Schlüssel zum Paradies - Tor zur Hölle: die Apolobamba-Region, Bolivien

Reisezeit: August / September 2004  |  von Robert Rauch

Beginn der Expedition: 3. Tag

Morgens um 6 Uhr stehen wir auf und bereiten uns über einem Feuerchen etwas Kakao, um uns aufzuwärmen. Zum Frühstück gibt es Kaniawa und ein halbes Maisbrot, mehr haben wir nicht. Ganz in der Nähe grölt ein Schwarzbär seinen Morgengruß in den Nebel - aus den Tiefen des Waldes kommt mehrmals die Antwort. Wir sind zwar nur mit einer Machete bewaffnet, womit bei ausgewachsenen Bären nichts auszurichten ist, aber wenn man sie nicht provoziert, lassen einen Wildtiere für gewöhnlich in Ruhe - zu zweit sollte man aber schon sein.
Ich besitze zwar ein Gewehr und nehme es auf geruhsameren Expeditionen gerne mit, diesmal war es mir jedoch zu schwer.

Bei Tagesanbruch ist die Nebeldecke weit nach unten gewandert, dicke Tautropfen hängen im Gebüsch und im Hintergrund glühen Gletschergebirge in der Morgensonne rosa auf. Das von der Sonne gestreifte Nebelmeer verfärbt sich lachsfarben und wogt brodelnd auf und ab wie in einem riesigen Siedekessel.

Die Rucksäcke sind schnell gepackt und kurz nach unserem Aufbruch balancieren wir über steile Granitstufen abwärts. Wie haben in grauer Vorzeit Zwangsarbeiter große Granitstufen hierher geschleppt? Es kommt in dieser Gegend bis hinauf ins Gebirge nirgends Granit vor, demnach musste das Baumaterial von weither gekommen sein. Wie das bewerkstelligt wurde vermag kein noch lebender Mensch zu sagen, diejenigen die es einmal wussten sind schon viele hundert Jahre tot. Unzählige Generationen von Benutzern drückten die Stufen durch ihr Gewicht und das der Tragtiere nach und nach über 3m tief in den Boden, dort, wo der Weg jetzt von Vegetation überdacht wird, hat er das Aussehen eines Tunnels.

Bevor wir durch die halbdunklen Gänge laufen versichern wir uns gewissenhaft davon, dass wir keinen Bären erschrecken, der es sich dort drinnen gemütlich gemacht haben könnte. Unbewaffnet wie wir sind, ist es nicht ratsam, sich mit irgendeinem wehrhaften Waldbewohner anzulegen.
In welche im Urwald versunkene Stadt mag der Weg einst geführt haben und wohin sind ihre Bewohner verschwunden? Daran erinnert sich niemand mehr, es gibt nicht den Hauch einer Andeutung, nur der große Geist der Wälder kennt die Antwort und schweigt.
Heute führt der gut ausgebaute und streckenweise einfach verschwundene Weg eigentlich nirgends mehr hin, das Ziel gibt es nicht mehr. Für uns ist er sehr hilfreich. "Meine armen Vorfahren" ruft Jose ein ums andere Mal in tiefer Bestürzung aus, er weiß, dass die Zwangsarbeiter einst seine eigenen Vorfahren, Aymaras, gewesen sein müssen, welche der Herrscherklasse der Inkas nach verheerenden Niederlagen in grausamen Kriegen hatten dienen müssen.
Wir haben beide schon ähnliche Wege gesehen, aber keiner war auch nur annähernd so beeindruckend wie dieser. Der gestrige Regen hat die Stufen schlüpfrig gemacht und wir müssen stets aufpassen, dass wir nicht ausrutschen und es uns nicht auf die Schnauze haut. Dennoch kommen wir schnell tiefer.
Ab und zu passieren wir Lichtungen im dichten Gehölz, von denen wir weit hinein in nicht enden wollende dicht bewaldete Täler blicken können, aus denen jetzt der Nebel verschwunden ist. Soweit das Auge reicht kein Zeichen menschlicher Anwesenheit.

Irgendwo verlieren sich die Granitstufen wieder, aber der Weg ist frei von Vegetation und deshalb gut begehbar. Der trockene Waldboden federt unter den Schritten, doch manchmal waten wir durch knöcheltiefen Schlamm, der sich schmatzend an den Schuhen festsaugt. Es ist heiß geworden. Von den seltener werdenden Aussichtspunkten aus sehen wir nur noch Bäume. Die undurchdringlichen Baumkronen riesiger Urwaldbäume verbergen alles, was sich unter ihnen befindet, das erschwert die Orientierung zunehmend.

Wir müssen nun auf Schlangen Acht geben, für den Führenden ist das ziemlich anstrengend, weshalb wir uns öfter vorne abwechseln.

In den Bäumen krächzen Papageien, manchmal zeigen sich wunderschön bunt schillernde Paradiesvögel, die fern vom Menschen dessen Niedertracht nicht kennen und deshalb nicht an Flucht denken. Wir schrecken einen seltsamen perlhuhngroßen Vogel mit Stummelflügeln auf, der nicht fliegen, dafür aber umso schneller rennen kann und blitzschnell im Dickicht verschwindet. Du meine Güte, vorgestern froren wir noch im Neuschnee der Anden, was für ein Gegensatz!

Jose und ich reden wenig, wir brauchen die Luft zum schnellen Gehen während um uns herum Pflanzen und Bäume wuchern wie in einer sich ausbreitenden Explosion in grün, die sich einen eigenen Kosmos geschaffen hat. Wir kommen an einem durch Farbstoffe herabgefallenen Blattwerks rötlich gefärbten Bach vorbei, ein schöner Platz für unsere längst fällige Mittagsrast.
Hier essen wir Kaniawabrei und die letzten Maisbrötchen.

Nach einer halben Stunde Rast traben wir weiter und gelangen zu einer tiefen Schlucht, über die eine alte Holzbrücke führt, die Zweifel an ihrer Gangbarkeit aufkommen lässt. 120m tiefer, im Grund der senkrechten Felsenschlucht, tost ein brausendes Wildwasser. Wir inspizieren die Brücke gründlich und erst nachdem wir davon überzeugt sind, dass sie trägt, wagen wir uns einzeln hinüber auf die andere Seite.
Die Brücke ist ein Schwachpunkt des Weges. Sollte ich hier später einmal mit Touristen vorbeikommen, dann muss die Brücke Maultiere aushalten, welche Lasten tragen. "Motorsäge mitnehmen - Brücke ausbessern" schreibe ich deshalb unter Notizen über die Lage von Lagerplätzen, Wasserstellen und Tagesetappen. Auf diese Notizen kann ich später mal zurückgreifen, wenn ich sie brauchen sollte.

Es geht wieder weiter durch tiefen Wald. Ein steiler Anstieg presst jetzt - es ist nun schon der dritte strenge Marschtag - alle Kraft aus den Beinen und wir werden langsamer. Ziemlich außer Atem erreichen wir das Ende der Steigung, wo sich der Wald schlagartig lichtet. Bald darauf löst ein mit hohem Hiuchu-Gras bewachsener Hang, in den erbarmungslos die Sonne knallt, den Wald ab. Wir gehen und schwitzen, schwitzen und gehen. Das ewige auf und ab in einer den Willen lähmenden Hitze ist zermürbend.

Schon ist die Dunkelheit nicht mehr fern, da stoßen wir hinter einer Wegbiegung völlig unerwartet auf Hütten. Wie monströse Insekten ragt das Plamstroh der waldgeborenen Häuser aus dem Boden - das muss Mojos sein! Es wurde uns als mindestens so groß wie Pelechuco geschildert, doch mehr als 40 Menschen leben hier auf keinen Fall.
Wir betreten das Dorf und nähern uns dem Marktplatz, welcher an dem ebenen Rasen vor einem auffällig langen Gebäude zu erkennen ist.

Ein paar Männer mit nacktem Oberkörper stampfen Lehmwände für eine neue Behausung, sie sehen uns sofort, reagieren aber nicht. Wir setzen uns in respektvoller Entfernung in den Schatten einer Hauswand, wo wir Schuhe und Socken ausziehen. Dann warten wir ab.
Für Fremde gilt es als unschicklich, direkt auf einen Einheimischen, einen "Lugareno", zuzugehen und ihn brutal indiskret auszufragen. In Europa hat man heutzutage keine Zeit mehr für Sentimentalitäten und derlei aufwendiges Benehmen wird in gegenseitigem Einvernehmen "gespart". Wir müssen jedoch warten, bis sie, die hier das Heimrecht haben, zu uns herüberkommen. Dazu haben wir alle Zeit der Welt.

Ein paar Kinder tollen um uns herum. Sie sind auffällig hell, haben wohlgeformte Körper und markante Gesichtszüge. Schließlich machen die Männer Feierabend und kommen zu uns herüber. Zuerst stellen sie Fragen und wir antworten. Dann erst dürfen wir sie ausfragen. Nach dieser Begrüßung, in der beide Seiten einander vorsichtig abtasten, entsteht ein entspannter Dialog, die Leute von Mojos haben uns in einer sehr ruhigen und freundlichen Art aufgenommen.

Mit stolzer Geste weist man uns einen Zeltplatz in der Mitte des Dorfes zu. Wo die Fahrstraße ist, wollen wir wissen. Zuerst versteht uns niemand so recht, doch dann lachen alle: Es gibt keine Straße, man hat uns falsch beraten. "Der Fußweg nach Tuichi ist schlecht und renovierungsbedürftig, jedoch einwandfrei passierbar. Es ist aber ein verdammt weiter Weg" erfahren wir vom Bürgermeister.
Ich richte einem Juan Lambramani Grüße von Geronimo aus Calestia aus, dieser will in etwa einer Woche mit seinen Maultieren 5 Quintales Reis und ein paar andere Dinge abholen, die ich von meinem Notizblock ablese. Juan soll derweilen schon mal den Reis entspelzen und alles herrichten.

"Wie könnte ich mit einer Touristengruppe und Gepäck von Mojos fortkommen?" will ich wissen. Alle anwesenden Männer von Mojos bieten sich sofort als Träger an.
Wir fragen nach einem Führer für den morgigen Tag. Ein Junge, erst 18 Jahre alt, aber von kräftiger Statur, will den Job übernehmen.

Ein Familienoberhaupt sagt seiner Frau Bescheid, dass sie 2 zusätzliche Abendessen für uns herrichten soll. Nach unserer Kaniawa Diät sind wir sehr hungrig und nehmen die Einladung mit Freuden an. Es wird ein herrliches Festessen im Kreis der 10 köpfigen Familie, auf dem wir große Mengen von Reis, Mais, Kochbananen, Maniok und Eiern, alles frische Produkte aus dem sich vollständig selbst versorgenden Dorf, verdrücken.

Der späte Nachmittag geht in den Abend über, die Nacht bricht herein. Die Ereignisse des Tages verschwimmen. Man hat das Gefühl, welches ein Traum hinterlässt oder eine Geschichte, die einem ein anderer erzählt hat. Später liege ich mit Jose und ein paar Dörflern im kurzen Gras vor unserem Zelt und betrachte den Nachthimmel, über den Milliarden von Sternen schwimmen wie vergossene Milch. Es ist warm und still. Hier kann ich meinen Traum leben. Oder mein Leben träumen. In einer Welt jenseits der Tore, in der ein Mensch die Freiheit hat, das zu tun, was er will, einem Ort ungebundener Wahlfreiheit. Hier kann jeder aufstehen und gehen, ohne um Erlaubnis zu bitten, ohne Gefangener einer Institution zu sein. Die Entdeckung an sich ist durchaus einfach, aber im 21. Jahrhundert stellt sie für die westliche Welt eine solche Beleidigung dar, dass sie pervers erscheint: Der Wunsch, im Rhythmus der Natur zu leben und den Sternen zuzusehen. Nicht zu wissen, was man tut - und es trotzdem richtig machen. Es gibt schlimmere Dinge, als für pervers gehalten zu werden. Diese Gedanken nehme ich mit in meinen Schlafsack und schlafe mit ihnen ein.

© Robert Rauch, 2005
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Eine Erkundungsexpedition vom bolivianischen Apolobamba-Gebirge zu den Regenwäldern Amazoniens
Details:
Aufbruch: 30.08.2004
Dauer: 7 Tage
Heimkehr: 05.09.2004
Reiseziele: Bolivien
Der Autor
 
Robert Rauch berichtet seit 19 Jahren auf umdiewelt.
Reiseberichte von Robert sind von der umdiewelt-Redaktion als besonders lesenswert ausgezeichnet worden!
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