Radreise in der Horde und auf eigene Faust nach Südosteuropa

Reisezeit: August / September 2003  |  von Manfred Sürig

Czernowitz

Wir sind nicht sicher, ob der heutige Tag ohne Regen bleiben wird, es weht ein starker Südostwind, und wir müssen nach Nordosten, um hinter Siret den Grenzübergang zur Ukraine zu erreichen. Auf der Karte haben wir gesehen, dass man entlang der Grenze eine Abkürzung fahren können müßte. Als wir in Vicovu de Jus abbiegen, fahren wir auch schon einer ersten Grenzkontrolle in die Arme. Sie wollen uns über Radauti wegschicken, aber als wir auf unser Ukrainevisum verweisen und "Siret direkt" nach Nordosten zeigen, lassen sie uns fahren. Aber ein Kopfschütteln begleitet uns. Nach ein paar Kilometern wird es richtig ernst mit der Abkürzung. 22 km nach Siret ist angezeigt, und die Qualität der Piste sehen wir schon an der Abzweigung. In jedem ausgetrockneten Flußbett ließe sich besser fahren als hier. Immerhin finden wir zunächst noch immer irgendwo eine Spur, auf der man mit dem Rad balancieren kann, aber der Wechsel der Spur ist jedes Mal ein Risiko. Und dann kommen auch noch Steigungen! Die zugehörigen Gefällestrecken sind aber noch riskanter, weil man das Fahrrad um Himmels Willen nicht rollen lassen darf. Das ist eine Piste für Trabbis und Moskvichs, und unsere Räder müssen so etwas vertragen ! Es geht auch nicht gut, auf halber Strecke ist Jonas Kette gerissen. Was ein Glück, dass sie genau am Schloß geplatzt ist und er ein Kettenschloß in Reserve hat. Keine 5 Minuten, und es kann weitergehen. Aber es geht nicht geradeaus weiter, statt dessen nimmt die Piste jeden Ort vor der Grenze mit in ihre Schlangenbewegung und eine Straße, die wir von Ferne als die Europastraße angesehen hatten, die auf einem Kamm unsere Piste kreuzt, ist in Wirklichkeit unser Weg, den wir auch noch vor uns haben. Zweimal noch werden wir kontrolliert und der einzige Verkehr, der uns begegnet, sind nagelneue Fahrzeuge der Grenzpolizei. In einem Dorf unmittelbar an der Grenze führt der Weg fast zurück, so dass uns Zweifel kommen, ob wir hier noch richtig sind. Dann sehen wir links der Straße einen Blau-gelben Grenzpfahl und so etwas wie einen Todesstreifen, der am Berghang hinaufführt.

Jonas macht ein Foto,"drüben" sieht es genauso triste aus. Wir überqueren eine Eisenbahnlinie, die zwei verschieden breite Spurweiten, also 4 Gleise auf einer eingleisigen Strecke hat, und die Gleise sind blitzblank gefahren. Die Hauptstrecke von Moskau nach Sofia. Endlich kommen wir auf Asphalt, wenn auch schlaglochübersät, und können uns nach Siret einrollen lassen. Zweieinhalb Stunden für 22 km !Da wäre der Umweg über Radauti sicher leichter gewesen, aber interessant war das gefahrene Stück doch gewesen. Wir kaufen uns hier ein Picknick zusammen und setzen uns an eine windgeschützte Ecke eines Cafes. Cernauti könnte die rumänische Bezeichnung von Czernowitz sein, 45 km dorthin zeigt der Wegweiser an, aber keinerlei Hinweis auf die Grenze zur Ukraine. Wir satteln wieder auf und lassen uns von einem stürmischen Südostwind auf die Grenze zutreiben. Die letzten Kilometer vor der Grenze verdient die Europastraße ihren Namen: Ausgebaut auf Autobahnniveau mit Unterstützung der EG, aber benötigt wird sie wohl eher einmal als Stauraum für Lastwagen, die auf die Grenzabfertigung warten. Wir merken, dass der Umweg über die Ukraine wohl von vielen Transitlastern aus der Türkei nach Westeuropa genutzt wird. Um 15 Uhr sind wir drüben, die Abfertigung war routiniert und höflich, ja, wir Radfahrer kamen sogar vor allen Autofahrern durch. In der Ukraine haben wir die Straße fast für uns allein, dazu in tadellosem Zustand und geradeaus bis zum Horizont. Gut, dass es durch Hügel geht und man die Fortsetzung der Straße immer erst sehen kann, wenn man oben ist. Nach 12 Kilometern die erste Linkskurve, dann geht es durch Buchenwald, der, soviel wir kyrillisch entziffern können, zu einem Naturpark gehört. Wir überschreiten die Wasserscheide zwischen dem Sirettal und dem Tal des Prut, an dem Czernowitz liegt. Vor uns liegen ein paar tolle Abfahrten, auf denen wir die Räder mal richtig ausfahren können, 58 km/h in der Spitze!

Doch Czernowitz selbst liegt wieder hoch auf einem Hang über dem Prut, wir müssen noch einmal mühsam bergauf, und die Stadt scheint riesengroß zu sein, 250000 Einwohner, lese ich später. Das Straßenpflaster stammt noch aus k.u.k Zeiten und ist fast so schlimm wie die Abkürzungspiste heute vormittag, nur noch unberechenbarer. Stoßdämpfer für Autos werden hier an jeder Straßenecke angeboten. Wir fahren vorsichtig auf den Fußwegen, niemand nimmt Anstoß daran, und einige Kilometer hinter der zentralen Busstation taucht rechts, wie im Fremdenführer beschrieben, das Hotel Bukowina auf, wo wir heute für 83 Griwna (= 15 Euro) ohne Frühstück, aber inclusive bewachtem Fahrrad nächtigen werden. Ohne Gepäck fahren wir anschließend noch in die City bergab und finden eine Pizzeria, wo wir die kyrillische Speisenkarte an Hand der Bilder über dem Selbstbedienungstresen zu entziffern versuchen. Statt des beabsichtigten Palatschinkens bekommen wir einen Yoghurtcocktail, der aber eine gourmetverdächtige Überraschung ist.
Kaum zu glauben, dass es in die Innenstadt noch weiter runter geht, und zwar mit einem Gefälle, das wir heute abend lieber nicht mehr riskieren.

Freitag, 12.September 2003

Wir müssen als erstes klären, wie wir von hier aus nach Budapest oder wenigstens in Richtung Rückflughafen kommen können. Die Hotelrezeption kann uns da wenig weiterhelfen, man ist hier auf Autotouristen eingestellt. Den Bahnhof finden wir an der untersten Stelle der Innenstadt, auf der Talsohle des Prut. Ein richtiges Prachtstück aus der Kaiserzeit, und nagelneu restauriert. Eine große Abfahrttafel in kyrillischen Buchstaben erweist sich beim zweiten Hinsehen als Ankunftstafel. Aber rechts davon stehen auch Abfahrten. Odessa, Kiev und Lemberg (l'viv) können wir entziffern, aber nach Südwesten scheint keine einzige Strecke zu führen. Fernbahnhof und Nahverkehrsbahnhof sind außerdem getrennt, im Nahverkehrsbahnhof finden wir Verbindungen nach Siret und Ivo-Frankiv'sk, aber Mukaceve suchen wir vergebens.

Am Schalter spricht man nur russisch oder Ukrainisch, aber immerhin schreibt mir die Dame eine Uhrzeit 15.18 Uhr auf einen Zettel und dahinter in kyrillisch das Wort Mucaceve. Und wir entdecken, dass die einzige Verbindung auf der großen Tafel, die wir nicht hatten entziffern können, um 15.18 Uhr ein Zug nach Uzgorod ist, der Stadt in der Südwestecke der Ukraine, 4 km von der Slowakei und 12 km von Ungarn entfernt. Und der fährt dorthin in sage und schreibe 15 Stunden! Das genau wäre unsere Verbindung! Gleich für heute wollen wir eine Fahrkarte lösen, aber die will uns die Verkäuferin nicht geben, warum, erfahren wir nicht. Ein junger Mann mit tadellosen Englischkenntnissen bietet sich als Dolmetscher an und wir kommen gut zurecht. Am Ende haben wir für morgen zwei Tickets nach Uzgorod incl. Liegewagen und Bettwäsche für 77 Griwna (13,50 Euro) und die Gewißheit, dass wir "disassembled" auch unsere Räder werden mitnehmen können.
Nun haben wir Zeit genug zur Stadtbesichtigung. Czernowitz war zu k.u.k Zeiten ein multikulturelles Zentrum, und die deutsche Kulturkomponente wurde im wesentlichen von den Juden getragen, die etwa 40 bis 60 % der Bevölkerung ausmachten. Hier wurden die Juden nicht in ein Ghetto zurückgedrängt, sondern genossen volle Gleichberechtigung und brachten es zu Wohlstand und Ansehen. Die Nazis deportierten 1943 und 1944 die gesamte jüdische Bevölkerung aus Czernowitz und sie vernichteten in ihrem Rassenwahn zugleich die deutsche Kultur an ihrem östlichsten Punkt. Heute soll nur eine kleine jüdische Gemeinde ein Schattendasein führen. Der größte jüdische Friedhof Europas ist der letzte Hinweis auf eine frühere Blütezeit.

Dieser jüdische Friedhof ist unser erstes Ziel. Hinter einem plattgewalzten Zaun entdecken wir überwucherte Grabsteine, nach dem Stadtplan müßten wir hier richtig sein. Doch wir sind nicht ganz sicher, viele Steine sind kyrillisch beschriftet und zeigen eingravierte Bilder der Verstorbenen, und nicht alle Todesdaten liegen vor 1945. Doch als wir tiefer in die Wildnis eindringen - selbst die Friedhofswege sind so zugewachsen, dass wir die Räder nicht durchschieben können, finden wir pompöse Familiengruften neben einfachen Grabmälern, die immer die Schlußverse gemeinsam haben: Friede seiner/ihrer Asche, teils lateinisch, teils hebräisch.
In Deutsch kann man die Berufe der Verstorbenen ablesen und erkennt sofort, wie die Verstorbenen das Leben in der Stadt geprägt haben müssen. Bankiers, hohe Beamte und Richter, Industrielle und Kaufleute, die zahlreiche kulturelle oder karitative Einrichtungen ins Leben gerufen und gefördert hatten, und das alles in einem relativ kurzen Zeitraum im 19. Jahrhundert und den ersten Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts. Eine große Friedhofskapelle von den Ausmaßen einer Kirche steht am höchsten Punkt des Friedhofs, ausgebrannt, verfallen, die Dachkuppel einsturzgefährdet. Nur den Davidstern an der Spitze der Kuppel hat man neu vergoldet. Um die Kirche herum einige wenige Mahnmale: Für die Ermordung von 168 rumänischen Kindern durch die SS, für die vielen Opfer der Deportierung durch die Nazis 1944. Gartenarbeiter bemühen sich, die Überwucherung des Friedhofs in Grenzen zu halten, einige wenige Grabstätten sind - vielleicht von überlebenden Angehörigen - freigelegt und erneut überwuchert mit wildem Holunder, Hopfen, Weiden, Ahorn und Gestrüpp.

Uns begegnet ein uralter Mann mit einer leeren Gießkanne. Er fragt uns auf jiddisch, wo man hier Wasser bekäme, auf dem christlichen Friedhof gegenüber hat er keins bekommen. Etwas wirr redet er, dass er gesehen hat, wie die 168 rumänischen Kinder erschossen wurden, "habt Ihr gesehen das Denkmal drieben?" Er macht den Eindruck, als sei er noch immer von Angst getrieben und ist fixiert darauf, hier unbedingt Wasser für seine Gießkanne zu bekommen.
Wir fahren in die Stadt zurück und sehen links einen Wochenmarkt. Ein großes Angebot an Tomaten, Paprikaschoten (die ganz dekorativ zu dreidimensionalen Sternen aufgestellt sind), Pflaumen, Zwiebeln, Knoblauch, selbstgemachten Yoghurtkulturen, ein farbenfrohes Bild.

Als Jonas ein Foto machen will, wird ihm der Apparat aus der Hand geschlagen, Fotografieren sei hier unerwünscht. Und der Typ, der ihn belästigt hat, läßt uns nicht mehr aus dem Auge, bis wir auf die Räder steigen und davonfahren. Ob es sich um einen schwarzen Markt handelt, den die Mafia kontrolliert? Am Rand parkt ein nagelneuer Audi der teuersten Sorte, mit getönten Scheiben, zugelassen in Moldawien (MD), den ärmsten Land der früheren UdSSR. Was macht der Eigner hier? Gäbe ein Kontrastbild ab, so einen Schlitten vor den Marktfrauen zu fotografieren, aber wir riskieren es nicht.
Statt dessen versuchen wir, die Stätten der Kultur aufzuspüren und zu besichtigen. Sie gibt es noch, teilweise sogar gut restauriert, aber man muß sie suchen und finden: eine russisch-orthodoxe Kapelle aus geschnitztem Holz, eine große orthodoxe Kirche, in der wir unzählige alte Frauen inbrünstig beten sehen, eine katholische Kirche, deren Messe Jonas abends besuchen wird, die Herrengasse, Flaniermeile der Stadt mit Standesamt und ständigem Straßenorchester davor, ein paar Gaststätten, Cafes und Geschäfte. Alles macht einen durchaus normalen Eindruck, ärmlich zwar, aber an keiner Stelle anrüchig. Bettelnde Kinder gibt es hier nicht und die restaurierten Häuser aus der Kaiserzeit sehen besser aus als in Rumänien und sogar in Budapest. Nur die einzige noch intakte Synagoge finden wir trotz Suchen nicht, aber das deutsche Haus, einst errichtet von deutschen Kaufleuten der Stadt in der Herrengasse; ganz groß und gut erhalten das Jüdische Haus im Stadtzentrum neben dem Theater. Die Universität nehmen wir uns für morgen vor. In einem Hinterhof hinter dem großen Kino, das in der ehemaligen größten Synagoge der Stadt untergebracht ist, entdecken wir Bierschilder für Bitburger, Jever und Radeberger. Ein Touristenlokal mit mehrsprachiger Speisenkarte, sogar geöffnet. Dort speisen wir vom feinsten bei Rotwein von der Krim, etwas teurer zwar, so dass ich nochmal 20 Euro eintauschen muß, aber mit Gourmetfreuden hatten wir hier nun wirklich nicht gerechnet, das ist es uns wert, Czernowitz in guter Erinnerung zu behalten.

Sonnabend, 13.September 2003

das Straßenpflaster hat Jonas' Rad übel zugesetzt. Der 8 mm starke Haltebügel des vorderen Schutzbleches ist vom dauernden Vibrieren durchgeschert. Einen Fahrradladen haben wir nirgends hier gesehen. Doch der Parkwächter weiß uns zu helfen, er biegt den Rest so geschickt fest, dass Jonas wieder fahren kann und nichts mehr klappert. Über das bescheidene Trinkgeld freut sich der Mann riesig. In der Herrengasse nutze ich die Gelegenheit, zum Friseur zu gehen. Der ist sehr besorgt um mein Rad, deshalb soll ich es mit in den Salon nehmen, obwohl ich einen Behandlungsstuhl damit blockiere. Für 50 Cent sehe ich anschließend aus wie die übrigen Ukrainer und falle nicht auf. Jonas hat sich inzwischen nebenan ins Cafe Wien gesetzt und genießt den besten Kaffee seit langem. Und das Kuchenbüffet läßt keine Wünsche offen. Unsere letzte Stadtrundfahrt führt uns zur Universität, einem großen Klinkerbaukomplex, an dem über 7000 Studenten studieren. Übers Wochenende sind aber alle nach Haus gefahren, nun dienen die Gebäude als Kulisse für Hochzeitsfotos.

© Manfred Sürig, 2006
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Rumänien und Bulgarien per Rad zu bereisen traute ich mir zunächst allein nicht zu, also buchte ich eine Gruppenreise, an deren Ende sofort noch eine Zweiertour durch Rumänien, die Ukraine und die Slowakei angehängt und zu einem großartigen Erlebnis wurde
Details:
Aufbruch: 22.08.2003
Dauer: 4 Wochen
Heimkehr: 19.09.2003
Reiseziele: Rumänien
Bulgarien
Ukraine
Slowakei
Ungarn
Der Autor
 
Manfred Sürig berichtet seit 18 Jahren auf umdiewelt.