Dreiländereck - Marseille 2022 / 2023

Reisezeit: Dezember 2022 - Januar 2023  |  von Julian H.

Titaua oder Miss Hiva Oa - 06.01.2023

Marseille

Den Vormittag verbringe ich zunächst in der Kathedrale Notre-Dame de la Garde, die Schönheit der Dinge des Unsichtbaren austarierend. Die Menschen kommen und gehen, ich bleibe dort inne haltend und an die Moschee in Kairo denkend. Von dem Ort auf dem Berge geht eine magische Kraft aus und die Gewissheit, dass dem unbekannten Grad des Zerfließens ein Baustein konstruiert werden könnte ist zweifelsfrei vorhanden. Auf der Spitze das 360 Grad Panorama der in Teilen durch die Konstruktion der Menschen entstandenen Hausaneinanderreihungen und der durch eine weitaus größere Macht geschaffene natürliche Landschaft betrachtend erfahre ich, dass auf einer dieser Frioul-Inseln, der mit dem Château d'If, das wie ein Kleinod nun im Azurblau schlummert, der Graf von Monte Christo einst eingesperrt wurde.
Dieser Partikel der Geschichte war mir nicht gewahr, wie nach Sonnenuntergang des gestrigen Tages die Konturen als schwarzer Scherenschnitt immer kleiner wurden und all die Mysterien der Menschheit mit sich verborgen zu halten schienen.

Ich stolpere gemächlich die Treppen in Richtung Boulevard Vauban, trete über die Schwelle in einen Buchladen und kaufe mir drei Artikel. Das Buch „DISPARAÎTRE“ von Lionel Duroy - weil mich das Cover mit einem Fahrrad, das meinem bis ins letzte Detail gleicht, verziert ist - als zwei Notizbücher. Ein wenig erinnert mich dieser Ort an „Mr. Fox Libros“ in Bogotá, möglicherweise ist es auch der Charakter, der einem jedem Laden mit Buchrücken ausgestattet zu eigen ist. Gedankenverloren trete ich die Straße hinunter mich nur wenig später in einem Café findend. Americano Nr. 2 trinkend sitze ich auf dem dunkelgrauen Klappstuhl während schräg links von mir ein älterer Herr mit glänzend weißem Haar abwechselnd Pfeife raucht oder in aller Seelenruhe auf DIN-A4 Seiten schreibt. Zu diesem Zeitpunkt sind wir die einzigen Gäste und ich frage mich, ob ein kleines Café soviel Schreibende auf Zeit beherbergen kann. Wieder erfrage ich mein Herz nach was es ihm ist. Noch bevor sich jedoch eine eindeutige Antwort herauskristallisiert hat, liegt das Notizbuch längst vor mir und die ersten Zeilen dieses frischen Tages trocknen von der mäßig warmen Mittelmeerluft. Irgendwie kommen wir dann doch ins Gespräch, er schreibt an Roman Nr. UVW auf Seite XYZ und nennt mir seine Internetseite. Auf die Frage ob ich seine Bücher im Laden kaufen kann hat er keine simple Antwort parat, er erzählt etwas von Online-Publishing und davon dass die Tantiemen gerade dazu reichen sich ab und zu einen Kaffee zu kaufen. Ich denke mir in der Theorie nicht viel, in der Praxis nur dass jeder Traum so oft durch den Fleischwolf gedreht wird bis entweder a.) das Traumkonstrukt in unzählige unansehnliche kleine Teile (vermeintliche Unikate) zerfleddert ist oder b.) die Maschine aufgrund der geballten Kraft des Traumapparates nichts weiter als die Summe der einzelnen Bausteine demontiert ist. Geflissentlich überspringe ich diverse Handlungsbögen und Gedankenkonstrukte, da sie vermutlich im Zusammenhang mit einem Reisebericht nur von nachrangiger Bedeutung sind. Ich drücke ihm noch ein Büchlein von mir in die Hand, das er dankenswerterweise annimmt. Auf die ein oder andere Form werde ich ihn in eine Geschichte einflechten beziehungsweise werde mir gewahr, dass ich ihn bereits vor Langem in einen Roman eingeflochten habe. Es ist der alte Herr mit dem Gehstock und der Zigarre der an einen Laternenpfahl lässig gelehnt immer wenn es erforderlich ist in nächster Nähe des Café Silberschreibers in Rom sein Unwesen treibt und Ben bei allen möglichen Fragen und mentalen Querschlägern stets mit den passenden Weisheiten unter die Arme greift die erforderlich sind, damit der Schreiberling sein Herz wieder findet.

Wir verabschieden uns per Handschlag, ich gehe ein paar Schritte und klaube von einem Mäuerchen „Champellion l‘Égyptien“ von Christian Jacq auf. Vermutlich sehe ich mit diesem Werk zwischen den Fingern ein wenig professioneller aus was auch unmittelbar funktioniert als neben mir ein weißes Fahrzeug anhält und mich eine sympathische Fahrerin anspricht. Mein Herz schlägt bereits Purzelbäume, dabei fragt sie mich bloß, ob ich den Seitenspiegel wieder in die normale Position versetzen kann. Selbstverständlich kann ich ihr diesen Gefallen nicht ausschlagen, sie lächelt fortwährend, ist aber bereits über alle Berge noch bevor mir irgend ein intelligenter Ausspruch einfällt.

Am Alten Hafen treffe ich unter dem Ombrière du Vieux Port eine Marseillanerin. Der Ort erinnert mich ein wenig an die Encants Vells in Barcelona. Sie kenne ich noch von früher, aus vergangenen Zeiten die mir wie ein anderes Leben vorkommen. Wir gehen ins Noailles-Quartier, das tunesische Restaurant ist leider überfüllt, auf einem vom Sonnenlicht erhellten Platz in nächster Nähe finden wir eine Stärkung bei frischen ökologischen Backwaren. Es ist eine Zusammenkunft unterschiedlichster Kulturen, ein Konglomerat von variierenden Erfahrungshorizonten und ein ständiger Austausch mit der Einheit des Seins. Der Weg führt durch Gespräche über das Gestern und das Morgen, über die Reisen und das Ausland, Cuso-Expeditionen und die Anden, Schmetterlinge oder das Atlas-Gebirge. Unmöglich ist es aus dem eigenen Selbst herauszuschlüpfen, die Raupe mag beizeiten von der Freiheit mit Flügeln träumen aber wird nicht mit aller Gewissheit behaupten können, ob sie dieses Geschenk jemals erhalten wird. Auf dem weißen Stein an die Festungsmauer angelehnt sitzen wir schließlich, die Boote passieren unsere eigene konstruierte Passage der Aufmerksamkeit, die Wellen warten darauf mit dem poetischen Blick gewogen zu werden.

Damit mir Marseille in Erinnerung bleibt kaufe ich neben dem „Bleu de Marseille“-T-Shirt noch einen Pullover mit Seemann samt einer Emaille-Tasse. Damit bin ich bestens ausgestattet von dem Alltag eines modernen Seglers der Weltmeere in Gedanken zu schwelgen und der Alternativlosigkeit eines Fingerzeiges den letzten Hauch an Bedeutung auszuwringen. Auf der Suche nach dem Leben kann ein Pflasterstein an der passenden Stelle zu einer Pilgerstätte von Myriaden leuchtender Augen aufkeimen, denn nicht der Ort ist es ausschließlich, der Strahlkraft eint, sondern der Inhalt der versammelten Herzen. Stets ist es an jedem Einzelnen daran zu entscheiden welcher Kiesel am Wegesrand zu einem Begleiter auf Zeit werden kann, der nach Gefühl an die Grenzen des Möglichen Botschaften aussendet.

© Julian H., 2023
Du bist hier : Startseite Europa Frankreich Titaua oder Miss Hiva Oa - 06.01.2023
Die Reise
 
Worum geht's?:
Neujahrsradreise über das Dreiländereck via Basel, Bern, Greyerz, Montreux, Genf, Grenoble, Valence, Avignon bis nach Marseille. Mit zweitägiger Zugetappe von Montreux via Genf via Grenoble.
Details:
Aufbruch: 29.12.2022
Dauer: 10 Tage
Heimkehr: 07.01.2023
Reiseziele: Schweiz
Frankreich
Deutschland
Der Autor
 
Julian H. berichtet seit 6 Jahren auf umdiewelt.
Bild des Autors