Binnenwasserwege in Polen

Reisezeit: Mai 2008  |  von Manfred Sürig

226,2 km Kanalstrecke abradeln

Schön wäre es, wenn man einen Leinpfad hätte, der am Kanalaufer ohne jede Steigung entlangführt. Doch zunächst sind da noch 13 km Warthe bis Santok abzuradeln, dort, wo die Netze in die Warthe mündet. Immerhin gibt es eine kleine Nebenstraße, von der man ständig den Blick aufs Tal der Warthe genießen kann.

Nichts als Natur: Der Zusammenfluß von Netze und Warthe. Die Netze bringt fast so viel Wasser mit wie die Warthe

Nichts als Natur: Der Zusammenfluß von Netze und Warthe. Die Netze bringt fast so viel Wasser mit wie die Warthe

Dann kommt Santok. Ich denke an Koblenz oder Hannoversch Münden, wie wird der Zusammenfluß da vermarktet! In Santok steckt das noch in den Anfängen: Eine Tafel (von der EU kofinanziert), 5 Dalben im Wasser, eine Imbißbude.

Als Europäische Wasserstraße wird der Weg zwischen Oder und Weichsel bezeichnet. Ob er auch befahrbar ist und befahren wird ?

Als Europäische Wasserstraße wird der Weg zwischen Oder und Weichsel bezeichnet. Ob er auch befahrbar ist und befahren wird ?

Die Karte läßt zwei Hotels erkennen, na also, um 18.30 h wird's auch Zeit fürs Nachtquartier. Das Hotel ist ein Privathaus mit Schild "wolne pokoje". Doch das einzige Vierbettzimmer ist bereits belegt, schließlich ist Wochenende. Die andere Unterkunft gibt es inzwischen nicht mehr. Also weiterradeln. Doch die Dörfer, durch die ich komme, haben allenfalls einen Tante-Emma-Laden, wo ich mal fragen kann und entweder Schulterzucken zur Antwort bekomme oder den Hinweis, ein paar Dörfer weiter vielleicht.

Noch zweimal finde ich Hotels, die inzwischen pleite sind und einen Pferdehof mit vielen parkenden Autos davor. Doch dort ist auch alles besetzt. Endlich, beim Dorf Gorcim, weist mir jemand den Weg mitten in den Wald, wo ich eine Feriensiedlung vorfinde mit einem schmucken Campingplatz und Holzhütten an einem See. Ich bekomme um 21.45 Uhr ein ganzes Haus für mich, dusche mich und falle in die Federn. Draußen beginnt es zu regnen. Schön, ein Dach über dem Kopf zu haben!

Am Ende doch noch ein Quartier in herrlicher Landschaft

Am Ende doch noch ein Quartier in herrlicher Landschaft

ein ganzes Häuschen für mich allein, eine Nacht für 90 PLN (ohne Frühstück)

ein ganzes Häuschen für mich allein, eine Nacht für 90 PLN (ohne Frühstück)

Als ich am nächsten Morgen meinen Kilometerzähler ansehe, staune ich: 74 km bin ich gestern abend noch gefahren.
Heute steht eine größere Strecke bevor, aber ich habe ja den ganzen Tag zur Verfügung.
Der Unterlauf der Netze ist nicht kanalisiert, schon deswegen gibt es keinen Leinpfad am Ufer. Das Urstromtal ist zwischen 800 Metern und 2 km breit und befahrbare Straßen führen nur am trockenen Saum entlang, gelegentlich gibt es Stichwege zum Ufer, aber die sind nur zu Fuß in Gummistiefeln begehbar. Ich werde also Slalom fahren und dabei versuchen, möglichst oft die Netze nach Norden oder nach Süden zu überqueren. Die Sonne lacht wieder vom Himmel, also munter los.

Holperiger Weg durch landwirtschaftliche Nutzflächen statt Leinpfad am Kanal

Holperiger Weg durch landwirtschaftliche Nutzflächen statt Leinpfad am Kanal

Leider fahre ich hinter Dresdenko aus dem Rand meiner Karte heraus. Krzyz ist die nächste Stadt, dort will ich eine Regionalkarte kaufen. Aber es gibt dort keine Buchhandlung und an einem Kiosk könnte ich nur Polen insgesamt 1:700 000 bekommen. Ich gönne mir erst einmal eine Mittagspause, kaufe dazu ein paar Happen in einem Supermarkt und am Zeitungsstand sehe ich ein Atlasblatt aus einer Zeitung herausfallen, hebe es auf und finde genau, das, was ich suche: 5 Seiten Atlasausschnitt genau bis Thorn. Ich komme mir fast vor wie bei 6 Richtigen im Lotto und genieße bei Drawsko bei Kanalkilometer 174 gleich 4 Jojobella-Yoghurts und frische Butterbrötchen.

Die Netze soll hier schon kanalisiert sein, aber sie fließt noch flott nach Westen. Den Schiffahrtsweg erkennt man im übrigen an der gelben Raute mitten unter der Brückendurchfahrt: Sie müssen mit Gegenverkehr rechnen. Einen Pegel suche ich vergeblich

Anlegestelle mit ausstehender Infrastuktur

Anlegestelle mit ausstehender Infrastuktur

Also weiter, jetzt auf dem Südufer nach Wielen. Dort ist wieder eine Brücke, die ich nach Norden überquere. Irgendwo ist eine Schleuse, aber sehen kann ich sie nicht. Weit von der Netze entfernt, radle ich auf der Nordseite nach Osten nach Czarnkow.

Hier ist was los! Gerade, als ich über die Brücke südostwärts fahre, kommt ein Berliner Motorboot stromauf gefahren. Es passiert das km-Schild 132 und versucht, an Land festzumachen. Kontaktaufnahme unmöglich, die Crew ist voll mit dem Anlegemanöver beschäftigt.
Die Netze biegt hier nach Norden ab, um nach etwa 30 Kilometern bei Ujscie wieder nach Osten einzuschwenken. Dieses Mal verzichte ich auf den Slalom und will meinen Weg nach Chodziez abkürzen, zumal er nach der Karte 24 km nach Nordosten durch Wald führt. Vor Chodziez machen sich erste Ermüdungserscheinungen bemerkbar, das linke Knie schmerzt bei jedem Antritt und vom Wind habe ich eine leichte Bindehautreizung in den Augen.

Rastplatz und Badestelle für die Dorfjugend. Noch nicht einmal ein Kiosk !

Rastplatz und Badestelle für die Dorfjugend. Noch nicht einmal ein Kiosk !

Also Quartiersuche in Chodziez. Übrigens ein Ort in sehr reizvoller Umgebung, umgeben von schönen Seen und sanften Hügeln.
Doch wieder sind die beiden einzigen Hotels besetzt, ich kann es 11 km weiter in Podanin an der Hauptstraße nach Posen versuchen. Diesmal klappt es schon beim dritten Versuch, und hier bekomme ich sogar ein feines Abendessen: Heilbutt gebraten mit frischen Gemüsen. Kaum liege ich im Bett, höre ich es draußen regnen, nein, gießen. Da schläft es sich umso besser!

In Podanin bin ich von der Netze nun etwas abgekommen, weitere Slalomfahrten würden sich extrem aufwändig gestalten und im übrigen: Welche neuen Erkenntnisse sollte es bringen? Einen Leinpfad gibt es definitiv nicht. Statt dessen bleibt mir überlassen, den kürzesten Weg nach Naklo zu finden, wo die schiffbare Netze endet und der Kanal Bydgoski beginnt, im übrigen die Wasserscheide zwischen Weichsel und Oder. Anders ausgedrückt: Der Höhepunkt meiner Reise. Das sind auch nur 75 km, nicht so viel wie gestern die 120, die doch wohl etwas viel waren.

Mein Weg führt mich durch fromme Dörfer. Bis 9 Uhr sehe ich alle Leute in die Kirchen gehen, danach passiere ich menschenleere Straßen, alle Leute sind in der Kirche. Selbst der Autoverkehr kommt zum Erliegen.

Wo wird einem schon so viel Natur geboten ?

Wo wird einem schon so viel Natur geboten ?

Nach 40 Kilometern geht es entweder nur rechts oder nur links weiter. Ich will aber geradeaus nach Naklo auf dem kürzesten Wege. Ich lasse mich verführen, den Geradeauspfad zu nehmen, weil ich an einem Baum eine grüne Markierung mit einem Fahrrad darauf entdecke. So etwas steht nicht einmal in meiner Karte, also führe mich die Markierung! Wer sich diesen Weg nur ausgedacht hat! Landschaftlich wildromantisch, weil es im ersten Dorf gleich auf jedem sechsten Laternenpfahl ein belebtes Storchennest gibt, aber anstrengend, weil ich auf dem Sandweg versacke, dass ich selbst auf abschüssigen Strecken absteigen und schieben muß.

Kurshalten auf dem Sandweg unmöglich, aber das ist die richtige Route !

Kurshalten auf dem Sandweg unmöglich, aber das ist die richtige Route !

Bis ich im nächsten Ort wieder eine Schotterstraße erreiche, kommt es mir endlos vor. Und Pausieren geht nicht, weil dann die Mücken über den verschwitzten Radler herfallen. Von Ort zu Ort wird die Straße belebter und besser, sogar der erste Wegweiser nach Naklo taucht auf. Ich überquere die Netze wieder bei Stromkilometer 40 und lasse mich in die Stadt einrollen. Hier müßte es doch Unterkünfte geben !

Die Kirche in Naklo

Die Kirche in Naklo

Es gibt nur ein einziges Hotel, aber dort finde ich sofort ein freies Bett, so dass mir abends noch Zeit bleibt, die Stadt und die Umgebung etwas abzufahren. Es ist deutlich kälter geworden, Bewegung tut not. Das Ergebnis der Stadtrundfahrt ist ernüchternd: Außer einer schönen Kirche und einer sonnigen Kurve der Netze, aber ohne Ausflugslokal, gibt es nichts zu sehen.

Kanal Bydgoski: Auch hier kein Leinpfad !

Kanal Bydgoski: Auch hier kein Leinpfad !

Der Schleusenwärter wohnt irgendwo in der Nähe. Wie merkt er es nur, wenn jemand schleusen möchte ?

Der Schleusenwärter wohnt irgendwo in der Nähe. Wie merkt er es nur, wenn jemand schleusen möchte ?

Allenfalls den Kanal Bydgoski, der führt hier hinter der zweiten Schleuse 30 km schnurgeradeaus bis Bydgoszcz, ein Bick von der Schleusenbrücke führt tatsächlich bis zum Horizont, zumindest einem Ausschnitt davon.

Heute bin ich auf der Zielgeraden: Bydgoszcz. Der Weg am Kanal entlang bleibt mir auch hier erspart, denn einen Leinpfad hat es wohl auch hier nie gegeben. Südlich führt eine Nebenstraße, die bei Lochowo, wenige Kilometer vor der Stadtgrenze, über einen Kanal Notecki führt, eine Querverbindung vom Kanal Bydgoski nach Süden zurück zur Netze, die ihrerseits dort wieder schiffbar ist und über mehrere Seen, teils kanalisiert, nach Süden bis nach Konin an der Warthe führt. Wenn ich schon hier bin, sollte ich mir das auch noch ansehen.

Doch zunächst muß ich mich ohne Radweg stadteinwärts voll auf den lebhaften Autoverkehr konzentrieren.

Die Wassermassen der Brda reichen aus, den Kanal schiffbar zu halten und früher eine Mühle zu betreiben.

Die Wassermassen der Brda reichen aus, den Kanal schiffbar zu halten und früher eine Mühle zu betreiben.

Es geht weit bergab, bis ich an einem neuen Kongreßzentrum "Opera nova" über einen Fluß und einen Kanal komme. Brda heißt der Fluß, der malerisch durch Parks an restaurierten Lagerhäusern durch die Stadt geführt wird und dabei ein rasantes Gefälle hat. Daneben ein Stück Kanal und eine Schleuse Nr 2. In den Kanal wird etwas unterhalb der Schleuse mit großem Getöse die Brda wieder eingeleitet, was dem Kanal, der weiter unten mitten durch die Stadt führt, ebenfalls eine kräftige Strömung verschafft: die kanalisierte Brda.

Mitten durch Bydgoszcz fließt die Brda, die unterhalb der Stadt aufgestaut ist und in der Stadt selbst kanalisiert. Sybolisiert das Seiltänzerdenkmal, wie riskant auch die Durchfahrt mit viel Tiefgang ist ?

Mitten durch Bydgoszcz fließt die Brda, die unterhalb der Stadt aufgestaut ist und in der Stadt selbst kanalisiert. Sybolisiert das Seiltänzerdenkmal, wie riskant auch die Durchfahrt mit viel Tiefgang ist ?

Die Altstadt entlang der Brda ist schön restauriert, hier würden sich ein paar Liegeplätze für Wasserwanderer anbieten, doch die gibt es weder im Zentrum noch im Wartebreich der Schleuse 2 oder oberhalb der Schleuse 2. Auf Wassertouristen ist man offenbar noch nicht eingestellt oder es kommen ohnehin keine Besucher übers Wasser. Heute jedenfalls schippert nur ein kleiner Musikdampfer auf und ab, mit einigen wenigen Passagieren. Wassersportler, so erfahre ich vom Kapitän, fänden unterhalb der Stadt bei Fordon in einem kleinen Stausee der Brda vor ihrer Einmündung in die Weichsel Liegeplätze.

Zusammenfluß von Brda und Weichsel bei Fordon unterhalb von Bydgodszcz, Brda-Stromkilometer Null! 772 Stromkilometer der Weichsel, gerechnet ab ihrer Quelle.
Auch hier nichts Spektakuläres.

Zusammenfluß von Brda und Weichsel bei Fordon unterhalb von Bydgodszcz, Brda-Stromkilometer Null! 772 Stromkilometer der Weichsel, gerechnet ab ihrer Quelle.
Auch hier nichts Spektakuläres.

Bydgoszcz ist rundherum von Wald umgeben und der Oberlauf der Brda im Norden ist ein herrliches Paddelrevier, aber Informationen darüber bekomme ich nicht einmal bei der Stadtinfo. Das Wetter heute ist nicht gerade dazu angetan, das alles per Fahrrad zu erkunden, aber sicher wäre die Gegend hier eine eigene Reise wert.

© Manfred Sürig, 2008
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Wenn man mit einem Boot mit 1,38 m Tiefgang einen Wasserweg mit 1,40 m Solltiefe befahren will, hat man im günstigsten Falle eine Handbreit Wasser unter dem Kiel. Wenn aber nicht - was wird man dann tun, um 2 Tonnen Schiff zu bewegen ? Da ist es das beste, sich die Sache vorher mal vom Fahrrad aus anzusehen.
Details:
Aufbruch: 14.05.2008
Dauer: 8 Tage
Heimkehr: 21.05.2008
Reiseziele: Deutschland
Polen
Der Autor
 
Manfred Sürig berichtet seit 18 Jahren auf umdiewelt.