Auf der Spur Kolumbiens Schätze

Reisezeit: Februar / März 2020  |  von Julian H.

Medellin und Umland : Ein Hauch von Wildnis

In den kommenden Tagen merke ich, wieviel Stress von mir abfällt. Wie förderlich das morgendliche Bad im Fluss, die täglichen Spaziergänge, die Zeit mit den Tieren, generell die frische Luft, der Sonnenschein für das eigene Wohlbefinden ist. Gemeinsam mit der körperlichen Arbeit erkenne ich, dass das tagtägliche Handeln rückblickend immer einen Sinn haben kann, sofern die richtigen Rückschlüsse und Erkenntnisse gezogen werden, die das künftige Handeln wesentlich beeinflussen können. Für mich liegt diese Erkenntnis darin, dass ich im Schreiben ein Werkzeug sehe, die eigenen Fähigkeiten und das eigene Erleben zu teilen und somit eine Brücke zwischen der Welt und mir zu bauen.
Das Leben in der „Wildnis“ zeigt mir auf, welche Nachteile oder Anforderungen eine solche vermeintliche Freiheit nun einmal mit sich bringt. Am Ende des Tages kann jede errungene Freiheit nur mit der Prämisse einhergehen, bestimmten Prinzipien zu folgen und das eigene Handeln in Richtung einer übergeordneten Vision zu orientieren. Denn an jedem Ort auf diesem Planeten trägt jeder Mensch diese Sehnsucht nach Freiheit in sich. Geht es letztlich nicht darum, diese Sehnsucht als Antrieb zu sehen, unseren unendlichen Möglichkeiten einer individuellen und schöpferischen Entfaltung Ausdruck zu verleihen und diese in Einklang mit den existierenden Grundgesetzen und den sich ständig verändernden Regeln der Welt zu bringen?
Auf der Farm lerne ich viel über die ursprünglichen Schätze der Natur, über die heilende Kraft der Pflanzen und Kräuter und den Anbau und die Kultivierung von Pflanzen. In der heutigen Zeit ist es wichtiger denn je, diese Schätze zu erkennen, zu bewahren und zu würdigen. Sicherlich bedarf es dazu einem veränderten Verständnis, welche Prioritäten wir selbst und als Gesellschaft setzen und welcher Stellenwert eine kollektive Gesundheit in Verbindung mit der Erde haben kann.

Wir sitzen des Öfteren gemeinsam am Tisch um Inka-Nüsse (Sacha Inchi) zu schälen, die bereits vor hunderten von Jahren von den Inkas kultiviert und ob ihrem hohen Gehalt an mehrfach ungesättigten Fettsäuren geschätzt wurden. Anfangs kommt mir diese Tätigkeit sehr banal vor und ich denke, dass man doch vieles schneller gestalten könnte. Doch ich stelle fest, dass diese für die Gemeinschaft förderliche Tätigkeit erdet, hilft im Moment zu sein und der Zubereitung von Nahrung die eigentliche Bedeutung zukommen zu lassen. Das erste Mal komme ich in den Genuss, die nur wenige Meter entfernt geernteten „Bananas“ und „Platanas“ zu essen. Rückblickend betrachtet hat sich meine Einstellung gegenüber Lebensmitteln von Übersee wie Kaffee, Bananen, Schokolade, Avocado und wie sie sonst noch alle heißen stark verändert. Nicht nur weil mir der Kontakt und das Wissen gegenüber dem Ursprung, den Anforderungen und Folgen, die eine massenhafte Kultivierung für den Export der Produkte mit sich bringt. Die Wirkungszusammenhänge zwischen Monokulturen, sozialen Ungleichheiten und dem möglichen Verlust einer weitaus artenreicheren Flora und Fauna sind komplex und gerade deswegen von jedem Einzelnen mit seinen Einkaufsentscheidungen zu berücksichtigen. Zuhause erinnere ich mich noch oft an die Worte der Kellnerin aus der Amazonas-Bar: „Ist nicht in jedem von uns ein Stück Amazonas?“

Eine Szene, die den Ort und die Atmosphäre treffend widerspiegelt möchte ich teilen. Am Tisch sitzen wir Freiwilligen mit den beiden Töchtern auf der Terrasse spielen Schach, Yenga, Cambio und El Presidente. Wir malen gemeinsam, trinken dazu ein äußerst paradiesisches Getränk - Agua de Panela mit Limonengras und Hibiskusblüten. Über dem Geschehen wachen Traumfänger, die von der Decke hängend gemächlich im Wind baumeln. Untermalt wird die Stimmung durch Meditationsmusik. Die sieben um uns herum seelenruhig schlafenden Hunde zeugen von der beruhigenden Kraft.
Einmal fahren Emanuel und ich mit dem Motorrad nach Alejandria. Auf dem Rücksitz blicke ich ihm über die Schulter und tauche eine Zeit lang in seine Welt ein. Zumindest in seine visuelle Wahrnehmung der Umgebung. Was er denkt, was er fühlt und was er sonst unterbewusst wahrnimmt bleibt mir verborgen. Immer wieder treibt mich die Frage um, welche Gedanken, Glaubenssätze, Ansichten, Träume und Erwartungen, welchen Lebensrhythmus und welche Getragenheit ein Mensch hat, dessen Ahnen in einem vollkommen anderen Umfeld lebten. Welche Erfahrungen er machen musste, an welchen Orten er verweilte, welche Landschaft seine Augen erfreute, welche Energie ihn umgab, welche Bräuche, Traditionen und Riten für ihn von Bedeutung sind, welche Weltsicht er hat und welches Wissen in ihm vorhanden ist, die Grundgesetze und Wirkungszusammenhänge zwischen sich selbst und dem Universum zu erkennen. Und welche Geschehnisse führen schließlich dazu, dass sich dessen Wege mit einem „Fremden“ kreuzen und dennoch beiden Menschen intuitiv bewusst wird, dass sie Menschen sind. Das abseits von allen kulturellen, sozialen und persönlichen Prägungen, von allen Schicksalsschlägen und Überzeugungen in jedem einzelnen unserer 8.000.000.000 Erdenbewohner ein Kern steckt, der uns allen gemein ist, der uns eint, ja verbindet. Ist es nicht eine unendliche Quelle aus der wir schöpfen können sofern wir die Kraft eines jeden anbrechenden Tages anerkennen und uns im Einklang mit der Natur einen Weg in Richtung einer verheißungsvollen Zukunft bahnen? Es ist also mehr ein authentisches Sein, ein natürliches Wachsen im Einklang mit dem Lauf der Zeiten und mit dem Wandel der Natur, als der bemühte Versuch, das Selbst einem überholten Wachstumsstreben einzuordnen, das sowohl Kontakt zu Mensch und Umwelt verloren hat.

Ich spüre, dass dieses naturverbundene Umfeld etwas mit den Menschen macht, dass nur schwer in Worten ausgedrückt werden kann. Wie Bäume sind sie. Wachsen sie ohne sich Gedanken zu machen, sind fest verwurzeln, strecken ihre Äste gen Himmel und sind im ständigen Geben und Nehmen mit ihrer Umwelt. Die Vertrautheit der Familie gegenüber den Geschehnissen, die ich anfangs irrtümlicherweise als Gleichgültigkeit kategorisiere, überrascht mich immer wieder. Meine Perplexität wandelt sich in Verwunderung, haben sie schon fast etwas prophetisches, seherisches, zumindest nichts grüblerisches, nachdenkendes. Es gibt keine überflüssigen Fragen und sollten sie doch auftauchen kommt ein Windzug und trägt sie in die Ferne. Stattdessen flüstert ewig leise die Stimme des Universums. Und hat nicht jeder Mensch auf Erden ein Anrecht darauf, diesen Zustand zu erleben, sich vom unsichtbaren Band seiner Träume leiten zu lassen und zu leben?

Bei Alejandria muss ich zunächst an Alexandria denken. Doch die beiden Städte liegen mehr als 11.000 km auseinander, es scheint keinen allgemeinbekannten Zusammenhang zu geben. Und dennoch vermute ich, dass es irgendeine Brücke zwischen der zweitgrößten Stadt Ägyptens und der Gründung dieser 5.000 Seelengemeinde geben wird. Das Wappen der Gemeinde vereint die mir auch schon wahrgenommenen Besonderheiten dieser Gegend: ein Bergzug für die Schönheit der Landschaft, das Christusmonogramm IHS für den Glauben, eine Taube für Frieden und Freiheit und Pickel und Schaufel für die handwerkliche Arbeit.
An einem Sonntagnachmittag kommen wir also auf dem zentralen Marktplatz an. Gott und die Welt haben sich hier versammelt. Ich bin und fühle mich genauso wie der Gringo dieser Szenerie. Das Ganze wirkt auf mich wie ein Schauspiel, ich bin 100 Jahre zurückversetzt und Teil eines Italowestern. Jeder einzelne Bewohner trägt zum Gelingen dieser Stimmung bei. Vor einer Bar stehen zwei gestriegelte Pferde, die Männer spazieren lässig mit Ponchos, Sombreros und Macheten herum. Nur die Jugendlichen, die auf ihren Motorrädern durch die Gassen rasen, sprengen das Genre. Die Frauen sind wieder einmal äußerst schick gekleidet und stehen in Grüppchen beisammen. Wir warten auf Zan, einen weiteren Freiwilligen, der mit dem nächsten Bus ankommen soll. Mit seinem XXL-Koffer und seinen hippen Kleidern darf ich ihm die Rolle des „Fremden“ übergeben. Auf den Stufen vor einem Laden sitzend müssen Zan, Emanuel und ich ein lustiges Trio abgeben.

© Julian H., 2020
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Südamerika trachtet danach, sein reichhaltiges Repertoire an kulturellen, landschaftlichen und spirituellen Schätzen, dem aufmerksamen Besucher zu eröffnen. So ist die Reise durch Kolumbien auch eine persönliche, die neue Horizonte eröffnen kann.
Details:
Aufbruch: 27.02.2020
Dauer: 3 Wochen
Heimkehr: 21.03.2020
Reiseziele: Kolumbien
Der Autor
 
Julian H. berichtet seit 6 Jahren auf umdiewelt.
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