Railroad Crossing - mit dem Zug quer durch die USA: New York - San Francisco

Reisezeit: Mai / Juni 2007  |  von Markus Keune

26.05. Memorial Day in Chicago

Der Nachteil einer abklingenden Erkältung ist, dass man wieder zum normalen Urlaubsgeschäft übergehen kann, was konkret bedeutet, die Nachtruhe kommt mal wieder viel zu kurz. Auch der Sommer ist zum Teil daran schuld, denn man muss länger auf den Sonnenuntergang und die Chance auf gute Nachtbilder warten. Dementsprechend müde bin ich, als ich heute früh pünktlich um 7 Uhr am Bahnhof von Chicago stehe für einen Kurztrip nach Joliet. Tickets habe ich mir aus dem Automaten gezogen, weil die Zeiten meines Rail Passes seit gestern gezählt sind, denn ab heute beginnt die Hauptsaison, was den Pass verteuert hätte und außerdem hätte ich dann statt dem East Rail Pass, der nur den Osten der USA abdeckt, den National Rail Pass gebraucht, denn heute Nachmittag soll es ja weiter Richtung Kalifornien gehen.
Die Kombination aus East Rail Pass Off-Peak (215$) und California Zephyr (142$) ist einfach günstiger als der Peak National Rail Pass (499$). Aufpreis für den Schlafwagen kommt ja eh extra.

So bin ich jetzt jedenfalls auf dem Weg Richtung Joliet, obwohl es mir in den Fingern juckt, in diesem Zug weiter nach St. Louis zu fahren, um alles Verpasste nachzuholen. Selbst der Schaffner meint, das wäre ja nur ein kurzes Gastspiel von mir im Zug, wenn der wüsste, auf was für eine Reise ich mich heute Nachmittag noch begeben werde. Aus diesem Grund ist natürlich auch klar, warum ich auch unmöglich bis St. Louis durchfahren kann. Dann halt beim nächsten Mal.

Warum aber nun Joliet? Alle nicht-Eisenbahninteressierte können nun gerne diesen Absatz überspringen, es sei denn, sie wollen sich an manch ungewöhnlichem Tick belustigen. Ja, ich fahre tatsächlich nur nach Joliet, weil es hier direkt am Bahnhof eine 90° Schienenkreuzung gibt. Ich weiß, verrückt, aber in diesem Punkt ist mir echt egal, was andere Leute denken. Ist schließlich mein Urlaub.

Zurück in Chicago muss ich von der Union Station kommend Richtung Innenstadt eine der zahlreichen Brücken über den Chicago River überqueren. Nur allzu gerne würde ich mal sehen, wenn sich diese öffnen. Da werden ja immerhin einige Tonnen Stahl bewegt. Als Technikinteressierter nicht uninteressant. Muss ich nach meiner Rückkehr nach Deutschland mal im USA Forum nachfragen, ob man irgendwo Zeiten erfahren kann, wann die Brücken geöffnet werden, z.B. zu einer Parade oder ähnlichem.

Von irgendwoher höre ich wieder Glöckchen klingen. Nein, ich habe keinen auf den Keks bekommen, aber doch realisiere ich erst nach einigen Augenblicken, es ist doch gar nicht Vorweihnachtszeit, wer klingelt hier so aufdringlich? Ein Blick entlang dem Chicago River gibt die Antwort: Da ist eine Brücke geöffnet! Und auf einmal klingelt es auch wenige Meter vor mir. Schranken werden herunter gelassen, Fußgänger aufgefordert, die Brücke zu verlassen und nun hebt sich auch diese. Doch damit nicht genug. Alle paar Meter sind weitere Brücken. Ein ohrenbetäubendes Gebimmel setzt ein und eine Brücke nach der anderen wird geöffnet. Die Innenstadt ist außer nach Süden komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Nichts geht mehr, selbst die Hochbahn muss warten, denn auch deren Brücke wurde geöffnet.

Auf dem Chicago River sehe ich ein kleines Bötchen entlang schippern, dessen Mast ein wenig zu hoch ist für die Brücken. Für den den ganzen Aufwand? Doch ein Schiff kommt selten allein. Eine ganze Schiffsparade folgt im Gänsemarsch bzw. Gänseschwimmen. Ich bin absolut fasziniert. Ein kleiner Traum geht in Erfüllung und das war noch nicht einmal vorher geplant gewesen, ja, ich habe nicht mal davon gewusst. Ich hoffe nur, in zwei Stunden schließen sie die Brücken wieder, denn ich muss ja mit meinem Gepäck wieder rüber zur Union Station.

Wer nun glaubt, fein, auf Brücken kann ich gut verzichten, ich fahre ja nur in der Innenstadt mit dem Auto, wird heute sein rotes Wunder in Form von Absperrschilder erleben: Praktisch der komplette Loop ist für den Autoverkehr gesperrt. Am Wacker Drive stehen unzählige Soldaten, Panzerwagen, Krankenwagen, ein riesiges Polizeiaufgebot. Hat Chicago der Welt den Krieg erklärt? Wären alle Fahrzeuge nicht so festlich geschmückt, man könnte es leicht annehmen.
So langsam dämmert mir aber, was hier gespielt wird: Morgen ist Memorial Day, ein amerikanischer Feiertag, an dem den Kriegsopfern gedacht wird und Chicago rüstet sich gerade für eine Parade. Ich kann mir zwar beim besten Willen nicht erklären, warum dafür schon heute das Leben in der Stadt lahm gelegt wird, aber umso besser, kann ich immerhin noch den Anfang der Parade beiwohnen, die treffenderweise auch noch über die STATE Street geführt wird, aber nicht so patriotisch mitfeiern und Fähnchen schwingen wie alle anderen hier. Ich bin kein Amerikaner, kann nicht stolz auf dieses Land sein und finde ehrlich gesagt deren Politik etwas daneben, höflich ausgedrückt.
Ach - sei's drum: voll daneben! So, jetzt ist es raus.

Leider muss ich vorzeitig abhauen, um noch meinen Koffer aus dem Hotel zu holen und es nicht wieder zu knapp werden zu lassen. Ich lerne ja dazu.
Der für heute früh geplante Spaziergang durch Chicago und die damit verbundenen Fotos müssen bis September warten. So eine Parade und eben das Öffnen der Brücken sieht man nun mal nicht alle Tage und daher ging das vor. Und wieder bin ich froh, gestern noch so vieles in Chicago gesehen zu haben statt nach St. Louis gefahren zu sein. Positiv denken!

Am Bahnhof nutze ich direkt meinen Status als Erste-Klasse-Passagier aus und check in die Lounge ein. Einen großen Unterschied zum normalen Wartesaal kann ich allerdings nicht erkennen. Hier ist es genauso voll und gedrängt und der einzige zusätzliche Service, kostenlose Getränke, stimmt mich auch nicht unbedingt heiter, denn die diversen Brühen schmecken einfach nur scheußlich.
Als es Zeit für's Boarding wird, beginnt großes Gedränge. Jeder will der erste sein. Ich bleibe die Ruhe selbst, denn immerhin haben wir Erstklässler im Gegensatz zu den Zweitklässern reservierte Abteile, also alle Zeit der Welt. Daher setze ich mich einfach auf einen der nun endlich frei werdenden Sessel und lege die Füße hoch. Macht echt Spaß, anderen beim Drängeln und Schubsen zuzusehen. Das entspannt noch mehr, wenn man erkennt, wie unnötig die Eile ist.
Als sich der Sturm gelegt hat, trete auch ich meinen Gang zum nächsten Sessel an, wo ich wieder die Füße hochlegen kann. So, für die nächsten 56 Stunden wird dieses kleine fahrende Appartement also mein zu Hause sein.

Wir verlassen Chicago und nehmen scheinbar die Regenwolkenfront mit. An meiner Scheibe findet ein Wettrennen der kleinen Tropfen statt. Toll, keine Fotos möglich, dann werden halt die Notizen auf den neuesten Stand gebracht und ein wenig geschlafen.
Nach nur 3 Bahnhöfen haben wir bereits eine halbe Stunde Verspätung, aber dem sehe ich gelassen entgegen. Zuletzt hatten wir es zweimal geschafft, sogar eine ganze Stunde wieder aufzuholen.
Ein Blick durch das Fenster bestätigt, sie haben wieder die natürliche Scheibenwaschanlage eingeschaltet. Aber bitte anschließend nicht vergessen, den Handtuchmodus zu aktivieren.

Kurz vor Burlington überqueren wir den Fluss mit vier i, im Übrigen meine allererste Mississippi-Überquerung. Bin dabei so in Gedanken verbunden. In mir steigen Geschichten von Huckleberry Finn auf, dass ich gar nicht kapiere, warum mein blöder Fotoapparat überhaupt keine Bilder macht. Dumme moderne Technik. Ich halte das Teilchen in meinen Händen, sehe auf dem Bildschirm ein gutes Motiv nach dem nächsten durchlaufen, doch kein Foto wird gemacht. Und da fällt es mir wieder ein. Da war doch noch etwas. Ja, ich glaube, das ist doch noch keine mitdenkende Kamera, sondern man muss noch ganz altmodisch den Auslöser drücken, sonst tut sich da gar nichts. Sowas kann ja auch nur mir passieren.
Verzeihung: Könnten wir mit dem Zug bitte noch einmal zurück fahren? Nicht möglich? Was ist denn das für ein Saftladen.

Eigentlich ein gut sortierter sogar. Es gibt Apfel-, Orangen- und Beerensaft. Natürlich kostenlos, man reist ja First Class. Man ist wichtig.
Im Speisewagen wird man allerdings nicht anders behandelt, außer, dass man am Ende die Rechnung nicht zahlen braucht. Geht auf den Waggon (Geht auf's Haus passt ja hier nicht).
Es vergehen endlose Minuten, bis sich endlich jemand unseren Tisch annimmt. Ein genervter Herr im fortgeschrittenen Alter knallt ein paar Bestellkarten hin: Unterschreiben! Oh Mann, und diesen grimmigen Wolf müssen wir jetzt noch 2,5 Tage aushalten? Kann man ein Gesicht eigentlich noch finsterer Gestalten? Ein Blick auf sein Namensschildchen beweist das Unmögliche: Es geht tatsächlich. Hilfe, mit so einer Visage kann man ja echt Karriere als Gespenst machen. Ist das hier etwa eine Geisterbahn?
Er verschwindet wieder und damit wirkt der Speisewagen gleich viel freundlicher. Auch am Nachbartisch höre ich die Leute lästern. Eine Familie wollte viermal Kakao haben, was Mister Holzklotz aber nicht gebacken bekommen hat, weswegen sie ihn hörbar als Idioten bezeichnen. Scheinbar kann er nur bis drei zählen.

Aber zum Glück besteht die Speisewagencrew immer aus mindestens zwei Personen und die nette Dame ist genau das andere extrem. Wenn sie an den Tisch kommt, um die Bestellung aufzunehmen, läutet sie das Verfahren meist mit den Worten ein: "So, jetzt kommt der magische Moment" und quittiert anschließend jeden Bestellungswunsch mit Worten wie hervorragend, gute Wahl, ausgezeichnet, phantastisch. Sie wirft noch ein Lächeln aus ihrem unerschöpflichen Vorrat in die Runde und macht sich mit 500 Danksagungen auf dem Weg zur Küche.

Und noch etwas Positives: Obwohl mein Tisch als letztes bestellt hat, bekommen wir als erstes etwas zu Essen zwischen die Beißerchen. Hilft dennoch nicht, dass ich mal wieder einen Smoking-Stop verpasse, aber immerhin bin ich rechtzeitig zum Sonnenuntergang zurück in meinem Schlafwagen. Aber findet heute überhaupt einer statt? Oder wird der gestrichen wegen is nich?

Heute bewahrheitet sich wenigstens ein elterlicher Spruch, der Kinder ermutigen soll, ihren Teller aufzuessen: Ich habe mich zwar nur mit dem Leeren der Porzellanunterlage auseinander gesetzt, aber es gibt doch noch mal schönes Wetter und die Sonne behält die Oberhand über die Wolken, bevor sie untergeht. Ein letztes Aufbäumen sozusagen.
Nun aber schnell schlafen, denn morgen steht einer der allerschönsten Zugtage auf dem Programm.

Übernachtung: Nachtzug California Zephyr der Amtrak

© Markus Keune, 2007
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Die Zugfahrt einer guten Bekannten musste storniert werden. Heraus kam ein Gutschein, den sie auf meinen Namen ausschreiben ließ - eine nette Geste, doch musste ich so eine Tour finden, die teuer genug ist, den ganzen Gutscheinwert abzufahren. Dann erfülle ich mir halt einfach den Traum und fahre einmal quer durch die ganze USA - mit dem Zug!
Details:
Aufbruch: 16.05.2007
Dauer: 3 Wochen
Heimkehr: 02.06.2007
Reiseziele: Vereinigte Staaten
Der Autor
 
Markus Keune berichtet seit 17 Jahren auf umdiewelt.
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