Railroad Crossing - mit dem Zug quer durch die USA: New York - San Francisco

Reisezeit: Mai / Juni 2007  |  von Markus Keune

24.05. -> Chicago

Natürlich habe ich Carbondale total verschlafen und es grenzt schon fast an ein Wunder, dass ich überhaupt noch rechtzeitig wach werde, um noch im Zug frühstücken zu können, denn bereits um 9:00 sollen wir in Chicago einlaufen. Ich betrachte dies als Zeichen, dass ich die Erkältung jetzt wohl hoffentlich überstanden habe.

Bei mir läuft jede Erkältung eigentlich nach demselben Schema ab: Halsschmerzen, Fieber, verstopfte Nase, Kopfschmerzen, triefende Nase, Husten, Ende. Immerhin bin ich nun schon bei der triefenden Nase angekommen. Also immer schön viele Taschentücher eingepackt und dem weiteren Urlaubsverlauf sollte nichts mehr im Wege stehen.

Zum Frühstück gibt es keine festen Reservierungen, sondern es wird nach der Wer-zuerst-kommt-krümmelt-zuerst Methode verfahren, eine verfahrene Situation, denn der Speisewagen ist restlos von einer Schulklasse erobert worden. Für den Rest bleibt nichts anderes übrig, als sich im benachbarten Aussichtswagen die Zeit zu vertreiben, bis man gerufen wird. Wieder dauert die ganze Prozedur ewig, aber weder Smoking-Stops noch Sonnenauf-/-untergänge stehen in den nächsten Minuten an, also kann man dem ganzen gelassen gegenüber stehen. Man hat ja schließlich Urlaub.

Beim Frühstück beginnt dann wieder der eigentliche Stress bzw. der heimliche Wettkampf, wer es am längsten durchhält, die Tischdecke nicht zu besudeln. Ein mir gegenüber sitzende Amerikaner ist sofort disqualifiziert, nachdem sein Kaffee die Tischdecke nun verziert. Bei mir stellt sich die Frage, ob wohl Tee oder die Milch in den Kelloggs eher dazu neigt überzuschwappen. In solchen Situationen entscheiden Bruchteile von Sekunden über Leben und Tod der Tischkultur. In einer dramatischen Rettungsaktion des Weißen Riesen entscheide ich mich für den Tee, der neben sichtbaren Flecken ja auch temperaturbedingt weitere Schäden anrichten könnte. Ich versuche, einen ausreichend großen Schluck zu nehmen, was zu leichten Verbrennungen im Mundbereich führt und hoffentlich auch einige Grippe-Viren abtötet, falls diese noch immer auf Verstärkung warten. In diesem Moment passiert es, meine Nachbarin kleckert mit ihren Frühstücksflocken. Tja, verloren. Bleiben noch zwei Bewerber um die goldene Plastikgabel: Auge um Auge, Zahn um Zahn, Mann gegen Mann. Wer hat die bessere Löffeltechnik? Wer hält dem ungeheuren Druck stand? Wen interessiert eigentlich noch, die Tischdecke schneeweiß zu halten, wo sie doch durch die beiden übrigen am Tisch eh in die Wäsche muss? Schwamm drüber.

Am Fenster rauschen Felder vorbei, auf der parallel zur Bahnlinie verlaufenen Straße ist praktisch der Hund begraben. Wir befinden uns etwa 2 Stunden von Chicago entfernt und doch in der tiefsten Provinz. Illinois ist zu großen Teilen sehr landwirtschaftlich geprägt. Hat immerhin den Vorteil, dass bei so großen Ackerflächen weniger Bäume die Sicht versperren.
Wir passieren Kankakee und die Bebauung scheint nicht mehr so abzufallen wie zuvor. Man merkt, so langsam erreichen wir den Einzugsbereich von Chicago. Bei Homewood verläuft nun auch die Strecke der Vorortzüge von Chicago parallel zur Amtrak-Strecke und jegliche ländliche Träumerei ist verflogen. An den Stationen der Metra kann man die Entfernung zu Chicago's Innenstadt leicht ablesen: 115th Street, 111th Street, 107th Street, ... immer näher kommen wir unserem Ziel und immer mehr muss ich meine Ansichten über den Verspätungsgrad der Amtrak korrigieren, denn als wir rückwärts in den Bahnhof von Chicago einfahren, sind wir sogar einige Minuten zu früh dran.
Am Bahnhof kaufe ich mir direkt einen 3-Tages-Pass für die Hochbahn (engl. Elevated Train oder kurz ,L') und mache mich auf dem Weg zu meinem Hotel, um wenigstens den Koffer los zu werden.
Im Hotel gleich eine Überraschung, bereits um 10 Uhr morgens bekomme ich ein Zimmer, ein wunderschönes sogar, an einer Ecke gelegen mit Blick auf den Sears Tower und auf die ,L', mit der ich mich auch die nächsten Stunden beschäftigen werde.

Meine Lieblingslinie ist die Purple Line, denn sie verbindet die Schleife in der Innenstadt, die daher auch einfach nur ,Loop' genannt wird, über eine Expressstrecke mit dem Vorort Evanston nördlich von Chicago. Nachteil dieser Linie ist, dass sie nur montags bis freitags und nur in der Hauptverkehrszeit bis in den Loop verkehrt, weswegen ich extra die Reise extra so geplant hatte, dass ich unter der Woche der größten Stadt Illinois sein würde.
Voller Vorfreude auf eine rasante Fahrt mit dem quietschenden, alten, teils hässlichen und doch einfach zu Chicago dazugehörenden Verkehrsmittel warte ich am Bahnsteig und erwische tatsächlich noch die vorletzte Bahn der morgendlichen Rush Hour.
Nur von Express kann keine Rede sein. Auf weiten Teilen der Strecke sind Langsamfahrstrecken und Baustellen eingerichtet. Aber immerhin überholen wir noch genauso viele Züge der Red Line wie vor drei Jahren, denn auch diese Linie bleibt vor den Baumaßnahmen nicht verschont.

Evanston präsentiert sich ebenso schön wie bei meinem ersten Besuch, nur fehlt der Schnee heute und wurde durch die warme Sonne ersetzt. Es ist Sommer in The Windy City. Schneeschippen weicht Rasenmähen und dabei fällt mir auf, heute ist doch Werktag. Haben die Leute keinen Job oder wie schaffen die es, mittags daheim zu sein, um Rasen zu mähen? Und wenn sie keinen Job haben, wie können die sich dann so schöne Häuschen leisten? In die meisten würde ich ohne zu zögern einziehen.
Zurück in die Innenstadt sitze ich schräg hinter dem Fahrer und habe freie Sicht auf die Strecke. Dieser Platz wird von nun an mein bevorzugter Platz sein.

Die Station Harrison suche ich mir als Ziel aus, um auf möglichst kurzem Wege zum Buckingham Fountain zu gelangen, doch werde ich später feststellen, dass abweichend von allen Straßenkarten jedenfalls mir die Station La Salle/Van Buren etwas näher erscheint.
Im Winter verspritzt der Brunnen kein Wasser, aber im Sommer sprudelt er munter vor sich her, dass es eine wahre Freude ist. Im aufkommenden Wind wird feiner Sprühnebel noch bis weit in den Grant Park getragen, ein herrliches Gefühl, bei diesem heißen Wetter da hindurch zu laufen.
Auch danach am Ufer des Michigan Lake einfach im Gras liegen, macht unheimlich viel Spaß. Und ich fühle mich nicht einmal mies, obwohl ich mich ausruhe, ohne heute überhaupt schon etwas Großes geleistet zu haben.

Doch ich bin ja nicht nur aus Spaß in Chicago, habe hier ja auch noch eine Mission zu erfüllen. Wolfgang hatte vor einiger Zeit ein Reisetagebuch aus dem Jahre 1924 ausgegraben und sucht nun Vergleichsfotos der damaligen Motive mit der heutigen Zeit, unter anderen in Chicago. Ein Foto zeigt das Ufer des Michigan Lake in einer Rechtskurve und bis jetzt war ich mir sicher, es müsste ungefähr hier Blick Richtung Norden mit dem Navy Pier sein, doch die Bebauung passt überhaupt nicht zum ausgedruckten Vergleich aus dem Jahre 1924. Sollte sich echt so viel verändert haben? Man kann den großen Unterschied ja leicht auf die Bauwut schieben, aber so schnell gebe ich nicht auf, habe da schon eine Idee, doch dafür muss ich in den Chicagoer Norden.

Ab durch den Millennium Park, ein Foto von der Chicago Bean geschossen und rein in den Loop. Hier ein schönes Motiv, dort ein schöner Blick, da kommt eine Hochbahn, hier sieht es vielleicht auch noch fotogen aus, warum nicht hier noch eine Erinnerung einfangen und irgendwann erreiche ich sogar den Chicago River mit seinen zahlreichen Brücken, wo ich mal wieder ewig brauche, bis ich die ,L' in allen Farben, Formen und Konstellationen aufgenommen habe. Bin halt ein kleiner Schienentransportmittelfreak (ganze 28 Buchstaben für einen kleinen Knacks).

In der Ferne höre ich es ständig verdächtig nach Zug tuten. Dahinten ist die Einfahrt zur Union Station, aber da kreuzen sich ja zwei Züge auf unterschiedlichen Höhen? Die untere sieht mir ganz nach Straßenniveau aus. Das muss untersucht werden, Chicago's Norden kann warten.
Vorbei an Lagerhallen und einer längst nicht mehr betriebsfähigen Klappbrücke geht es dem vermeintlichen Bahnübergang entgegen. Mich beschleicht so ein leichtes Unbehagen, ob dies auch die richtige Gegend für Touristen sei? Touristen werden sich hierher wohl weniger verirren, es sei denn, sie erkennen wie ich die hervorragende Aussicht auf die Hochhäuser jenseits der Chicago Rivers, aber sicher scheint die Gegend doch zu sein, denn gleich in der nächsten Straße begegnen mir zahlreiche Damen, die ihren Hund Gassi führen. Wenn die sich in der Dämmerung alleine hierher trauen, dann kann es nicht schlimm sein. Eine Frage bleibt da aber doch: Haben die sich etwa auch alle hier verlaufen? Sind sie ebenso große Eisenbahnfans? Ich meine, ich sehe nämlich nirgendwo Wohnhäuser, also den Ursprung ihres Spaziergangs. Alles etwas seltsam, vielleicht auch nur Lockvögel, die ahnungslose Touris eine sichere Gegend vorgaukeln sollen, vielleicht... Endlich schließt die Schranke, ich kann meine Fotos machen und mich nicht noch mehr in seltsame Gedankengänge verlieren.

An der Union Station angekommen, versuche ich Tickets für einen Tagesausflug nach St. Louis zu bekommen. Morgen ist der letzte Gültigkeitstag meines Rail Passes und das soll schließlich ausgenutzt werden, doch was sich in der Werbung super anhört, klappt in der Realität meist sowieso nicht. Das Kontingent sei erschöpft, mit dem Rail Pass keine Tickets nach St. Louis und zurück zu bekommen. Höchstens am Tag darauf. So ein Mist, hatte mich doch so sehr auf St. Louis gefreut. Der Tagesausflug war zwar von Anfang an die schlechteste Alternative, weil ich da nur etwas mehr als 3 Stunden Zeit in St. Louis gehabt hätte, aber immerhin.

Am Abend springe ich noch kurz ins Hard Rock Café, um meiner Mutter, leidenschaftliche Sammlerin der Gläser aus dem Shop, eben ein solches mitzubringen und vielleicht auch noch etwas mehr, wenn ich etwas Außergewöhnliches finde.

Und so stehe ich mit einem Gläschen und einem Schal an der Kasse, worauf mich der Verkäufer gleich schief ansieht: Ein Schal bei diesen Temperaturen? Selbst spät am Abend ist das Thermometer noch nicht unter 28°C gefallen. Ich meine nur, sei diese hohe Temperatur nicht ungewöhnlich für Chicago, denn die Stadt am Großen See hielt ich bisher immer für wohl temperiert, doch er belehrt mich eines besseren: In Chicago würde es im Sommer sehr wohl sehr heiß werden, jedoch nicht unbedingt an einem Tag 10°C (gestern) und am nächsten über 30°C (heute). Habe ich da in New Orleans etwa zu viel (Sonne) eingepackt und mitgebracht?

Zurück zum Hotel sollte es per Red Line gehen, doch diese ist wegen einer weiteren Baustelle außer Betrieb. Auf kleinen handschriftlichen Zettel an jeder Drehkreuz (was für ein Aufwand) befindet sich eine kleine Notiz auf diesen unangenehmen Zustand. Dann halt per Bus, warum sonst schleppe ich schon den ganzen Tag 10 Gramm Stadtplan mit mir herum?
Erschöpft sinke ich im Hotel in mein Bettchen. Endlich mal wieder ein Urlaubstag mit vollem Programm.

Übernachtung: Best Western Grant Hotel - Chicago, IL

© Markus Keune, 2007
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Die Zugfahrt einer guten Bekannten musste storniert werden. Heraus kam ein Gutschein, den sie auf meinen Namen ausschreiben ließ - eine nette Geste, doch musste ich so eine Tour finden, die teuer genug ist, den ganzen Gutscheinwert abzufahren. Dann erfülle ich mir halt einfach den Traum und fahre einmal quer durch die ganze USA - mit dem Zug!
Details:
Aufbruch: 16.05.2007
Dauer: 3 Wochen
Heimkehr: 02.06.2007
Reiseziele: Vereinigte Staaten
Der Autor
 
Markus Keune berichtet seit 17 Jahren auf umdiewelt.
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