Vietnam

Reisezeit: November / Dezember 2002  |  von Christian Böttcher

Nebel, Kalkfelsen, Wasserbüffel und Stille

5. Nebel, Kalkfelsen, Wasserbüffel und Stille - in der Provinz

Für ein paar Tage verlasse ich Hanoi, um eine Region südlich der Hauptstadt kennenzuler­nen. Es handelt sich um die Provinz Ninh Binh mit ihrer gleichnamigen Provinzhaupt­stadt. Bekannt ist sie vor allem durch die Tro­ckene Halong-Bucht, eine Felsengebirgsland­schaft mit feuchten Tälern. Im Unterschied zur "echten" Halong-Bucht bei Haiphong ist die "trockene" nicht mit Wasser bedeckt. Dies waren sie in der Urgeschichte mal gewesen. Die Felsen in der Gegend um Ninh Binh se­hen ähnlich aus und sind auch genau so hoch; sie bilden nur keine Inseln. Meine Fahrt nach Ninh Binh mit einem Taxi bietet mir ähnliche Eindrücke wie auch schon die Fahrt vom Flughafen. Die Landschaft südlich Hanoi ist sehr flach und die Straße gut asphaltiert. Nach dem Passieren der Vororte kommen wir durch einige Dörfer recht gleichförmigen Aus­sehens: viele ein- bis allenfalls zweistöckige Häuser, kioskähnliche Gaststätten mit Kindermö­beln und freistehender Getränke-Glasvitrine davor. Als wir in die Stadt Ninh Binh kommen, will der Chauffeur mich zuerst an dem größeren Touristenhotel Hoa Lu absetzen, von dem mein Reiseführer allerdings abrät. Ich überrede ihn, mich zu Thanh Thuy's Guesthouse zu bringen, welches von dem deutsch sprechenden Herrn Tuc geleitet wird. Ninh Binh selber ist keine ansehnliche Stadt, aber die Touristen kommen auch nur wegen der Umgebung hierher. Das Gästehaus bietet einfache und saubere, gemütliche Zimmer. Nur der Strom scheint nicht immer zu funktionieren. Vielleicht liegt das ja auch an den Stadtwerken - ist eben Provinz. Nach einer Mahlzeit und kurzem Ausruhen mache ich einen ersten Ausflug mit meinem Ha­noier Chauffeur. Er bleibt noch bis zum Abend in dieser Gegend und ein Sohn von Herrn Luc begleitet uns. Es geht per Auto in südöstliche Richtung - 28 Kilometer bis nach Phat Diem. Die Berge bekomme ich bei dieser Fahrt noch nicht zu sehen - sie liegen westlich von Ninh Binh. Das Taxi, eine wohl 20 Jahre alte japanische Limousine, ist für die meist schmale Land­straße eigentlich viel zu breit; immer wieder müssen Mopeds und Lastträger angehupt werden. Viele Kirchen sind nah und fern zu sehen; über die Hälfte der Bevölkerung ist katholisch. Eine der Kirchen sehe ich mir an; sie ist alt, aber gut instand gehalten. Im Innern des für diese ländli­che Gegend sehr großen Gotteshauses bin ich ganz allein und glaube fast, in Frankreich zu sein - wären nicht an der Wand die vielen Ventilatoren und die vietnamesischen Bibelzitate unter der Kanzel. Auch außerhalb der Kirche sehe ich außer meinen beiden Begleitern keinen Men­schen. Die Nebengebäude, anscheinend Pfarrhaus und Kindergarten, sind aber ebenfalls in ge­pflegtem Zustand und keineswegs verfallen. Auch der Schaukasten mit seinen Aushängen deu­tet auf eine durchaus lebendige Gemeinde hin. Das Auto steht an der Kirchenmauer und die beiden Männer genießen die Pause. Auf einer wenig befahrenen ostasiatischen Landstraße zu stehen, ist schon ein eigenartiges Gefühl. Um uns herum ist es recht still - eine solche Stille habe ich in Vietnam bisher nicht erlebt, weil ich bisher immer nur in Städten beziehungsweise im Auto unterwegs war. An der Straße zieht sich ein breiter Graben entlang, der manchmal auch von Bauern und Landarbeitern mit kleinen Booten als Transportweg genutzt wird. Gegen­über liegen ein Friedhof und ein paar Gehöfte. Als wir weiter zu unserem nächsten Ziel, einer Pagode, vordringen, wird die Straße zu einem noch schmaleren Feldweg und der Graben zu ei­nem richtigen Kanal, in dessen Seitenarmen große, hölzerne Kajütboote festgemacht sind. Fortbewegt werden diese Frachtboote in dem flachen Wasser mit langen Stangen. Hier wird die Fahrt noch langsamer, aber dafür ist auch mehr zu sehen. Und wieder überholen wir eine Hochzeitsgesellschaft. Freundlich lächelnd machen sie uns Platz und ich winke ihnen ebenso freundlich zu.

Nach der Pagode besuchen wir eine berühmte Kathedrale in Phat Diem. Das Besondere an diesem Bauwerk ist die Mischung aus abendländisch-gotischer und asiatischer Architektur. Es ist nicht nur ein Kirchturm vorhanden, sondern gleich sechs Pagodentürme. Neben der eigentlichen Kirche sind weitere ausladende Gebäude und Portale vorhanden, die das ganze fast wie eine buddhistische Tempelanlage wirken lassen. Einheimische Touristen kommen hier häufig her. Ich bin momentan der einzige Europide weit und breit, was mich für viele der hier herumlaufenden Kinder zu einem interessanten Objekt werden läßt. Neben ein paar allein wegen meines Anblicks verlegen kichernden kleinen Mädchen wagen sich einige Jungs an mich heran und scheinen es schon als Erfolg zu betrachten, mir einmal die Hand geschüttelt und "Hello, how are you?" gesagt zu haben. Ein noch kontaktgewandterer Bursche zeigt auf den in meiner Hemdtasche steckenden Kugelschreiber, worauf ich allerdings mit einem Kopfschütteln antworte. Nun mault der Junge zwar, aber meine Schenkfreudigkeit hat auch Grenzen, so gern ich die Kinder hier mag. Zu großzügiges Schenken verleitet zum Betteln und ausländische Stifte sind hier begehrte Sammelobjekte. Anders ist es natürlich, wenn ich irgendwo zu Gast bin.
Am nächsten Tag geht es mit einem Mopedfahrer in die Berge. Zumindest in Richtung Berge. Der Chauffeur spricht ein wenig Englisch; wenn er es gut könnte, wäre er sicher nicht Chauffeur. Zumindest hörte ich das von Kennern dieses Landes. Es geht über rotbraune Straßen, die man bei uns eher als Feldwege bezeichnen würde. Vorbei an Dörfern, wo nicht nur Träger, sondern auch gackernde Hühner aus dem Weg gehupt werden müssen. Unser Ziel ist ein Dorf, in dem sich das Leben hauptsächlich am und auf dem Fluß abspielt. Fischerei scheint die Haupteinnahmequelle zu sein. Die Hauptanlaufstelle für Touristen, welche hier in erfreulich geringer Zahl herumlaufen, ist ein kleines Büro für Vermittlung von Bootsausflügen. Mit einigen anderen Europäern begeben wir uns auf ein überdachtes Motorboot. Bei der Abfahrt habe ich das Gefühl, der laute Schiffsdiesel würde die Idylle der Landschaft ein wenig stören. Aber daß das Leben in dieser Gegend keineswegs nur idyllisch ist, werde ich während der Fahrt noch beobachten können. Der Fluß ist nicht nur Fischlieferant, sondern auch Transportweg für die Krebse aus den Teichen und die Gesteinsbrocken aus den Steinbrüchen. Während wir uns den fünfzig bis zweihundert Meter hohen Zuckerhutfelsen nähern, fällt mir eine junge Fischerin auf, die ihren Fünfmeterkahn mit den Füßen rudert, während das Boot ein Schleppnetz hinter sich her zieht. Fußruderinnen werde ich in den nächsten Tagen noch häufiger sehen. Ob auch Männer diese Technik anwenden, kann ich nicht feststellen. Der Himmel ist grau, die Luft schwülfeucht und das Atmen fällt mir, zumal mit der in Hanoi eingefangenen Erkältung, nicht immer leicht. Das merke ich besonders bei körperlicher Anstrengung. Die Trockene Halong-Bucht ist nicht nur Fischerei- und Agrarregion, sondern auch Standort für Kalkstein-Tagebau und Kalkindustrie. An einem dieser Steinbrüche fahren wir dicht vorbei, was in mir einen nachhaltig beklemmenden Eindruck hinterläßt. An einer hohen Felswand stapfen Männer und Frauen mühsam die Geröllhänge rauf und runter, laden das Gestein in Schubkarren und gehen damit über primitive Laufstege auf die bereitliegenden Frachtschiffe. Auch hier tragen alle die landesübliche Kleidung mit Strohhüten und Gummisandalen. Zwar habe auch ich beim Bau einer Segelboot-Slipanlage schon steinbeladene Schubkarren bewegt. Aber sowas ein Leben lang machen und davon eine Familien ernähren zu müssen, ist sicher was anderes. Auf meinem Video werden die Aufnahmen vom Steinbruch jedenfalls die krassesten sein. Beim ersten Betrachten auf dem heimischen Fernsehschirm erinnern sie mich später unwillkürlich an Abenteuerfilme mit Szenen von einer Strafkolonie.

Einige Minuten nachdem wir die Steinbrüche hinter uns gelassen haben, legt das Boot in einer weiten, Ebene an. Begrünte Bergwände erheben sich in einiger Entfernung Wir gehen ans Ufer und betreten einen Damm, der sicher einen Kilometer lang ist und auf eine Felswand zuführt. Links und rechts des Damms erstrecken sich riesige sumpfige Felder und dahinter die Felsen, von denen wir mittlerweile umgeben sind. Nicht zuletzt die plötzliche Stille nach dem Abstellen der Motoren läßt das Ganze sehr verwunschen erscheinen. Auf den Feldern arbeiten Frauen. Als wir an ihnen vorbeigehen, grüßen sie freundlich und zeigen uns einen Korb voller lebender Krebse. Auf der anderen Seite des Damms tummeln sich Enten mit ihren Küken. Es gibt in Vietnam ja auch richtige Entenfarmen, in denen der "Hirte" mit einem Boot hin- und herstakt. Ich sehe mich um und genieße den Anblick der steilen, dicht bewachsenen Kalksteinberge. Bei Wanderungen im Sauerland oder im Harz hört man auch in den stillsten Tälern immer ein gewisses Grundrauschen. Dieses scheint hier von der Umgebung "verschluckt" zu werden. Ist es die Schwüle und der aus den feuchten Feldern emporsteigende Dunst? Oder einfach nur meine Erkältung, die das Gehör ein wenig betäubt? Am Ende des etwa einen Kilometer langen Dammes kommen wir auf einen Weg, der uns die Felsenwand hinaufführt. Unsere erste Rast machen wir an einer Hütte, in der Getränke verkauft werden. Die Pause unter einem Sonnensegel vor der Hütte tut gut. Trotz der kurzen Routen verlangt einem das Wandern bei dem Klima doch mehr Anstrengung ab als in Europa. Zwei kleine Jungen lassen sich gerne von mir filmen und ich kann ihnen das Video gleich auf dem Kontrollbildschirm zeigen. Ihre Neugierde beim Betasten der Kamera ist nicht zu bremsen und ich muß aufpassen, daß sie mir den Klappmonitor nicht abbrechen. Aber die beiden haben sich beim Filmen gegenseitig umarmt und mir damit ein wirklich hübsches Bild geliefert. Die Hütte wird von zwei Frauen bewirtschaftet, eine älteren und einer jüngeren. Eine der beiden winkt mir von ihrem Sitzplatz mit einem freundlichen Hallo zu. Einfach so. Während man an vielen Touristenzielen Vietnams als Fremder nur noch von geschäftstüchtigen Cyclofahrern und Postkartenverkäufern angesprochen wird, ist die Gastfreundschaft in dieser einfachen, aufgeräumt-sauberen Hütte noch echt. Wie lange das noch so bleiben wird? Auch in der Trockenen Halong-Bucht gibt es bereits echte Touristen­abfertigungs­anlagen, wie ich noch feststellen werde.

Nach der Pause gehen wir in die große Tropfsteinhöhle Phong Nha, in der ich mir ein wenig Abkühlung erhoffe. Aber innen drin ist die Luft noch dicker. Auf dem Rückweg, es geht wieder über den Damm, begegnen wir ein paar trägen Wasserbüffeln, die am Rande eines feuchten Reisfeldes lagern. Vietnamesische Jungen sieht man auf dem Land öfter auf sol­chen Büffeln reiten. Beim Anblick dieser Tiere muß ich an den chinesischen Philosophen Lao Tse denken, der ja auch auf einem Wasserbüf­fel hinaus in die Einöde geritten und so für immer den Blicken normaler Menschen ent­schwunden sein soll.
Mit dem Boot kommen wir wieder am gleichen Dorf vorbei wie auf der Hinfahrt. Auf beiden Seiten des Flusses türmen sich hohe Felshänge, in die das Dorf eingebettet ist. Kleine, einfache, aber aufgeräumt und sau­ber wirkende Bungalows säumen die Ufer. Die Ufer sind durch kleine Kaimauern und Trep­pen befestigt. Auf den Treppchen sitzen wa­schende Frauen und Kinder, für die glotzende und fotografierende Touristen noch kein Är­gernis zu sein schei­nen. Wir gehen kurz an Land, um eine heiße Quelle zu besichtigen. Als wir uns dem Brunnen nähern, merken wir, daß Ausländer zumindest für die Kinder noch eine willkommene tägliche Abwechslung zu sein scheinen. Einer Engländerin zeigen sie ihre Bauchnabel und wollen wis­sen, ob sie auch einen hat. Ich filme die Kinderschar und drehe dabei den Kontrollmonitor so nach vor­ne, daß die Gefilmten sich dabei gleichzeitig sehen können. Somit schart sich da schnell ein Knäuel um mich, das vor Begeisterung kreischt. Anschließend strecken sie mir ihre Hände entgegen und rufen einen Laut, an den ich mich heute nicht mehr genau erinnere. Es klingt wie "Bèèèèè!" Vielleicht bedeutet das "Bonbon" oder sowas ähnliches. Als ich darauf nicht reagiere, wirken sie nicht enttäuscht. Möglicherweise betrachten sie es einfach nur als Glückssache, ob sie beschenkt werden oder nicht. Und an meiner Filmerei hatten ja auch sie ihren Spaß.

Nach der Rückkehr in den kleinen Bin­nenhafen löst sich die Gruppe auf. Ich bleibe noch im Dorf zum Mittagessen und bestelle mir Fisch in einem Gasthäuschen. So sitze ich allein im Speiseraum unter einem Deckenventilator und den Augen eines Jesusporträts. Ab und zu lau­fen die Kinder der Wirtin mit einem herzlichen Lächeln durch den Raum. Der große Bratfisch ist zweifellos lecker zubereitet. An das Eintunken in Nuoc Mam und in eine andere sehr schar­fe Sauce mit Paprikastückchen habe ich mich ja schon gewöhnt. Auch die Zitronenblätter feh­len nicht. Trotzdem ist es mit meinem Appetit wegen der leichten Erkältung nicht so weit her und die Wirtin scheint es beim Abräumen mit einem leicht betrübten Blick zu registrieren, daß ich die Gräten nicht restlos abgenagt habe. Ich versuche ihr mit Hilfe des beisitzenden Moped­fahrers klarzumachen, daß der Fisch sehr gut und nur mein Hunger nicht so groß sei.
Im Hinterhof der Gaststätte, wo Hühner und Hunde herimlaufen, suche ich eine der Hocktoi­letten auf, deren Klobrille sich knapp über dem Fußboden befindet und mit denen ich auf dem Flug­hafen von Kuala Lumpur zum ersten Mal Bekanntschaft gemacht hatte.
Am Nachmittag fahren wir in die Ort­schaft Hoa Lu, die von 968 bis 1009 n.Chr. Haupt­stadt von Vietnam war. Sogleich schlie­ßen sich einige nette Schüler an, die mit ihren auswendig gelernten Reiseführertexten ihr Englisch und ihr Taschengeld aufbessern wol­len. Sie zeigen mir den Den-Dinh-Tempel, der Ende des 17.Jahrhunderts zu Ehren der beiden in Hoa Lu ansässi­gen Kaiser (frühe Le-Dynas­tie) errichtet wurde. Nach der Tempelbesichti­gung betätigen sich zwei davon als Bergführer und geleiten mich einen steilen Weg hinauf. Ihr Englisch scheinen sie aber auch jenseits ge­lernter Texte gut geübt zu haben, weil sie mit mir recht locker über ihre Schule plaudern können. Dies steigert mein Vertrauen in sie. Der Weg ist schmal und führt teils durch di­ckes Gehölz, teils an steilen Wänden und schönen Aussichtspunkten vorbei. Die Jungen wollen mit mir bis zum Gipfel gehen und sa­gen, dazu müsse man einige große, vor uns lie­gende Felsbrocken übersteigen beziehungs­weise von einem zum nächsten springen. Zwei Felsen schaffe ich auch und lasse mich auf einem nieder, wo ich mit einer tollen Aussicht auf das Tal von Hoa Lu belohnt werde. Der Ort selbst ist heute nur noch ein Dorf und von der al­ten Kaiserstadt sind ledig­lich Grundmauern erhalten. Auf dem Wanderpfad, den wir gerade verlassen haben, steht eine Schulklasse, für die ich offenbar ein seltener Anblick bin. Besonders meine Kletterkünste werden von den Kindern mit Neugierde und zum Glück unverständlichen Kommentaren bedacht. Zu einer weitergehenden Bergwanderung fühle ich mich angesichts Klima und Kondition nicht in der Lage -trotz guten Zuredens meiner Begleiter. Am Fuß des Berges wieder angelangt, kann man sich den Obst- und Getränkehändlern kaum entzie­hen. Die Trockene Halong-Bucht ist zwar durch touristische Einrichtungen noch weitgehend unver­schandelt. Aber um die Hauptsehenswürdigkeiten herum bilden sich bereits Abzockerfestun­gen. Als der Mopedfahrer mich noch zu einer anderen Pagode bringt und mir dort als erstes gleich wieder so eine Händlermeile ins Auge springt, gebe ich ihm ein Zeichen: hier brauchen wir nicht anzuhalten. Lieber genieße ich es, mit ihm durch einfache Dörfer zu fahren, deren Sauberkeit und Ordentlichkeit zu bewundern und lachende Kinder zu begrüßen. Ein ganzer Kindergarten ruft uns "Hello" zu, kaum wir um eine Ecke und in sein Sichtfeld kommen. Als wir eine Brücke überqueren, winken uns zwei im Fluß badende Halbstarke zu. Wie lange wer­den Reisende in dieser Gegend wohl noch so willkommen sein? Abgesehen von ihrer Eigen­schaft als Geldbringer? Glücklicherweise sind Touristenreviere in der Provinz Ninh Binh bis­her nur punktweise vorhanden und scheinen keine große Sogwirkung auf ihren Umkreis zu haben.

An meinem nächsten und letzten Tag in Ninh Binh habe ich noch zwei Ausflugsziele: die Drei Grotten (Tam Coc) und die Pagode Bich Dong. In die Grotten geht es nur über einen Fluß. Als das Moped an die Bootsanlegestelle im Dorf Ninh Hai kommt, glaube ich zunächst, im Disneyland oder Phantasialand angelangt zu sein. Das Hafenbecken ist von einer flach abfal­lenden Mauer eingefaßt, die mit hellgrauen Platten verkleidet ist und somit ein fischschuppen­artiges Aussehen erhält. Damit sieht das Becken aus wie ein künstlicher See für Meerjungfrau­en-Opern. Es herrscht reges Treiben und sicher mehrere hundert Touristen laufen hier herum. Entsprechend groß ist die Anzahl der Händler und Garküchen. Nach dem Kauf der Fahrkarte steige ich bei einer alten Frau ins Boot, die uns mit den Füßen aus dem Hafen herausrudert. Nachdem wir eine Brücke unterquert haben, sieht die Umgebung gleich wieder natürlich aus. Am Ufer einfache Häuser, Angler und spielende Kinder. Und sogleich türmen sich vor uns in geringer Entfernung wieder die hohen Felsenberge auf. Die Bootsführerin spricht außer Fran­zösisch keine Fremdsprachen und wir können uns nur notdürftig verständigen. Aber selbst hier komme ich um die Frage nach dem Familienstand nicht herum, was die Frau mit einer Ringfingergeste andeutet. Na schön, wenigstens brauche ich diesmal nichts zu erklären. So nä­hern wir uns im Boot quer durch ebene Felder der an dieser Stelle besonders eindrucksvoll wir­kenden Bergkulisse. Auf einem Felsvorsprung in der Ferne ragt ein Turm empor. Er gehört zur Pagode Bich Dong, die ich am Nachmittag noch von der anderen Seite her sehen werde. An­fangs begegnen uns sehr viele zurückkehrende Ausflugsboote, aber streckenweise sind wir auf dem Fluß auch allein und ich kann die uns mittlerweile von beiden Seiten umgebenden Felsku­lissen bestaunen. Die leise Geräuschkulisse mit den gelegentlichen, von allen Bergwänden zu­rückschallenden Vogelrufen ist unbeschreiblich. Als wir an einem Eisvogel vorbeikommen, hält die Frau freundlicherweise an, um mir das Filmen zu ermöglichen. Der Vogel ruht sich auf ei­nem Strauch mitten im Wasser aus und läßt auch einige Piepser vernehmen. Wir kommen durch die erste Grotte. Sie ist wie die beiden anderen unbeleuchtet und zeitweilig wird es um das Boot nahezu stockfinster. Die Grottendecke ist so niedrig, daß man im Boot sicher nicht stehen könnte. Das Klatschen der Ruderblätter im Wasser und gelegentliche Rufe der Boots­leute hallen durch den sicher fünfzig Meter breiten Wassertunnel.Als wir zwischen den Grot­ten am Ufer Pause machen, enthüllt die Frau ihre bis dahin sorgsam verborgene Bootsfracht: Souvenirs, Früchte und Getränke... Als ich mir ganz hübsch gestickte Tischdecken ansehe, die die Frau nach eigener Behauptung in Handarbeit angefertigt hat, frage ich mich natürlich, ob es Probleme geben würde, wenn ich nichts kaufe. Die Stimmung an Bord soll entspannt bleiben und ich nehme die Decke. Ein paar Bananen und Erdnußriegel kann ich durchaus gebrauchen und kaufe sie sowohl von der Frau als auch von Händlerinnen, die mit ihren Booten an uns he­ranfahren. Mit den vietnamesischen Geldscheinen tu ich mich nach einer Woche in diesem Land immer noch schwer. Ein Euro sind etwa fünfzehntausend Dong. Es gibt keine Münzen und die Brief- und Hosentasche wird von den vielen Zehn-, Zwanzig-, Fünfzig- und ichweiß­nichtmehrwieviel Tausenderscheinen sehr ausgebeult. Mein Gespür für Zehnerpotenzen ist also noch unterentwickelt und ich halte der Frau glaube ich den zehnfachen Kaufpreis unter die Nase. Ihr Gelächter bewahrt mich vor hohen Ausgaben und sie hat von jetzt an jede Menge Gesprächsstoff, wenn ihre Kolleginnen vorbeirudern. Ich zeige auf die Decke und sage "Mama" zu ihr, um ihr mitzuteilen, daß ich jetzt ein Weihnachtsgeschenk für meine Mutter habe.

Nach der Bootsfahrt und einer herzlichen Verabschiedung geht es mit dem Moped auf die andere Seite der riesigen Felswand, an welcher der Fluß entlangführte. Nach dem Rummel in dem Disneyland-Hafen kommen wir in ruhigere Gefilde. Ich betrete eine Tempelanlage, die sich in einer Ecke der Bergwand befindet. Wobei unter dem Begriff "Tempelanlage" in diesem Fall ein kleiner Freizeitpark zu verstehen ist, in dem sich heute zum Glück kaum eine Menschenseele zeigt. In der Mitte des Parks liegt ein Teich mit einer Insel drin. Um die Insel herum wie auch auf ihr selber verlaufen Gehwege mit Blumenbeeten. Verstreut finden sich buntbemalte, mystische Tier- und Menschenskulpturen. An Gebäuden vorhanden sind ein Theaterpavillon, ein Kiosk und ein Wohnhaus, vermutlich das des Gärtners. Die wohl 180 Meter hohe Bergwand führt eine steile Treppe hinauf bis zu dem Turm, den ich schon von der anderen Seite aus gesehen hatte. Die meiste Zeit bin ich allein und die Stille tut gut. In dem Teich befindet sich neben der Insel ein kleiner Hügel, auf dem ein Dutzend weißer Reiher zwischen Sträuchern hin- und herstapft. Die hübschen, kniehohen Vögel scheint das bewölkt-schwüle Wetter ähnlich träge zu machen wie mich und sie lassen sich durch meine Anwesenheit nicht aufschrecken. Zwei mich freundlich grüßende Teenagerpärchen sind ansonsten die einzigen, die mir begegnen. Als ich die Treppe zum Turm hochgehe, macht mir bereits nach einem Drittel die Erkältung und das ungewohnte Klima zu schaffen und ich begnüge mich mit der Aussicht aus kleinerer Höhe. Nun sehe ich, daß die Idylle der Landschaft teilweise unterbrochen wird durch Fabrikschornsteine - wohl von den hier verbreiteten Kalkbrennereien. Trotzdem sind die stillen Täler mit den vor sich hindösenden Wasserbüffeln ein bezaubernder Anblick, von dem ich heute Abschied nehme. In ein bis zwei Stunden geht es zurück nach Hanoi.
Als ich nachmittags wieder in die Haupt­stadt komme, will der Taxifahrer mich leider nicht direkt vor das Hotel bringen. Er sagt, in Hanoi bekäme er Schwierigkeiten mit der Po­lizei, wenn er durch die Altstadt führe, weil er ein Ninh-Binh-Kennzeichen am Auto hat. So setzt er mich am Ufer des Hoan Kiem-Sees ab und ich habe noch einige hundert Meter zu ge­hen. Mit dem Gepäck ist es dann freilich umso schwerer, all die Postkartenhändler und Mo­torbikefahrer abzuschütteln, die sich in den engen Altstadtgassen sogleich an einen hängen. In dem behaglichen Hotel wieder an­gekommen, rufe ich Thanh an und wir verab­reden uns für den nächsten Tag.

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Die Reise
 
Worum geht's?:
Bericht über eine vierwöchige Alleinreise durch Vietnam von Nord nach Süd. Die Reise begann in Hanoi mit einem Besuch bei Verwandten einer Vietnamesin, die in unserem Familienbetrieb in Deutschland arbeitet.
Details:
Aufbruch: 22.11.2002
Dauer: 4 Wochen
Heimkehr: 19.12.2002
Reiseziele: Vietnam
Der Autor
 
Christian Böttcher berichtet seit 16 Jahren auf umdiewelt.
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