun habe ich die Lacher auf meiner Seite.

Wir marschieren hinein. Jürgen kommt mir entgegen. Wir liegen uns in den Armen und ich heule. Dann drückt er Jonathan und ich drücke Lutz. Endlich! Endlich angekommen!

Diese Rettungsaktion ist gut ausgegangen.

Diese Rettungsaktion ist gut ausgegangen.

Wir sind alle, satt, zufrieden und glücklich ko!

Wir sind alle, satt, zufrieden und glücklich ko!

Fünfzehn Männer, unsere Helden, sitzen an zwei Tischen und wir vier glücklich am Nebentisch. Es gibt für alle "Brettljause", Wurst und Käseplatten für jeden Tisch, dazu ausreichend Brot und Getränke für jeden. Ich bestelle mir als erstes ein Kännchen Kaffee und Jonathan eine große Sprite. Jürgen muss fragen, ob noch etwas Warmes für Jonathan zu haben ist, aber leider nein. Natürlich ist er enttäuscht. Lustlos kaut er an einer halben Scheibe Brot mit Wurst. Er darf noch eine Sprite trinken. Kurze Erläuterungen von dem, was ohne uns passiert war, bringen für Jonathan und mich ein wenig Licht ins Dunkel und auch die beiden Männer wollen hören, wie es uns ergangen ist. Nebenbei sende ich Susanne eine SMS.
Lutz erzählt, dass sogar schon sein Auto wieder hier ist. Einer der Bergwacht hatte sie zum Arturhaus gebracht, um das Auto zu holen. Eigentlich stand ja meins in Saalfelden näher, aber leider saß ich am Berg auf meinem Autoschlüssel. Die Unterkunft war mit mehreren Telefonaten auch von der Bergrettung organisiert worden.

Die Rettungskette hatte funktioniert!

Ich lasse mir von Lutz seinen Fotoapparat geben. Ich bedanke mich mit zittriger Stimme noch mal bei den Männern für die Rettung und frage, ob ich sie fotografieren darf. Als sie einzeln gehen, verabschieden wir uns noch einmal per Handschlag von jedem. Jürgen sagt den Wirtsleuten, dass wir Essen und Trinken bezahlen. Ich bin dermaßen k.o., dass ich die anderen bitte, dass wir aufbrechen. Wir verabschieden uns von den wenigen, die noch vor ihrem Bier sitzen und werden von der Juniorchefin in unsere Zimmer begleitet. Vorher bringen wir noch unsere nassen Wanderschuhe in den Keller. Wir haben zwei tolle Doppelzimmer. Lutz und Jürgen beziehen ein Zimmer, Jonathan und ich das andere. Welch eine Luxussuite! Warm, herrliche Betten, ein tolles Badezimmer, ohne Hunger und Durst, was will man mehr? Einfach göttlich und ich weiß zu schätzen, was es bedeutet, gesund vom Berg zu kommen.

Unser Zimmer mit einem tollen Bett.

Unser Zimmer mit einem tollen Bett.

Es ist 1.45 Uhr. Wir gehen nur zur Toilette, streifen unsere Klamotten runter und legen keinen Wert auf Wasser zum Waschen. Ich krame für die Nacht trockene Sachen aus unseren Rucksäcken. Und dann kuscheln wir uns in unsere Betten. Ich sage:
"Jonathan. Wir müssen nicht mehr frierend auf unseren Rucksäcken unter der Plane hocken. Wir kuscheln uns jetzt schön in ein weiches Bett. Das ist doch herrlich, oder?!"
"Ja, Oma."
"Gute Nacht, Jonathan. Schlaf gut!"
"Ja, Oma." Dann war Ruhe.

Was für ein Tag!

© Beate Piehler, 2009
Du bist hier : Startseite Europa Österreich 5. Tag: Donnerstag den 30.07.2009
Die Reise
 
Worum geht's?:
Eine Woche mit dem Rucksack durchs Steinerne Meer, diesmal bis zum Hochkönig. Der Wetterbericht verspricht Gutes, die Stimmung ist gut und wir sind fit! Allerdings darf man nie vergessen, dass Berge und Natur unberechenbar sind!
Details:
Aufbruch: 26.07.2009
Dauer: 6 Tage
Heimkehr: 31.07.2009
Reiseziele: Österreich
Der Autor
 
Beate Piehler berichtet seit 14 Jahren auf umdiewelt.
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