Falltür ins Paradies

Reisezeit: Oktober 2009 - Oktober 2010  |  von Katharina L.

Varanasi, 25.-29.10.2009

"Irgendwie erinnert mich das hier an die <Marx Brothers in der Oper>", sagt Alex aus Barcelona, der sich mit seinem Fahrradanhaenger in unser viel zu kleines 6-Mann-Schlafabteil zwaengt. "Kennt ihr diese Szene, wo sie im Zugabteil alle uebereinanderklettern?"
Alex ist mit dem Fahrrad unterwegs. Er startete vor sechs Monaten in China, durchquerte mutterseelenalleine die gesamte mongolische Volksrepublik, Kirgistan, Tadschikistan und Pakistan und ist nun gluecklich in Indien angekommen. Bevor wir einschlafen, erzaehlt er uns von den extremen Seelenzustaenden, denen er waehrend seiner Reise ausgesetzt war. Beeindruckt ziehen wir uns die Decken ueber die Ohren, doch fuer Katharina wird die Nacht zur Tortur. Magenkraempfe und Erbrechen lassen sie kaum ein Auge zutun.
Nach unserer Ankunft in Varanasi, erwischen wir eine Autorickshaw in die Altstadt. Voellig uebernaechtigt, Katharina auch noch geschwaecht mit voellig entleertem Magen, sind wir auf Indiens spirituelles Zentum denkbar schlecht vorbereitet.

Das Leben an den Ghats...

Das Leben an den Ghats...

Nachdem uns der Rickshaw-Fahrer an einer voellig falschen Stelle abgesetzt hat, koennen wir, voellig orientierungslos, das von uns ausgesuchte Guesthouse nicht finden. Sofort haengen sich zwei Schlepper an unsere Fersen und verfolgen uns zwei Stunden durch die Gassen und ueber die Ghats der heiligen Stadt mit einer selbst fuer indische Verhaeltnisse unglaublichen Hartnaeckigkeit.

... und am Ufer des Ganges

... und am Ufer des Ganges

Es ist fuer unseren Seelenzustand dabei nicht gerade hilfreich, dass unsere verzweifelten aber vergeblichen Versuche, den beiden zu entkommen, in unmittelbarer Naehe gerade verbrennender menschlicher Leichen stattfinden. Mitten in einem Satz wie "es reicht jetzt wirklich, bitte, bitte, lasst uns in Gottes Namen endlich alleine!!!", faellt der Blick ploetzlich auf ein halb verkohltes, aus einem qualmenden Scheiterhaufen ragendes menschliches Bein. Erst nachdem Katharina, einem Nervenzusammenbruch nahe, mit Traenen in den Augen beginnt sie anzuschreien, zieht ein zufaellig die Szenerie beobachtender Inder unsere Peiniger beiseite und befiehlt ihnen, Unheil witternd, zu verschwinden.

Dann folgt unsere Rettung in Form eines Yogis namens Shiv Shakti. Seine freundlichen Augen, die hinter der runden Brille hervorblitzen, und sein bestechendes Laecheln, das seine weit auseinanderstehenden Zaehne offenbart, lassen uns sofort Vertrauen zu ihm fassen. Mit seiner orangenen Kutte, seinen grauen Dreadlocks und seinem grauen langen Bart, in den ein Zopf hineingeflochten ist, schlappt er fidel vor uns her, immer wieder kichernd auf den einen oder anderen Kuhhaufen hinweisend. ("Take care, hihi!")

Heiligtuemer

Heiligtuemer

Er fuehrt uns zu einem Guesthouse (Luksmi Guesthouse), wo wir prompt bleiben und ersteinmal erschoepft auf dem Bett zusammensinken.
Gegen Abend raffen wir uns noch einmal auf und setzen uns an das Main Ghat. Wir beobachten das rege Treiben am Ufer des Ganges, waehrend wir geroestete Erdnuesse aus einer kleinen aus Zeitungspapier geformten Tuete knabbern, die wir bei einem Strassenhaendler gekauft haben.
Etwas spaeter beginnt eine beeindruckende, stundenlange Zeremonie mit Gesang, Trommeln und Musik. Fuenf junge Maenner stehen auf geschmueckten Plateaus und schwenken Federn, Kerzen und Rauchgefaesse. Der Saenger klatscht immer wieder in die Haende und viele der Menschen, die zu hunderten um uns sitzen, stimmen mit ein. Still sitzen wir da, beobachten alles und nehmen die magische Atmosphaere auf.

Allabendliche Zeremonie

Allabendliche Zeremonie

Wie auch immer wir uns das empfohlene "Mona Lisa Cafe" auch vorgestellt haben mochten, an einen maximal drei mal drei Meter grossen Kaefig ueber den Daechern Varanasis haben wir dabei bestimmt nicht gedacht.
Doch wieder einmal spielt uns das Schicksal (wie der Inder es interpretieren wuerde) eine interessante Begegnung zu: Gerade als wir nach unserer Pasta aufbrechen wollen, erscheint Dennis, ein junger Deutscher, schlank, grossgewachsen, mit kahlgeschorenem Kopf und Vollbart, freundlich gruessend im Kaefig.
Angestellter einer grossen Telekommunikationsfirma sei er bislang gewesen, auf der Karriereleiter steil auf dem Weg nach oben. Ein Leben mit vielen Genuessen, aber immer weniger Gefuehlen und Gedanken. Da habe er alles hingeschmissen, habe das Geld, das eigentlich fuer Altersvorsorge und Hauskauf bestimmt war vom Konto geholt und habe sich auf Weltreise begeben. Eine Reise auch zu den Fragen nach dem eigenen Leben, nach Sinn, nach Wuenschen und Sehnsuechten. Er habe nun Plaene, nach seiner Rueckkehr Sinnvolleres zu machen, als Dinge zu verkaufen, die ausser seinem Geldbeutel niemandem nuetzen. Nochmal studieren vielleicht, um Lehrer zu werden oder um sich im sozialen Bereich oder im Bereich erneuerbarer Energien zu engagieren.
Wir freuen uns fuer ihn, dass sich in seinem Leben so viel bewegt, freuen uns, dass er es offensichtlich Ernst meint mit dem Ausstieg aus Leistungsterror und Konsumzwangsneurose. Nachdem wir ihm als Begleitlektuere fuer seinen neuen Lebensweg Tom Hodgkinsons "Anleitung zum Muessiggang" ans Herz gelegt haben, wuenschen wir ihm alles Gute und verabschieden uns. Vielleicht trifft man sich ja noch mal wieder auf dieser Reise.

Nach einer zufaelligen Begegnung mit Shiv Shakti am naechsten Tag, mit dem wir einen koestlichen Lemon Tea an einem Strassenstand trinken und uns nachmittags zum Yoga verabreden, stossen wir mittags ausgeschlafen aber hungrig auf die German Brown Bread Bakery, die mit verschiedenen Brotsorten in der Auslage lockt. Wir machen es uns auf den Sofabetten bequem und studieren die Speisekarte. Nicht nur, dass es Kaesefruehstueck, Dinkelbrot, Kuchen und viele andere Bio-Fairtrade-Koestlichkeiten gibt, nein, die German Bakery ist auch eine Institution, die viele soziale Projekte unterstuetzt. Sie betreibt eine Schule fuer arme Kinder, einen Workshop fuer Frauen, die ermutigt werden, ihr eigenes Geld mit selbstgemachten Marmeladen und Kunsthandwerk zu verdienen, ein Guesthouse, usw. Und so schmeckt der cheese cake brownie doppelt so gut, waehrend wir Reiseberichte mit anderen Travellern austauschen.

Strassenzahnarzt

Strassenzahnarzt

Um fuenf Uhr holt uns der Yogi ab. Wir laufen durch labyrinthaehnliche Strassen, kommen dann zu Shiv Shaktis Haus. Als wir das Erdgeschoss betreten, ist es stockdunkel. Eine zerwuehlte Szenerie aus Kartons, Tonkruegen, alten Schuhen. Feuchte Luft steht im Raum. Wir tasten uns barfuss zur dunklen Treppe, denn die Schuhe mussten wir am Eingang ausziehen, dann hinauf in den ersten Stock. Etwas heller und freundlicher empfaengt uns dieser. Viele Pflanzen begruenen den Innenhof. Wir steigen noch weiter hinauf auf die Dachterasse. Dort stoeren wir eine Affenfamilie, die es sich scheinbar schon seit laengerem hier gemuetlich gemach hat. Die Affen fluechten sofort, als sie uns bemerken. Dennoch greift der Yogi zu einer Metallstange und schlaegt lachend nach den Affen, um uns zu demonstrieren, wie man sie verjagt. Danach fuehrt er uns ein in die Lehre des Yoga und der Meditation. Wir sollen eins werden mit Natur und dem Umfeld, denn alles, was wir sehen, ist auch in uns (uh, auch die Kuhfladen und der ganze Muell auf der Strasse?) und alles ist Gott. Immer wieder muss ich an die Metallstange und die Affen denken. Wie wir es gewohnt sind, stellen wir kritische Fragen zu den Ausfuehrungen des Yogi. Doch wir bemerken schnell, dass dafuer hier kein Platz ist. Es gibt einen Guru und der ist weise.
Auf Juergens Einwaende reagiert er kaum. Meinen Widerspruch, dass ich nicht
der Meinung bin, dass jede Frau einen Mann an ihrer Seite brauche, der sie beschuetzt und ihr Kraft gibt, da Frauen schwaecher sind als Maenner, nutzt er fuer sich und fuehlt sich darin bestaetigt, dass Frauen immer zu emotional reagieren wuerden und 90 % der Emotionen negativ seien. So bleibt unser Exkurs in die Welt des Yoga und der Meditaion mit Shiv Shakti eintaegig und wir beschliessen seine Dienste nicht weiter in Anspruch zu nehmen.
Den Abend beschliessen wir mit Alex im Alka Restaurant mit Blick auf den Ganges und lustigen Geschichten.

Alex

Alex

Varanasi, das heisst Himmel und Hoelle auf Erden, im wahrsten Sinne des Wortes. Ob es die Seele eines der dutzendfach am Gangesufer verbrennenden Leichname ins erloesende Nirwana schafft, bleibt ungewiss. Die Angehoerigen, die die uebriggebliebenen Gebeine ins Wasser werfen, hoffen nichts sehnlicher als das. Doch sie wissen auch, dass der Verstorbene vielleicht zurueckkehren muss ins irdische Leid. Wiedergeboren, in welcher Gestalt auch immer.

Gleich neben den brennenden Scheiterhaufen wird in farbenpraechtigen Zeremonien im Angesicht des Todes das Leben gefeiert. Das macht die unvergleichliche Atmosphaere dieser Stadt aus: Diese immerwaehrende, gleichzeitige Praesenz von Leben und Tod. Unter der Intensitaet dieser Eindruecke wird selbst die sonst so unertraegliche Verdreckung einer typisch indischen Grossstadt in den Hintergrund gedraengt. Vor den grossen Fragen des Lebens und Sterbens, wird der Tritt in die Kuhscheisse, wird der Weg durch Muellberge, Spucklachen und Urinseen zur Nebensache. Das alles macht Varanasi fuer uns sicherlich zur beeindruckendsten der von uns besuchten indischen Staedte.

Kinder verkaufen schwimmende Kerzen, die Glueck bringen sollen

Kinder verkaufen schwimmende Kerzen, die Glueck bringen sollen

Dem kann auch Alex aus Barcelona nur zustimmen, nachdem wir ihn an seinem Geburtstag eine gemeinsame Bootsfahrt auf dem Ganges geschenkt haben, die uns ganz dicht an die brennenden Scheiterhaufen und an die in unmittelbarer Nachbarschaft stattfindenden Zeremonien brachte. Zum Abschied schenken wir ihm noch einen Talismann fuer seine Weiterreise: wir faedeln sechs gruene Chilischoten und eine Limette auf einen roten Faden, den Alex sich an seinen Fahrradlenker binden soll.

Das haben wir uns von den Rikshawfahrern abgeschaut, die alle einen solchen Gluecksbringer vor der Windschutzscheibe baumeln haben (ein paar Tage spaeter, nachdem er einen Zusammenstoss mit einer indischen Motorrickshaw hatte, wird Alex per Mail anfragen, ob der Talisman eine Garantie hat. Obwohl ja der Talisman in gewisser Weise gewirkt habe. Denn er (Alex) habe den Unfall unversehrt ueberstanden. Toi, toi, toi ...).

Katharina bangt...

Katharina bangt...

... um jede einzelne Schraube ihrer sezierten Kamera (dieser Reperaturversuch in einer Hinterhofwerkstatt schlug leider fehl, erst die Spezialisten in Kalkutta konnten die Kamera wiederbeleben)

... um jede einzelne Schraube ihrer sezierten Kamera (dieser Reperaturversuch in einer Hinterhofwerkstatt schlug leider fehl, erst die Spezialisten in Kalkutta konnten die Kamera wiederbeleben)

© Katharina L., 2009
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Die Reise
 
Worum geht's?:
1 Jahr: Indien – Thailand – Laos – Vietnam – Neuseeland – Chile – Argentinien – Peru – USA
Details:
Aufbruch: 01.10.2009
Dauer: 12 Monate
Heimkehr: 01.10.2010
Reiseziele: Indien
Thailand
Vietnam
Laos
Neuseeland
Chile
Argentinien
Bolivien
Peru
Vereinigte Staaten
Der Autor
 
Katharina L. berichtet seit 14 Jahren auf umdiewelt.