Schlüssel zum Paradies - Tor zur Hölle: die Apolobamba-Region, Bolivien

Reisezeit: August / September 2004  |  von Robert Rauch

Beginn der Expedition: 4. Tag - Ameisen

Am frühen Morgen sind wir bereit zur Abreise, aber unser Begleiter ist noch nicht fertig. Deshalb kommen wir erst später weg, was nicht weiter schlimm ist.
Zu Beginn trotten wir uns gemächlich warm, das ist besser, als sofort loszuspurten und später kein Tempo mehr zulegen zu können.

"Zu welcher Provinz gehört Mojos?" will ich von Marciano, unserem Begleiter wissen. Er versteht den Begriff "Provinz" nicht und bleibt die Antwort einfach schuldig. Nach einer Weile sagt er "Provinz Pelechuco" - was nicht sein kann. Naja, es ist ja auch egal, wichtig ist, dass er sich im heimischen Urwald besser auskennt als wir. Es fliegen noch ein paar Sätze hin und her, deren Bedeutung schnell austrocknet, bis sie zu willkürlichen Wort- und Klangfetzen werden, sobald sich das Tempo zu einem leichten Trab steigert.

Die Bäume sind mit Dunst verhangen. Es beginnt zu regnen. Der Weg wird etwas rutschig, aber er läuft sich weiterhin gut. Nach einer Stunde oder zwei versiegt der warme Regen, Dampf steigt vom Boden auf, wird von Sonnenstrahlen in dicke Scheiben geschnitten. Eine unbekannte Macht lässt in dieser rauchenden Buschwelt vom Uranfang der Dinge all ihre Lebensentwürfe krabbeln und wimmeln auf einem Boden der gärt wie der Schaum von Sumpf und Morast. Mücken sägen geräuschvoll an der stillen Luft herum. Ein kaum merkliches Zittern geht durch Blätter und Pflanzen: Die große Hitze der zweiten Tageshälfte naht.

Wir erreichen einen großen Fluss, der in der Regenzeit den winzigen Pfad weggerissen hat. Wir müssen uns mit der Machete einen gangbaren Pfad messern. Das Dach aus Blättern riesiger Urwaldbäume schlägt die Sonne wie mit Speeren zurück. "Es kommt nur alle 3 bis 4 Monate jemand hier entlang" erklärt mir Marciano als ob er sich für den schlechten Zustand des Weges entschuldigen müsste. Das ist der näheste Weg in die Zivilisation, auf die in Mojos niemand sehr neugierig zu sein scheint.

Die niedrig hängenden Zweige schnellen auf unsere Oberkörper zurück wie auf Resonanzböden. Aber selbst dieses dumpfe Peitschen zersetzt sich in der Hitze. Welche menschliche Logik, welcher Wille ergibt in diesem grünen Weltall noch einen Sinn? Die Orientierung wird sehr schwierig und wir irren uns mehrere Male in der Richtung, was einige Umwege bedeutet.

Sobald man stehen bleibt bedecken lästige Schweißbienen jede nackte Stelle des Körpers. Seltsame Laute aus dem innersten Inneren des Waldes dringen an das Ohr. Ich höre hinter mir einen Schrei, drehe mich erschrocken um: Jose hängt halb umgerissen in einem Dornengestrüpp, welches ihn wie mit Händen festhält. Ich befreie ihn lachend und wir ziehen weiter.
Mir fallen unzählige monströse Baue von roten Blattschneiderameisen auf, von denen sternförmig breite Ameisen Highways in den Wald laufen.


Angriff der Ameisen:

Am späten Nachmittag erreichen wir einen breiten und ebenen Sandstrand am Ufer des Flusses Quiara. Im Rücken der Wald, der Strand beschert uns einen freien Blick auf den Fluss, auf der gegenüberliegenden Seite beginnt direkt hinter dem Wasser erneut der geheimnisvolle, undurchdringliche Wald in smaragdenem Grün, dicht wie eine Mauer und so hoch wie ein 10-stöckiges Haus. Ein romantisch schöner Zeltplatz.

Ich frage unseren jungen Führer, der heute klaglos einen sehr guten Job gemacht hat, ob dieser Ort ameisenfrei ist, er bejaht lächelnd. Ich bin beruhigt. Vielleicht bin ich manchmal zu misstrauisch, aber ich habe halt auch schon einiges erlebt. Für heute bin ich jedenfalls zu müde, um einen Kontrollgang zu machen.

Wir entzünden ein Feuer und bereiten uns eine kalorienreiche Mahlzeit aus Marcianos Vorräten zu, während die Nacht hereinbricht. Nachdem wir satt sind machen wir es uns im Zelt gemütlich. Marciano legt sich unter das kleine Vordach am Eingang. Es ist schon Wahnsinn, wie viele Leute jetzt in dem eigentlich für einen Mann gedachten Zelt liegen! Wir schlafen in Unterhosen und mit freiem Oberkörper, denn es ist auch nachts noch warm.

"Meinst Du, dass wir wirklich weit genug weg vom Wald und damit in Sicherheit vor den Ameisen sind?" frage ich Jose. "Willst Du jetzt noch mal das Lager verschieben? Marciano hat den Platz doch für gut befunden! Geh, lass mich schlafen, es passiert nichts" antwortet Jose. 2 Minuten später schnarcht er schon.
Eigentlich wollte ich nur seine Bestätigung hören, um mein Gewissen wegen des nicht gemachten Kontrollganges zu beruhigen. Nach dem anstrengenden Tag schlafe ich ebenfalls in Minutenschnelle ein.

Wie lange Zeit vergangen ist kann ich nicht sagen, jedenfalls reißt mich ein markerschütternder Schrei aus tiefem Schlaf. Es ist Jose, der da so brüllt. "Was ist denn los mit Dir?" frage ich erschrocken, schalte die Taschenlampe ein und leuchte Jose damit ins Gesicht. Er hat eine Blattschneiderameise an der Unterlippe hängen, reißt den Leib ab ohne dass die furchterregenden Kiefer des 2cm langen Monsters loslassen. Der Kopf hängt noch an der blutenden Lippe.
"Das brennt wie Feuer, ich dachte im ersten Schreck, eine Schlange hätte mich gebissen" lamentiert Jose. Ich leuchte im Zelt herum, sehe eine Menge Ameisen und frage schlaftrunken mehr mich selbst als Jose "wie sind denn die hier hereingekommen?". Joses Hand klatscht auf seinen nackten linken Oberschenkel - "Drecksviecher" schreit er böse, wieder hat ihn eine Ameise gebissen.

Ich entdecke es zuerst: Ein kreisrundes Loch im Zeltboden, durch das sich ein Strom von Ameisen in das Zeltinnere ergießt. Mit ihren starken Kiefern machen sich die Tiere daran, unser Zelt in handliche Portionen zu zerlegen, um es in Einzelteilen in den Wald transportieren zu können. Die Geschwindigkeit, mit der das geschieht ist enorm, man kann zusehen, wie die Löcher immer mehr werden. Ich schiebe meinen Anorak weg, auf dem ich soeben noch schlief, darunter wimmeln hunderte von gefräßigen Quälgeistern. Es ist entsetzlich.
Jetzt heißt es, Ruhe bewahren aber dennoch schnell handeln, um uns und unsere Ausrüstung schnellstmöglich in Sicherheit zu bringen. "Klack, klack, klack" nagen Kiefer geräuschvoll an unserer Behausung, als wäre es eine Torte. "Raus mit allen Sachen, Zelt abbauen, mach schnell" rufe ich, während Jose bereits den Reißverschluss des Zelteinganges aufreißt und über Marciano hinweg ins Freie stürzt.
Marciano begreift schnell und ohne große Erklärungen, er packt bereits zusammen, seine Jacke, auf der er schlief, ist mit Ameisen übersät. "Nehmt mir unsere Sachen ab, ich reiche sie euch hinaus" raune ich den beiden zu. Eilig räumen wir gemeinsam das Zelt leer, dann komme auch ich ins Freie und wir schütteln zu dritt aus Leibeskräften die Ameisen vom Zelt ab. Die Biester, denen es trotzdem gelingt, sich mit den Kiefern festzuhalten werden zwischen Daumen und Zeigefinger zerdrückt.

Marciano zerschneidet eine handvoll Kochbananen und legt sie auf den Waldboden, um die Ameisen von uns abzulenken. Jeder packt irgendwelche Teile unserer Habseligkeiten und wir flüchten.

Es ist nicht nötig sehr weit umzuziehen, nur etwas weiter den Strand hinein und weg vom unmittelbaren Waldrand. Wir haben einen Fehler gemacht, der mir ein zweites Mal nicht mehr passieren wird: Wir zelteten zwar auf dem Strand, aber zu nahe an den Bäumen. Da ich Marciano's Spürsinn blind vertraute und weil ich schon ziemlich müde war, verzichtete ich auf eine nächtliche Kontrolle unserer Umgebung. Ganz in der Nähe unseres Zeltes ging, von uns zunächst unbemerkt, eine breite Ameisenstrasse durch. Weil der "Ameisenverkehr" erst nach Einbruch der Dunkelheit einsetzt und tagsüber nichts von diesen Tieren zu bemerken ist, haben wir allesamt die Gefahr verkannt, wobei natürlich Marciano, den wir ja extra als unseren Führer engagierten, damit uns so etwas nicht passiert, das hätte erkennen und vermeiden müssen.

Diese Viecher dulden nichts und niemanden in ihrer Nähe, sie räumen alles aus dem Weg, was ihnen zu nahe kommt. Es war im Nachhinein ganz logisch, dass die roten Teufel, die man in der Urwaldsprache auch "Gebisse" nennt, uns angriffen. Mit einem großen Raubtier wird man schon irgendwie fertig - bei "Gebissen" hilft nur die Flucht, gegen sie ist der Mensch völlig machtlos.
Wir schütteln die letzten noch übrigen Quälgeister aus Kleidern und Zelt, dann machen wir eine Bestandsaufnahme: Der Zeltboden ist durchlöchert, jedoch das viel wichtigere Außenzelt unbeschädigt, wenn die Reparatur später auch einen Tag Arbeit kosten wird, so ist der Schaden doch relativ gering und es wäre noch viel schlimmer gekommen, wenn Jose nicht so schnell aufgewacht wäre.
Jose's Rucksack weist etwa 30 Löcher mit Durchmessern von maximal 3cm auf, seine Trainingshose und die Windjacke haben auch was abgekriegt; er selbst ist durch 2 rot geschwollene Bisse leicht verletzt; Marcianos Plastikplane, die ihm als Biwakunterlage diente, ist völlig durchlöchert und unbrauchbar geworden. Warum die roten Teufel ausgerechnet alles, was aus Kunststoff ist am liebsten fressen, kann ich mir nicht erklären, aber genau das schmeckt ihnen.
Ein Großteil der lädierten Ausrüstung lässt sich wieder flicken, neuer ist natürlich nichts geworden. Jose's Frau Fabiana, die eine sehr gute Schneiderin ist, wird nach unserer Rückkehr eine Menge Arbeit bekommen, das ist sicher! Aus dem Schlaf geschreckt blinzeln wir müde in der Dunkelheit herum. Naja, was solls, was passiert ist, ist passiert und lässt sich nun einmal nicht mehr rückgängig machen.

Das Beste ist, wir bauen das Zelt wieder auf und legen uns erneut schlafen. Gedacht, gesagt, getan. Gerade komme ich im Reich der Träume an, da schreckt mich ein Schrei direkt an meinem rechten Ohr auf: "Ameisenalarm!". Sofort fahre ich hoch, bin hellwach und leuchte dem blinzelnden Jose ins Gesicht, auch Marciano ist schon wieder weit diesseits tiefster Träume. Falscher Alarm, Jose hatte einen Alptraum - Marciano's und meine Flüche wegen der erneuten Störung sind nicht druckreif. Den Rest der Nacht schlafen wir wie Steine. Bis zur Morgendämmerung.

© Robert Rauch, 2005
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Eine Erkundungsexpedition vom bolivianischen Apolobamba-Gebirge zu den Regenwäldern Amazoniens
Details:
Aufbruch: 30.08.2004
Dauer: 7 Tage
Heimkehr: 05.09.2004
Reiseziele: Bolivien
Der Autor
 
Robert Rauch berichtet seit 19 Jahren auf umdiewelt.
Reiseberichte von Robert sind von der umdiewelt-Redaktion als besonders lesenswert ausgezeichnet worden!
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