Auf dem Weg nach Albanien (2023)

Reisezeit: September - November 2023  |  von Andreas Kirchner

Die Big Five von Albanien

Nach drei Tagen verlassen wir Korçë. So mancher wird sich fragen, was uns dort so lange gehalten hat. Vermutlich war es die Normalität dieser Stadt, die kein Touristenmagnet ist wie manch anderer Ort in Albanien. Hier ist albanischer Alltag zu spüren, abseits von Souvenirshops und Touristikläden. In den Cafés und Restaurants sitzen Albaner. Natürlich auch Touristen, aber sie sind in der Minderheit - sieht man vom Biergarten der hiesigen Brauerei ab, die neben Bier auch Schweinsbraten serviert. Der Biergarten könnte ebenso auch in München liegen. Immerhin kostet das große Bier hier aber nur 80 Cent.

Es geht weiter in den Süden, um kurz vor der griechischen Grenze wieder eine 180°-Drehung nach Norden zu machen, der Vjosa entlang. Einige Kilometer hinter Korçë teilt sich die Straße unversehens. Rechts geht es auf der neuen, breiten Straße weiter, links auf die alte, kurvige, schlaglochbereicherte SH75. Es gibt keinen Hinweis, wie weit der Ausbau der neuen Straße ist, auf der Karte ist es noch eine Sackgasse. Also nehmen wir den alten Weg nach Ersekë. Es ist ohnehin der weitaus reizvollere, zumal man bei maximal 40 Stundenkilometer genug Muße hat, die Gegend zu genießen. Und sie ist wirklich ein Genuss! Hier aber zeigt sich schon, was immer mehr zu einem Reisedilemma in Albanien wird. Albanien investiert viel in die Infrastruktur. Vor nicht allzu langer Zeit war die SH20 von Gusinje nach Shkodra, auf die wir nach Albanien hineingekommen sind, nur mit Allrad zu meistern. Inzwischen ist sie asphaltiert und gut ausgebaut. Nun kann jeder das einst abgelegene Nebental nach Vermosh problemlos erreichen, mit allen Vorteilen für die Bewohner dort, mit allen Nachteilen für die, die abseits der Touristenströme Natur und Bergwelt genießen wollten. Genauso verhält es sich mit den Straßen, die nach Theth bzw. Valbona führen, die beide mittlerweile selbst von Reisebussen voll mit Tagesgästen bedient werden. Und auch die 16 Kilometer Schotterpiste der SH75 zwischen Ersekë und Leskovik werden bald Geschichte sein, wenn der bereits begonnene Ausbau abgeschlossen ist. In nicht ferner Zeit wird man als Reisender ein ganz anderes Albanien vorfinden, und es wird Gewinner und Verlierer dieser Veränderungen geben.

Wir kommen am Ende einer kleinen Ortschaft an einer auffälligen Gedenkstelle vorbei, sind neugierig und halten an. Wir erwarten nichts sonderlich Beeindruckendes – vermutlich wieder eine dieser heroischen Skulpturen von einem Partisanen mit Gewehr und Patronengürtel von Odhise Paskali, denen man übers ganze Land verstreut immer wieder begegnet – siehe das Foto mit dem ’Kämpfer für die Nation‘ vor der Kathedrale in Korcë. Bekommen haben wir etwas sonderlich Beeindruckendes – und sehr Nachdenkliches. Das aufwendig gestaltete Denkmal erinnert an das Massaker von Borovë im Zweiten Weltkrieg, bei dem deutsche Soldaten aus Rache für einen Partisanenüberfall die Einwohner von Borovë allesamt erschossen haben. Die, die nicht an die Wand gestellt worden waren, trieb man in der Kirche zusammen, die man dann anzündete. Zum Schluss machte man das gesamte Dorf dem Erdboden gleich. Insgesamt 107 Menschen – Männer, Frauen, Kinder, Babys – wurden von den deutschen Soldaten umgebracht. Ein Soldat soll sich verweigert haben, sich an der Exekution zu beteiligen – von seinem Schicksal erfahren wir nichts, aber es ist wohl unschwer, es sich auszudenken. Für alle Toten sind hier Gedenksteine errichtet, und drei große Reliefs bilden den Schrecken und die Szenerie des Massakers eindrucksvoll nach. Wir bleiben eine Weile, sind zutiefst betroffen und verlassen den Platz mit einem Kloß im Hals.

Das Massaker von Borovë

Das Massaker von Borovë

Darstellung des Kirchenbrands

Darstellung des Kirchenbrands

Mit einer Übernachtung im Nirgendwo des südlichen Albaniens erreichen wir das Vjosa-Tal und steuern unser heutiges Ziel an: Nummer 1 der Big Five. Wir wollen zu den Thermalquellen nach Bënja. Wie zu erwarten, ist man an einem Ort, der zu den Big Five zählt, nicht allein. Gar nicht. Aber der Nebensaison gedankt, ist es erträglich. Unvorstellbar, was hier oben im Sommer los ist. Die Thermalquellen liegen neben dem Fluss Lëngarica und sind durchschnittlich 32° warm – sommers wie winters. Man hat kleinere und größere Steinbecken geschaffen, in denen es sich baden lässt.

Die Thermalquellen von Bënja

Die Thermalquellen von Bënja

Um aber ehrlich zu sein: man sollte einfach mal die lauwarmen, nach faulen Eiern riechenden Badetümpel einfach mal lauwarme, nach faulen Eiern riechende Badetümpel sein lassen und dem Fluss Lëngarica flussaufwärts folgen in den Lëngarica-Canyon hinein. Die Jahreszeit ist ohnehin ideal: im Frühjahr, wenn der Fluss viel Wasser hat, wird man kaum im Flussbett entlanglaufen können, im Sommer wird das Flussbett dagegen ziemlich trocken sein. Jetzt aber haben wir neben uns ein munteres Gebirgsflüsschen, das wir bei jeder seiner Kehren durchqueren müssen, um am gegenüber liegenden Ufer weitergehen zu können durch eine kleine, vom Fluss bizarr ausgewaschenen Schlucht. Mehr noch als die Thermalquellen ist der Canyon für uns eines der Big Five!

Kneippkur im Lëngarica-Canyon

Kneippkur im Lëngarica-Canyon

Nummer 2 der Big Five ist Gjirokastra. Wir nehmen uns einen Tag, besichtigen Burg, Zekate-Haus (eines der alten Herrschaftshäuser der Stadt) und die etwas abgelegene Ali Pasha-Brücke und finden darüber hinaus nichts, was uns noch weiter hier hält.

Uhrenturm der Burg von Gjirokastra

Uhrenturm der Burg von Gjirokastra

Ali Pasha-Brücke

Ali Pasha-Brücke

Syri e Kaltër, das Blue Eye, ist als nächstes dran: Nummer 3. Es ist angeblich die meistbesuchteste Sehenswürdigkeit Albaniens. Und das, obwohl man 1,5 Kilometer vom Parkplatz bis dorthin laufen muss – es sei denn, man mietet sich eingangs einen E-Scooter und düst schnell mal hoch. Hier zeigt sich Albanien voll EU-tauglich: Parkplatzgebühr, Eintrittsticket, gut ausgebauter Fuß- und Radweg, Getränkeautomat, Imbiss, Restaurant und Souvenirshop. Da fehlt nix! Das Naturphänomen selbst ähnelt dem Blautopf in Blaubeuren: aus einer ungefähr 50 Meter tief liegenden Quelle strömt Wasser hoch in ein kleines, flächenmäßig überschaubares Becken – aber bei allem Respekt in beachtlicher Menge! An der Oberfläche zu sehen ist ein tiefblaues "Auge", umgrenzt vom hellen Grün der Wasserpflanzen drumherum. Klein aber fein!

Butrint und Berat wären Nummer 4 und 5 auf der Liste. Natürlich werden andere Reisende eine andere Liste der Big Five haben, in der Vermosh, Skutarisee, Theth, Valbona, Koman-See, Ohridsee und, und, und, vorkommen, sicherlich zu Recht. Unsere Liste der Big Five endet allerdings auch schon bei Nummer 3 (zumindest vorerst), denn wir treffen spontan die Entscheidung, einen Abstecher nach Griechenland zu machen. Die Grenze ist gleich um die Ecke.

© Andreas Kirchner, 2023
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Eine Tour mit dem Wohnmobil nach Albanien
Details:
Aufbruch: 16.09.2023
Dauer: 9 Wochen
Heimkehr: 14.11.2023
Reiseziele: Kroatien
Montenegro
Albanien
Slowenien
Der Autor
 
Andreas Kirchner berichtet seit 8 Monaten auf umdiewelt.
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