Falltür ins Paradies

Reisezeit: Oktober 2009 - Oktober 2010  |  von Katharina L.

Butch Cassidy Revisited

Butch Cassidy Revisited

Die Faktenlage ist eher duerftig: die notorischen Eisenbahnraeuber Butch Cassidy und The Sundance Kid kamen 1908 ins "Silberland" Bolivien. Zum einen wollten sie ihren behoerdlichen Verfolgern in den USA entgehen, zum anderen wollten sie einen letzten grossen Coup landen und sich dann in der Gegend um Santa Cruz, im Osten des Landes, zur Ruhe setzen. Sie hatten die Silberminen im verschlafenen Nest Tupiza auf dem suedbolivianischen Altoplano als Ziel auserkoren. Am 3. November 1908 ueberfielen sie die Kuriere der Aramayo Franke & Cia Silver Mine Company, die Minenarbeitergehaelter durch das unwegsame Gelaende transportierten, und flohen mit den erbeuteten etwa 20.000 Dollar nach Norden, ins noch verschlafenere San Vincente, wo sie Logis bei einem gewissen Senor Bonifacio Casasola nahmen.
Der hatte nichts Besseres zu tun als die beiden bei der naechstgelegenen Polizeistation zu verpfeifen. Am 6.11.1908 sollen so Butch Cassidy und Sundance Kid im Schusswechsel mit der Vier-Mann-Abteilung des Capitan Justa Concha ihr Ende gefunden haben. Diesen Erfolg vermeldete zumindest das bolivianische Militaer an die US-amerikanischen Justizbehoerden sowie an die gegen Cassidy und Kid ermittelnde Detektei Pinkerton.
Bewiesen konnte das allerdings niemals werden. Als eine forensische Forschungsgruppe unter Clyde Snow 1991 das angebliche Grab Cassidys oeffnete, fand man - laut DNA-Analyse - die Gebeine des deutschstaemmigen Minenarbeiters Gustav Zimmer.
Nach anderen Quellen soll Butch Cassidy viel spaeter in Paris oder in New Mexico gestorben sein. The Sundance Kid soll sein Leben zwischen 1908 und 1930 an einigen dutzend Orten gelassen haben.
Nun ja, die Wahrheit sieht natuerlich, wie immer, ganz anders aus ...

Trotz der sengenden Sonne blaest ein unangenehm kalter Wind ueber die steinige und staubige Hochebene. Wir muessen schon am Canon de Incas, dieser beeindruckenden, labyrinthischen Schlucht zehn Kilometer suedwestlich von Tupiza, die falsche Abzweigung genommen haben.
Unsere Beine fuehlen sich schlapp an, die Hoehenluft macht uns zu schaffen. Ein paar hundert Meter vor uns sehen wir eine kleine Ansammlung von steinernen Huetten.

Auf unser Klopfen hin oeffnet eine kleine, uralte Indio-Frau die Holztuer. Eine staubige Melone sitzt auf ihrem schwarzen Haar, das zu zwei langen Zoepfen geflochten ist, die links und rechts des braunen, wettergegerbten Gesichts herunterhaengen.
Sie bittet uns ins Haus und wir nehmen Platz an einem grob aus Kaktusholz gezimmerten Tisch, auf dem ein irdener Krug mit Wasser steht. Uns gegenueber sitzt ein Mann im Halbdunkel. Seine weissgrauen Haare lugen unter dem Rand einer schwarzen Melone hervor, die dem Hut der Frau nicht unaehnlich sieht. Unter der markanten Nase rahmt ein grauer Schnauzbart die schmalen Lippen ein. Die eisblauen Augen funkeln ueberraschend wach und lebendig in dem ansonsten alt und versteinert wirkenden Gesicht.
Katharina hat in Tupiza eine Postkarte gekauft. Sie zieht sie aus der Tasche und legt sie mit einem unglaeubigen Seitenblick vor mich auf den Tisch. Eine Schwarz-Weiss-Fotografie von Butch Cassidy, aufgenommen etwa im Jahr 1902.
Ich blicke auf und sehe, wie ein leises Laecheln die Lippen des alten Mannes umspielt.
"Irgendwann einmal musste es ja so kommen. Ich bin nur erstaunt, dass es sooo lange gedauert hat, bis ein paar Leutchen hier in diese Huette stolpern."
Die Stimme klingt sanft und klar, das Englisch seltsam altertuemlich.
Ich blicke nochmal auf die Postkarte - ein abstruser Gedanke schiesst durch meinen Kopf und ehe ich mich versehe, habe ich ihn auch schon ausgesprochen:
"Sie wollen nicht etwa behaupten, Butch Cassidy zu sein?"
Katharina sieht mich an als habe ich den Verstand verloren.
"Behauptet haben viel zu viele Menschen schon immer viel zu viel, mein Sohn", schnurrt die Stimme des Mannes, "das hat die Wahrheit nie auch nur eine Spur sichtbarer gemacht."
Er zwirbelt mit seinen knochigen Fingern an der grauen Schnurrbartspitze.
"Was mich betrifft, so war ich allerdings immer ganz froh, dass die Wahrheit ein wenig im Dunkeln blieb."
Mit einer schwungvollen Bewegung erhebt sich unser Gastgeber, holt eine Flasche und drei Glaeser aus einer halbzerfallenen Kommode in der Zimmerecke. Er schenkt uns ein, setzt sich und hebt das Glas. Wir prosten ihm zu, ehe uns die glasklare Fluessigkeit nahezu die Speiseroehren veraetzt.
"Vielleicht ist ja die Zeit gekommen, ein kleines bisschen Wahrheit ans Licht zu bringen."
Er zwinkert uns zu.
"Glauben wird es euch wahrscheinlich eh keiner."
Erwartungsvoll sehen wir ihn an. Er lehnt seinen Arm auf die Tischkante, sieht von mir zu Katharina und wieder zurueck. Seine Stimme wird eine Spur haerter.

"Also, Sundance Kid haben sie tatsaechlich erwischt an diesem vermaledeiten sechsten November 1908. Jahre spaeter kamen ein paar Klugscheisser auf die interessante Idee, ich haette erst dem verletzten Kid und dann mir selbst das Licht ausgeblasen. Wie witzig. Im Leben haette ich nicht auf den Kleinen anlegen koennen und ausserdem - bei dem Kaliber, das wir mit uns herumgetragen haben, haette man uns danach nicht mehr von einem Sack toter Ratten unterscheiden koennen. Und angeblich sollen sie uns doch so eindeutig identifiziert haben. Haben sie ja auch. Aber eben nur das Kid. Ich habe es damals tatsaechlich rausgeschafft aus dem Haus. Habe mich eineinhalb Tage lang in einem Erdloch bei den Schweinen versteckt. Sie haben mich ja nicht einmal richtig gesucht. So eilig hatten sie es, ihren grossen Erfolg zu melden: <Tapferer Capitan Justo Concho ... tapfere Soldaten ... B. Cassidy ... S. Kid ... tot im Schusswechsel>, so aehnlich muss es bei den Justizbehoerden in den Staaten und bei Pinkerton aus dem Ticker gekommen sein."
Der alte Mann haelt einen Augenblick inne, schenkt uns und sich nach. Stumm vor Staunen haengen wir wie hypnotisiert an seinen Lippen.
"Was die Behoerden betrifft, so bin ich mir nicht so sicher, aber die Jungs von Pinkerton haben den Schmus nicht eine Sekunde lang geglaubt. Wie immer in solchen Faellen, schickten sie einen verdeckten Ermittler, der die Geschichte vor Ort unter die Lupe nehmen sollte. Und sie schickten einen wirklich alten Hasen. Sie schickten Walt Hecht, einen deutschstaemmigen Typen aus Chicago. Sicher einer der zehn besten Ermittler der ganzen Vereinigten Staaten.

Mittlerweile hatte ich mich natuerlich aus dem Staub gemacht. Und natuerlich hatte ich meine Plaene geaendert. Ich hatte nur noch ein paar Goldmuenzen in der Tasche und viel zu viele Menschen wussten wegen meiner daemlichen Briefeschreiberei von der Idee, nach Santa Cruz zu gehen. Briefeschreiben war immer so eine komische Schwaeche von mir, ich konnte einfach nicht anders. Es war ja irgendwie auch die einzige Art sich mitzuteilen, mit dem Kid konnte man am Tag ja hoechstens einen Satz wechseln und das war ihm schon zu viel.

Statt nach Nordosten wanderte ich also nach Suedwesten, ins Nichts, bis ich nach 12 Tagen hanbverdurstet und -verhungert an diesem himmlisch abgelegenen Fleckchen Erde ankam. Mit den Goldmuenzen kaufte ich mich hier ein. Ich heiratete Ignacia, die Grossmutter von Elvira, die Euch vorhin die Tuer geoeffnet hat. Die Familie lebt bis heute von Schaf- und Lamazucht. Ich konnte mich hier um vieles kuemmern, musste nie in die Stadt. Und die Familie hat immer geschwiegen wie ein Grab. Natuerlich hatte ich mir mein Rentnerdasein einmal ganz anders vorgestellt, aber viele Moeglichkeiten hatte ich nun mal nicht mehr. Und ein Mensch kann sich aendern, auch wenn viele das nicht glauben wollen.
Los musste ich nur noch ein einziges Mal."
Die Augen des Mannes werden kleiner, die Stimme noch eine Spur schaerfer.
"Hecht war natuerlich schon laengst in San Vincente angekommen und hatte die Faehrte aufgenommen. Er ermittelte unter dem Decknamen Gustav Zimmer, gab sich als deutscher Minenarbeiter aus. Seine Arbeit kam nur sehr schleppend voran. Aber wer Hecht kannte, wusste, dass er niemals aufgeben wuerde. Fast zwei Jahre nach dem Schusswechsel hatte er eine Spur ausgemacht, die hier hinauf fuehrte. Ich hatte von einem von Ignacias Vettern Wind von der Geschichte bekommen und wusste, dass ich reagieren musste.
Ich besorgte mir einen alten Klepper und machte mich am 11. September 1910 ein letztes Mal auf nach San Vincente. Ich hatte Proviant fuer einige Tage bei mir. Ignacia hatte mir ihr altes Kruzifix umgehaengt.
Etwa drei Kilometer suedlich von San Vincente legte ich mich auf die Lauer.

Zwei Tage musste ich warten. Am 17. September kam Hecht den kleinen Hohlweg entlanggeritten. Ich toetete ihn mit einem Schuss. Bis nach Einbruch der Dunkelheit wartete ich neben der Leiche, dann brachte ich ihn auf den kleinen Friedhof von San Vincente, begrub ihn heimlich in dem Grab, das die bolivianischen Behoerden als meines ausgegeben hatten und kehrte nach Hause zurueck."
Mit einem Mal scheint der alte Mann sehr muede. Er lehnt sich zurueck und spielt gedankenverloren mit dem Schnapsglas auf dem Tisch.
"Die Ermittlungen wurden eingestellt, Hecht galt als verschollen. Und dann wurden die Legenden gesponnen. Gott weiss, wo ich ueberall gesehen worden sein soll, ich und das arme Kid. Doch es war mein letzter Ausflug gewesen."
Wir sitzen immer noch da wie vom Donner geruehrt, spueren kaum die Kaelte, die durch die Tuerritzen langsam in das dunkle Zimmer kriecht. Ich schaue Katharina fragend an, der alte Mann hat jetzt die Augen geschlossen.
"Aber", beginne ich zu stammeln, "aber ... wie alt sind Sie denn dann eigentlich?"
Er lacht ganz leise, oeffnet sein linkes Auge und schiebt sich die Melone in den Nacken.
"Tja, darueber solltet Ihr mal scharf nachdenken ... ist doch kaum zu glauben, wie schnell die Zeit so vergeht."

© Katharina L., 2009
Du bist hier : Startseite Amerika Bolivien Butch Cassidy Revisited
Die Reise
 
Worum geht's?:
1 Jahr: Indien – Thailand – Laos – Vietnam – Neuseeland – Chile – Argentinien – Peru – USA
Details:
Aufbruch: 01.10.2009
Dauer: 12 Monate
Heimkehr: 01.10.2010
Reiseziele: Indien
Thailand
Vietnam
Laos
Neuseeland
Chile
Argentinien
Bolivien
Peru
Vereinigte Staaten
Der Autor
 
Katharina L. berichtet seit 14 Jahren auf umdiewelt.