Neue Wege - eine Reportage über Südamerika

Reisezeit: Oktober 1999 - Juli 2000  |  von Cornelia Bartlau

Donde esta?

Welches sind die Vorteile, ohne dicken Reiseführer in fremden Ländern herumzufahren? Das Unvorhergesehene bestimmt die Route. Mein Ziel ist es nicht, genau diesen Flecken Naturwunder zu sehen, den alle gesehen haben sollten.

Wenn der Weg sich aber erst beim Gehen zeigt, wird man staunend feststellen, dass es genau diese roten Blumen waren, die man sehen wollte. Meine Augen sind das am meisten beanspruchte Sinnesorgan während der ganzen Zeit. Ich bin immer noch so neugierig, Tag für Tag, dass ich sogar an einem Sonntag beim Spaziergang durch die engen Straßen um den schönen Park "Plaza Brazil" in Santiago de Chile durch eine klitzekleine Türspalte in ein Haus hineinschaue. Ich mache das einfach so, es gibt eigentlich keinen besonderen Grund dafür. Das Haus ist nicht hässlicher oder prunkvoller als die Häuser daneben. Was ich sehe, lässt mich vor Erstaunen den Atem anhalten.

Ein großes Foto von Victor Jara hängt an der Wand. Ich erkenne ihn sofort. Ich gehe ein paar Schritte rückwärts und schaue mir das Haus genauer an. Kein Schild an der Tür. Ich suche nach irgendwelchen Hinweisen, finde die Klingelknöpfe und auf einem steht "V. J. Foundacion", mehr nicht. Aber heute ist Sonntag, zu klingeln wäre sicherlich zwecklos. Während ich noch überlege, was ich nun mache, kommt eine kleine Frau auf mich zu und fragt, ob ich hinein möchte. Ungläubig schaue ich sie an, nicke heftig und schon hat sie einen großen Schlüssel in das alte Schloß gesteckt und die Tür geht auf. Ich stehe in einem hellen Innenhof mit großen Pflanzen in Kübeln, ich sehe Plakate und Anschläge einer Tanzschule. Links geht es in die Bibliothek. Ich darf hinein, aber ich bin viel zu schüchtern und kein Wort spanisch fällt mir ein, Ich habe etwas gefunden, von dessen Existenz ich gar nichts gewusst habe.

Der Raum ist dunkel, die Fensterläden von Innen halb verschlossen. Von der Hitze des Tages ist hier drinnen nichts zu spüren. Aus dem Nachbarraum höre ich Stimmen und Geschirrgeklapper. Der Raum ist vollgestellt mit Schallplatten, Büchern und an den freien Wandflächen kleben Plakate. Auf einem lese ich "9. - 11. 6. 1978 Festival des Liedes in Tübingen", ein anderes verweist auf ein Konzert am 26. 9. 1993 in Hamburg, oder am 16. 2. in Santa Monica. Von den meisten schaut mich das offene Lächeln Victor Jaras an.

Ich schau mir die Buchrücken an, englisch, französisch, spanisch, russisch, deutsch und asiatisch. Unter ihnen die Biografie Victor Jaras, von seiner Frau Joan geschrieben. Mit diesem Buch in der Hand sitze ich nicht länger als 30 Minuten vor dem Fenster und lese den Anfang und das Ende. Plötzlich fühle ich mich wieder zurückversetzt in den Moment, als ich mit 18 Jahren von dem Putsch in Chile gehört habe. Meine Erschütterung, meine Trauer und Wut, alles spüre ich für einen kurzen Augenblick noch einmal. Und ich erinnere mich, wie ich zum ersten mal Lieder von Victor Jara hörte, da war er schon ermordet und seine Musik kam endlich auch in meinem kleinen Land an. Damals, im goldenen Käfig sitzend, konnte ich mir nicht vorstellen, einmal in Santiago de Chile in der Victor-Jara-Foundacion in Büchern zu blättern. Das einzig Gute an Diktaturen ist, dass sie auch einmal aufhören.
Im Innenhof der Foundacion hängt ein neues Plakat, das auf ein Konzert im Nationalstadion zu Ehren der Gefolterten und Ermordeten der Junta hinweist. Ich weiß genau, dass ich nächstes Wochenende bei diesem Konzert sein werde.

Ein Märzabend in Santiago de Chile.
Ich sitze neben Frauen und Männern, die ihre Kinder auf dem Schoß haben, Fahnen schwenken oder Kerzen in der Hand halten. Noch brennen sie nicht, es ist zu hell. Aber die Dämmerung kommt schnell und über dem Stadion geht der Mond auf. Ein dickes gelbes Gesicht das zu grinsen scheint. Ich glaube, der Mond hat gerade jetzt nichts besseres zu tun, als auf dieses Stadion zu schauen. Zählt er die vielen Kerzen, die jetzt angezündet werden? Hört er die Rufe von Tausenden Chilenen nach der Verurteilung Pinochets, "juicia Pinochet!" Wie hält er sich im Zaum während die Menschen zur Musik der populärsten chilenischen Musiker springen? Empfindet er noch mehr Freude und Genugtuung als ich, hat er doch aller Wahrscheinlichkeit nach vor 27 Jahren auch hier hinunter gesehen und an der Menschheit gezweifelt?

Eine Videoleinwand mit alten Filmen, auf denen Salvador Allende während des Wahlkampfes zu sehen ist, steht an der Seite der Bühne. Tausende Arbeiter bei Kundgebungen und Demonstrationen in der Zeit von 1971 bis 1973 sind zu sehen. Immer, wenn Allende erscheint, klatscht das heutige Publikum und es ertönen Bravorufe. Dann kommen Aufnahmen vom Putsch, von Pinochet und die Leute buhen und rufen zehnmal hintereinander "juicia Pinochet"

Immer wieder gibt es Einblendungen von Fotos der Ermordeten und Vermissten, immer mehr Kerzen werden angezündet. Im Off-Ton hört man Gedichte von Pablo Neruda, kämpferische Lieder von Victor Jara und feurige Reden von Allende.

Vom Plakat hatte ich mir nur die Gruppe Inti Illimani gemerkt. Die Einzige, die ich noch namentlich kannte. Die Namen, die ich höre, notiere ich mir andeutungsweise, um sie mir später von den Frauen im Kinderheim übersetzen zu lassen. Illapu, Los Heyvas - ich bin stolz, dass ich diese Namen überhaupt herausgehört habe. Von der Gruppe Quilapajun stammt das Lied Venceremos - wir werden siegen -. Das Lied haben wir damals alle gekannt, aber sich so einen schwierigen Bandnamen zu merken, ist eine andere Sache. In der Übersetzung bedeutet der Name "drei Bärte". Victor Jara war künstlerischer Leiter dieser Gruppe und es war damals erklärtes Ziel der jungen Männer, alte traditionelle Musik des chilenischen Volkes in den Dörfern "auszugraben" und sie mit den alten volksnahen Instrumenten, die fast in Vergessenheit geraten waren, zu spielen. Neben der aufkommenden Rockmusik in den 60er Jahren war dies eine ziemlich schwierige Aufgabe, aber die Musiker hatten Erfolg. Ihre Musik wurde immer populärer und wurde nach langen Verhandlungen auch auf Schallplatten gepresst.

Nach dem Putsch waren alle Platten verboten, die Gruppen durften nicht mehr spielen, sofern sie sich noch im Lande aufhielten. Inti Illimani und Quilapajun waren gerade auf einer Europatournee, als der Putsch stattfand. So konnten sie dem Martyrium entkommen und gleichzeitig für Chile singen und das Leid in diesem Land bekannt machen.
Am heutigen Abend wurden nicht die bekannten Lieder wie "Venceremos" oder "El pueblo unido" gespielt. Aber trotzdem, die traditionellen alten Instrumente wie die chorango - eine kleine Gitarre, oder eine quenas - eine Flöte aus einer Frucht, die zampo, eine große Flöte und die Rondador - die Panflöte waren immer noch dabei, obwohl nun elektrische Gitarre und Schlagzeug für einen sehr modernen Sound sorgten. Mich hat die Musik förmlich aus der harten Plastikbank gehoben. Um mich herum war die Stimmung wie bei einem richtigen Rockkonzert, nur wurden hier rote Fahnen mit Hammer und Sichel oder dem berühmten Kopfbildnis Che Guevaras geschwenkt.

Auf die Bühne traten Frauen aus Argentinien, die jeden Donnerstag seit 1977 auf dem "Plaza de mayo" zu einer Schweigestunde zusammen stehen und auf Plakaten nach ihren vermissten Söhnen und Männern suchen. Wochen vorher stand ich auf diesem Platz in Buenos Aires und habe diese schweigenden Frauen mit ihren weißen Kopftüchern gesehen. Mit Gänsehaut bin ich an den aufgemalten Symbolfiguren, die die Namen von Ermordeten trugen, vorbeigegangen.

Auch wenn ich mich im Moment einer freien Existenz erfreuen darf, löst dieser Auftritt eine Erinnerungskette aus.
Meine Gedanken fliegen durch Zeit und Raum, kreisen um den imaginären Begriff "Freiheit".

Ich denke an Thomas N., einen griechischen Schriftsteller. An einem kalten Frühlingsabend 1988, als meine Hoffnung auf politische Veränderungen in der DDR auf dem Nullpunkt war, erzählte er mir seine bittere Geschichte und mit dem einfachen Satz, "alles geht einmal vorbei", gab er mir nicht nur die Hoffnung zurück, sondern auch Kraft, etwas gegen die Zustände zu unternehmen. Er hat nach 25 Jahren seine Mutter und seine Heimat wiedergesehen. Weitere 25 Jahre später fiel für mich eine Mauer ein, die nicht nur ein Land spaltete. Und während in Chile die lange stockfinstere Nacht des Faschismus zu Ende ging, packte Thomas Nicolaou seine Sachen in Deutschland zusammen, weil sein griechisches Restaurant dreimal von Neonazis verwüstet wurde. Er ging für immer nach Griechenland zurück.

Seine Verbitterung war so groß, dass er mich wissen ließ, "wenn meine in Griechenland gepflanzten Bäume Früchte tragen, rede ich wieder mit Deutschen". Leider hat er mir nicht gesagt, ob er Oliven- oder Pfirsichbäume gepflanzt hat.

Vor zwei Tagen habe ich bei einer Party eine junge Frau kennen gelernt, sie sprach dialektfrei deutsch. Es stellte sich heraus, dass sie Chilenin ist. Mit 5 Jahren, 1973 hatte sie mit ihrer Mutter und ihren 3 Brüdern über die Panamaische Botschaft Chile verlassen. In Panama entschied sich die Mutter für das Exilland DDR. Sie lebten in Leipzig. Das Mädchen ging zur Schule, wurde Jungpionier, hatte Jugendweihe. 1988 ging sie als 16jährige nach Chile zurück. Zuerst wollte sie ihre Heimat nur sehen, aus Neugierde, aber sie blieb für immer. Ihre ganze Familie ist mittlerweile wieder nach Chile zurückgegangen. 1993 hat ihr Vater für die Familie Honnecker ein Haus besorgt.

Es ist Mitternacht. Das Konzert wird beendet durch eine bewegende Schlussrede der Präsidentin Sola Sierra vom Verein "Asociacion de Familiares de Detanidy Desaparecidos" zur Versöhnung des chilenischen Volkes. Sie ruft die Chilenen dazu auf, gemeinsam nach vorne zu schauen. Aber dazu gehört auch die gerechte Bestrafung - juicia Pinochet.

Eine endlos lange ruhige Menschenmasse bewegt sich auf der breiten Straße weg vom Stadion, alle wollen nach Hause. Bus nach Bus füllt sich mit noch fahnenschwingenden Menschen. Erstmals sehe ich an chilenischen Bussen Trauben von Menschen draußen an den Türen hängen.

Ich bin sogar noch vor den anderen Jugendherbergsmitbewohnern zu Hause, die es vorgezogen haben im Stadtteil Providencia neben Touristen teuer zu speisen. Von welchem Schnäppchen beim Abendessen werden sie wohl morgen erzählen?

© Cornelia Bartlau, 2009
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Die Reise
 
Worum geht's?:
War es ein Ausstieg oder ein Einstieg? Mit 45 Jahren den alten Job an den Nagel hängen. 9 Monate mal weg vom Alltag, Terminen und Gewohntem. Arbeiten auf ganz neuem Terrain. Straßen und Wege ins Unbekannte. Landschaften wie im Bilderbuch Armut und Reichtum wie im Schwarzbuch. Entwirf deinen Reiseplan im Großen und lass dich im Einzelnen von der bunten Stunde treiben Kurt Tucholsky
Details:
Aufbruch: 18.10.1999
Dauer: 9 Monate
Heimkehr: 06.07.2000
Reiseziele: Chile
Brasilien
Argentinien
Peru
Der Autor
 
Cornelia Bartlau berichtet seit 15 Jahren auf umdiewelt.
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