Mit dem Zug nach Armenien und zurück

Reisezeit: August - Oktober 2019  |  von Caroline Gustke

Etappe 11: Bukarest - Wien / Alleinreisende Frauen

Bei der folgenden Episode habe ich tatsächlich ein Weilchen überlegt, ob und wie ich über sie berichten soll. Im Zug nach Wien hatte ich nämlich eine eher unangenehme und zum Glück sehr ungewöhnliche Begegnung, die sich auf die häufig gestellte Frage bezieht: Ist das nicht gefährlich, als Frau alleine in "solche Länder" wie XY zu reisen?

Ein unangenehmer, aber lehrreicher Zwischenfall

Der Zug von Bukarest nach Wien ist nur mäßig gefüllt und es ergibt sich, dass ich das Abteil mit einem nicht sehr viel älteren Typen namens Alex teile, der in Wien in einer Teppichwäscherei arbeitet und Hobbyfotograf ist. Er ist ganz nett, wenngleich ich mir nicht so sonderlich viel mit ihm zu erzählen habe. Ich stelle zufrieden fest, dass er mich nicht fragt, ob ich verheiratet sei - unterwegs habe ich regelmäßig erlebt, dass Männer es für eine vortreffliche Idee halten, mit dieser Frage ein Gespräch zu beginnen: "You are beautiful. Are you married?" - Im Ernst?? Nachdem wir uns also ein Weilchen nett unterhalten, versinke ich zum Schreiben über Stunden schweigsam im Bildschirm meines Smartphones. Alex geht derweil in der Koje unter der Decke schlafen; ich mache es mir unten bequem und schließlich döse ich so ruhig ein, wie auf jeder Zugfahrt. Wach werde ich, als gegen Mitternacht ein grimmiger rumänischer Grenzpolizist an die Kabinenscheibe hämmert: Passport control! Gut; Licht an, Pass zeigen, freundlicher gucken, als auf dem Foto, Licht aus, umdrehen, weiter schlafen.
Denkste.
"Hey, Entschuldigung?" (!)
Ich guck über die Schulter, steht da Alex im Dunkeln mit runter gelassener Hose und fragt, ob er eine "Massage" bekommen könne. Genau so ein Gesicht wie du, liebe Leserin, habe ich in dem Moment wahrscheinlich auch gemacht. Oh. Mein. Gott. Passiert das gerade wirklich?? Was nun? Reptiliengehirn geht an: Flucht! Tot stellen! Ich drehe mich blitzschnell weg, ziehe mir die Decke über den Kopf, sage in sachlich-gereiztem Ton, dass er auf der Stelle abhauen soll und frage mich, welche Reaktion wohl die sinnvollere Variante sei, Ruhe oder Hysterie.

"Komm, nur ein bisschen spielen. Brauchst du Geld? Ich kann bezahlen!"
Brechreizgedanken. Ich hole einmal tief Luft, stelle mir ganz deutlich vor, wie er geradewegs wieder in sein Bett kriecht und entscheide mich für konzentrierte Ruhe, darin bin ich geübter und habe mehr Kontrolle - eine ruhige Situation kann ich kontrolliert(er) steigern. Noch einmal lehne ich energisch ab, den Blick immer noch abgewandt. Und es klappt. Vielleicht hat er das böse Funkel in meinen Augen durch meinen Hinterkopf blitzen sehen. Alex gibt auf und verschwindet über die Leiter wieder in seiner Koje. Puh, Situation vorbei.
Was da gerade passiert ist, schwirrt mir natürlich immer noch durch den Kopf. Ich bin mir sicher, dass er mir nichts antun wird, schließlich befinden wir uns in einem fahrenden Zug und da ist kein Entkommen. Aber die Aktion gerade war schon echt heftig. Was geht in seinem Schädel ab?? - Und ja, was denkt er sich wohl gerade? Ich will es gar nicht wissen und je tiefer die soeben erlebte Szene in mein Bewusstsein sackt, desto unerträglicher wird seine Anwesenheit und desto mehr will ich mich weiterhin tot stellen. So werde ich heute Nacht allerdings nicht mehr schlafen können.
Wieder klopft es; wieder ist es die Grenzpolizei, diesmal die ungarische (komische Zeit übrigens, die Alex sich für sein Vorhaben ausgesucht hat).
Nun brennt mir so etwas auf der Seele, zack, steht die Polizei parat - und ich hocke da ziemlich ratlos, während sich wortlose Worte in der Luft zurecht formen... Meiner Meinung nach sollten notgeile Kerle wie Alex eine Lektion erteilt bekommen. Von wegen, er habe ja 'nichts gemacht'. Das war ein klarer Fall von sexueller Bedrängnis, auch wenn er dann den Schwanz eingezogen hat (mir fällt gerade einfach keine andere Formulierung ein). Aber dies ist die ungarische Grenzpolizei. Na toll, nee, das ist mir gerade zu kompliziert. Sprache? Erfolgschancen? Weiterreise? Wenn die das als belanglos abtun, stehe ich als Loser da, das will ich auf keinen Fall. Was steht jetzt noch in meiner Macht?! Weggehen! Also gehe ich zum Schaffner und frage nach einer anderen Kabine.
"All full", erwidert der schroff.
Ich erkläre, dass ich mich mit dem Kerl in meinem Abteil nicht wohl fühle und gerne die Kabine wechseln möchte. Nicht mehr, nicht weniger.
"Oh!", entgegnet der Schaffner und deutet auf eine Tür. "This one."
Na bitte. Meine Sachen schleppe ich in Nullkommanix rüber.
"Was habe ich falsch gemacht?", höre ich noch, als ich die Kabinentür zu schiebe. Ist das zu fassen?!
Ich verriegle die Tür meiner neuen Kabine und bin allein. Gott sei Dank. Das habe ich gut gemacht, sage ich mir zufrieden und erleichtert und kann dann tatsächlich noch mal einschlafen. Alex begegne ich am nächsten Morgen nicht noch mal. Sein Glück; vielleicht hätte ich ihm sonst im Hochbetrieb des Wiener Bahnsteigs mal lautstark erklärt, was er "falsch gemacht" habe.

Sicherheit & Lebenslektionen

Wie bewerte ich nun dieses Erlebnis? Ist das Alleinreisen als Frau eine gute Idee?
Ich sage entschieden ja, das hat sich für mich nicht geändert. Natürlich kann es brenzlige Situationen geben, aber das kann zu Hause ebenso passieren. Eine Sicherheitsgarantie gibt es nirgendwo, aber wenn man aufmerksam ist, sich über die bereisten Gegenden informiert, nicht allzu naiv ist, seinen gesunden Menschenverstand immer parat hat sowie kommunikativ und stets freundlich ist, ist das Risiko äußerst gering.

Gerade jetzt will ich noch einmal betonen, welch sicheres Verkehrsmittel der Zug insbesondere für alleinreisende Frauen ist: Du bist selten mit jemandem allein und im Fall der Fälle sind Ansprechpartner*innen nie weit. Außerdem kann niemand so einfach aus dem Zug entkommen und wäre also schön doof, in irgendeiner uneinvernehmlichen Form Hand anzulegen. Jede auch nur ansatzweise in Bedrängnis geratene oder sich unsicher fühlende Frau bzw. Person hat das Recht, den Platz zu wechseln; und sich mit jemandem nicht wohl zu fühlen, reicht als Argument vollkommen aus, auch und erst recht mitten in der Nacht. Dies solltest du dir ganz klar ins Bewusstsein rufen. Und wenn du aufgrund der unangenehmen Situation kurze Denkaussetzer hast oder einen Moment in Schockstarre gerätst, ist es völlig okay, auch fünf, fünfzehn oder fünfzig Minuten später noch zu handeln, bevor du für den Rest der Nacht nicht mehr einschlafen kannst, weil du lieber den Typen im Blick behältst.
Höre auf deine Intuition; in solch einem Moment weiß die am besten Bescheid. Dann geh den nächsten logischen Schritt und kümmere dich nicht um Gedanken wie "Reagiere ich eventuell übertrieben?" etc. um das "Ansehen" des Typen, zu schützen, sondern in allererster Linie um dich, dein Wohlergehen und deine Sicherheit. Du musst dich nicht schämen, sondern der! Wenn du dich schämst, steuert er deine Emotionen und dein darauf reagierendes Verhalten. Dann bist du emotional gefesselt und seine Macht über dich entfaltet ihre Wirkung. Indem du dich selbst behauptest, deiner Intuition vertraust und souverän über das Vorgefallene sprichst, behältst du deine Würde und die Macht über dich selbst. Du könntest es auch so betrachten, dass du "nur" Zeugin (oder Zeuge) der Handlung einer widerlichen Person bist; diese Handlung hat im Grunde nichts mit dir zu tun, sondern mit den schlecht durchbluteten Gehirnwindungen eines verkorksten Menschen. Und die darfst du schamlos beschreiben.

Im Nachhinein entscheide ich mich, dankbar für diese Erfahrung zu sein. Zu aller erst, weil der Kontext so geschützt war, dass ich nicht einmal wirklich Angst hatte, sondern eher entsetzt, übellaunig und enttäuscht war. Das Erlebnis hat mir noch relativ sanft gezeigt, wie wichtig es ist, meine gesunde Grundaufmerksamkeit in puncto Sicherheit zu bewahren. Dies schützt mich in der Zukunft. Es war sozusagen ein Training, wie ich in solch einer Situation reagieren kann, ohne mich vom Schrecken lähmen zu lassen; mehr noch, ich weiß mich hoch erhobenen Hauptes zu durchzusetzen, trotz Momenten der Unsicherheit. Diese Erkenntnis stärkt mein Selbstbewusstsein und mein Selbstvertauen. Ich habe die Situation schadlos überstanden und gehe gestärkt und noch ein Stückchen souveräner in die Zukunft.

*

Für so eine detaillierte, ehrliche Beschreibung habe ich mich entschieden, weil sie genauso Teil der Reise ist, wie der Rest. Auf Reisen begegnen einem nicht nur Regenbögen und Schmetterlinge, sondern es gibt hin und wieder auch schwierige Situationen zu meistern - wie im echten Leben. Das Reisen verderben sie mir nicht und die meisten Herausforderungen ergeben im Nachhinein die spannendsten Geschichten.

Wer denkt, Abenteuer seien gefährlich, sollte es mal mit Routine versuchen: Die ist tödlich. Paulo Coelho

© Caroline Gustke, 2019
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Fliegen kann jeder - Zugfahren auch. Der Klimawandel macht mir Angst und mein bisheriger CO2-Fußabdruck ist erschreckend. Daher steht für mich fest: Bis Fliegen nachhaltig geht, wird nicht mehr geflogen! Nun ist die Reise - Pferdetrekking durch den armenischen Westen - schon lange geplant und so gehe ich das Wagnis ein, die etwa 5000 km pro Weg per Zug zurückzulegen, quer durch Europa und darüber hinaus - als Konsequenz von Erkenntnis, als Klimastreik und Selbstversuch.
Details:
Aufbruch: 26.08.2019
Dauer: 6 Wochen
Heimkehr: 07.10.2019
Reiseziele: Armenien
Deutschland
Rumänien
Türkei
Schweiz
Der Autor
 
Caroline Gustke berichtet seit 15 Jahren auf umdiewelt.
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