Schlüssel zum Paradies - Tor zur Hölle: die Apolobamba-Region, Bolivien

Reisezeit: August / September 2004  |  von Robert Rauch

Planung der Expedition: La Paz

Nach der Führung eines zweiwöchigen weltweit bekannten Trekks nahe der Millionenstadt La Paz bleiben mir 12 Tage freie Zeit, um eine neue Route zu erkunden bevor die nächste Führungsarbeit wartet.
Meine persönliche Ausrüstung ist schon in einem kleinen Rucksack verstaut: Einmannzelt, kleiner Biwakschlafsack, leichtes Regenzeug, Ersatzhemd, zweite Unterhose, Ersatzsocken, kleiner Spirituskocher, kleiner Teekessel, die nötigste warme Bekleidung für die Anden bzw. zum Anziehen im Schlafsack in kalten Nächten und ein paar Kleinigkeiten mehr. Was noch fehlt sind der Kochertreibstoff und die Verpflegung.
Als Brennstoff kaufe ich an der nächsten Straßenecke einen halben Liter 98 prozentigen Alkohol "nur zur äußerlichen Anwendung", wie auf der Flasche empfohlen wird. Man kann das Zeug auch trinken, was aber nicht so mein Ding ist.
Die Verpflegung kaufe ich in einer anderen Strasse: 3kg Pita de Kaniawa, ein Hunger stillendes bolivianisches Getreidepulver und 1kg Zucker. Mit kaltem Wasser angerührt und mit Zucker gestreckt genügt Kaniawa eine zeitlang als extrem leichter und nahrhafter Proviant.
Mein gepackter Rucksack wiegt lediglich 8 kg. Das ungewöhnlich leichte Gepäck wird mich unterwegs schnell machen und es ist im Nu gepackt. Dafür werde ich jedoch auf meinem Routenprojekt mit einem gerade noch akzeptablen Minimum an Komfort auskommen müssen.

Jetzt fehlen nur noch die Busfahrkarten zum Ausgangspunkt. In den engen, verwinkelten Kopfsteinpflastergassen von La Paz wimmelt es vor Menschen und Marktständen. Vom Tampon über Taschentücher bis zur Computersoftware gibt es alles zu kaufen was man braucht oder nicht braucht - man muss nur wissen in welcher Strasse.

La Paz ist bunt, laut, verrückt und ständig bricht der Verkehr zusammen. Die Abgase im Zentrum werden von den Passanten auf einer atemberaubenden Höhe von 3600m ü.M. tief inhaliert. Es ist nicht unbedingt meine Welt, aber ich habe gelernt, mich hier zurechtzufinden.
Hoch droben im El Alto, dem mit 4100m höchstgelegenen Stadtteil, bekomme ich 2 Sitzplatz- Fahrkarten nach Agua Blanca, meinem weit entfernten Reiseziel. Ein nicht ortskundiger findet das versteckte Büro der privaten Busgesellschaft nie, auch nicht durch fragen. Typisch La Paz: Man muss den Ort einfach kennen. Vom El Alto sieht man weit hinunter in den wüstenähnlichen Talkessel von La Paz mit seinem Häusermeer. Innerhalb der Stadt sind 1000 Höhenmeter per Taxi oder Bus keine Seltenheit, auch das ist ein Superlativ dieser höchstgelegenen Millionenmetropole der Welt.

Eine Fahrkarte ist für mich, die zweite für den Aymara Indio Jose Lazo, den ich eigentlich heute treffen hätte wollen. Wir sind schon seit Jahrzehnten sehr gute Freunde. Anstatt mich in La Paz zu treffen muss Jose ausgerechnet heute an einer Bürgerversammlung seines Heimatdorfes Quirambaya, auf denen viel geredet und nichts gesagt wird und die er für völlig überflüssig hält, teilnehmen. Jose fehlte heuer bereits zweimal und diesmal müsste er eine empfindliche Geldstrafe zahlen, wenn er nicht hinginge. Das zwingt ihn, morgen früh um 4 Uhr den ersten Nachtbus vom Kolonialstädtchen Sorata zum Verkehrsknoten Achacachi zu nehmen, wo wir uns dann treffen wollen. Wird das klappen? Falls er zu spät kommt werde ich nicht auf ihn warten können.

Ich gehe ziemlich früh zu Bett. Bevor ich kopfüber in die schwarze Höhle tiefen Schlafes stürze dringt als letzter bewusster Eindruck dieser nie versiegende Straßenlärm von La Paz in mein Unterbewusstsein.

Morgens um halb sechs, der klare Nachthimmel ist sternenübersät, stehe ich vor dem Busbahnhof Pelechuco, wo bunt durcheinandergewürfelte Reisende in der Morgenkälte von El Alto um die Wette zittern. Es beginnt zu dämmern, bis wir losfahren. Also eine reguläre Verspätung, eigentlich sind wir sogar sehr pünktlich.
Der Bus ist so voller Menschen, dass er aus allen Nähten zu platzen zu platzen scheint. Ich bin der Einzige "Gringo", wie in Bolivien der weiße Mann genannt wird, denn diese Buslinie liegt nicht auf den ausgetretenen "Gringo Trails". Alles erscheint furchtbar chaotisch, aber wie durch Zauberei oder mittels eines dem Europäer unerkennbaren Systems funktioniert es auf wundersame Weise doch.
Der Bus fährt übers Altiplano, der größten Hochebene der Welt, von der Morgensonne rosa angehauchte Gletscherriesen der nördlichen Königskordillere huschen am Fenster vorbei.
In Achacachi steht ein frierender Aymara Indio am Straßenrand und winkt. Die Bustüre geht auf und er lugt mit ernster Miene herein. Es ist Jose! Als er mich erkennt huscht ein Lächeln über sein Gesicht - wir haben uns gefunden.
Zuerst mal ruft der Fahrer "Mittagessen", es ist noch früh am Morgen. Später wird es auf der nur dünn besiedelten Strecke mangels Gelegenheit lange nichts mehr geben. Wir folgen den anderen Fahrgästen, alle zusammen fallen wir wie ein Bienenschwarm in einem Restaurant neben der Strasse ein, das um diese Zeit schon geöffnet ist.
40 Minuten danach sitzen oder stehen die Fahrgäste erneut auf ihren Plätzen und die Reise geht weiter. Landschaftlich großartig fahren wir am dünn besiedelten Ostufer des Titicacasees entlang, dann biegen wir bei Carabucco östlich ab und der Bus schnauft steil hinauf in menschenleeres Andenhochland. Im Ulla Ulla Nationalpark grasen riesige Lama- und Vicunaherden (die Urform von Lama und Alpaka) beiderseits der Strasse auf Weideflächen ohne Anfang und Ende.

Stunde um Stunde holpern wir dahin, dösen, schauen aus dem Fenster oder ratschen. "Privattransport empfehlenswert" notiere ich mir wegen der klaustrophobischen Enge im Bus in mein Notizheft. Es fahren auch Tiere mit, das ist nicht jedermanns Sache, gehört aber eigentlich dazu.
Die Landschaft zieht weit und menschenleer am Busfenster vorbei und am Horizont recken weiße Gletschergebirge ihre kalten Finger in den tief dunkelblauen Andenhimmel: Die Apolobamba Kordillere. "Sind wir eigentlich noch in Bolivien?" fragt Jose auf einmal zweifelnd. Die Landschaft mutet so fremd an, dass er darin sein eigenes Heimatland nicht wiederfindet. Ich erkläre ihm den bolivianisch-peruanischen Grenzverlauf, der vom 6000er Chaupi Orco und einer Reihe von 5000ern markiert wird.

Im Militärstützpunkt Ulla Ulla steigen 30 Leute aus, das bedeutet endlich Platz, um sich ein wenig strecken zu können. Stunde um Stunde zerfließt, im Lauf des Nachmittags ziehen dunkle Schlechtwetterwolken auf , die irgendwann den Bus einhüllen. Jegliches Zeitgefühl vergeht.

© Robert Rauch, 2005
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Eine Erkundungsexpedition vom bolivianischen Apolobamba-Gebirge zu den Regenwäldern Amazoniens
Details:
Aufbruch: 30.08.2004
Dauer: 7 Tage
Heimkehr: 05.09.2004
Reiseziele: Bolivien
Der Autor
 
Robert Rauch berichtet seit 19 Jahren auf umdiewelt.
Reiseberichte von Robert sind von der umdiewelt-Redaktion als besonders lesenswert ausgezeichnet worden!
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