TimeOut in Südamerika

Reisezeit: April - August 2008  |  von Beatrice Feldbauer

Woche 10 14.- 20. Juni 1008: Tränengas

Wo sind nur die schönen Cafeterias geblieben? Ich ignoriere den Regen und versuche den Pfützen auszuweichen. Die Schuhe sind längst aufgeweicht und ich bin zum mindesten feucht, wenn nicht gar schon nass. Zum Glück habe ich die wasserabstossende Jacke angezogen.

Habe gerade eine Stunde in einem Internetlokal verbracht. Nicht zum schreiben, das hätte ich mit meinen klammen Fingern gar nicht gekonnt. Zum Durchstöbern von anderen Reiseberichten hat es gerade noch gereicht. Dazu muss man nur ein wenig mit dem Zeigefinger auf der Maus klicken und am Rädchen drehen. Auch auf anderen Reisen hat nicht immer alles geklappt. Sogar während der Hauptsaison schien nicht immer die Sonne. Das tröstet, ein wenig jedenfalls. Aus der Schweiz höre ich, dass es heute richtig schön war. Zum ersten mal seit Tagen. Das hab ich zuerst überlesen, aber langsam dringt auch das in mein Bewusstsein.

Dann endlich habe ich gefunden, was ich gesucht habe. Ein Café, nicht so heimelig gemütlich wie auch schon, aber immerhin. Es riecht nach Kaffee, in der Vitrine hat es feine Torten und an der Theke wird Schokolade angeboten. So langsam werde ich trocken und bekomme wieder warme Finger. Die Füsse trocknen nicht so schnell. Die stecken ja noch in den nassen Schuhen. Jetzt erlebe ich es hautnah, warum die Yamana, die Ureinwohner im Süden Feuerlands nackt waren. Die ungeschützten Körperteile sind viel schneller trocken und auch gleich wieder warm, während andere etwas länger brauchen.

Wäre wohl heute besser gleich zu Hause geblieben. Hätte den ganzen Tag in den Reisemagazinen bei Armin schmökern und da die tollsten Abenteuer erleben können.

Aber nein, ich musste raus, konnte nicht stillsitzen, wollte eigene Abenteuer erleben. Und bin prompt mitten in eines gestolpert. Zuerst hab ich es gar nicht richtig gemerkt. Ich spazierte durch die Strasse, wollte zur Metro-Station um mich endlich einmal mit diesem Transport-Mittel vertraut zu machen. Da werde ich von einer Gruppe Jungs überholt, ja fast überrennt. Sie biegen gerade um die Ecke, als von hinten ein gepanzertes Polizeiauto kommt. Mit Rotlicht und Sirenen und rundum behelmte Polizisten drauf. Die springen ab, weil das Auto in der haltenden Kolonne vor dem Rotlicht stecken bleibt. Und dann kommen von rechts drei berittene Polizisten. Ein kleines Lächeln schleicht sich bei mir ein. Was wollen die mit ihrem Polizeiauto und drei Pferden gegen ein paar Jugendliche, die eh schon über alle Berge sind?

Ich gehe durch den Park, durch den ich gestern Abend nach Hause gegangen bin. War mir gar nicht aufgefallen, dass so viele Lampen nicht brannten. Es sind schöne alte Strassenlaternen mit je drei Glaskugeln darauf. Ganz viele davon sind zerschlagen, die Scherben liegen auf dem Boden. Langsam dämmert es mir, dass irgendetwas nicht stimmt. Es sind nur ein paar Jugendliche im Park. Sie stromern nach rechts, nach links, sind auf der Hut. Schon wieder kommt ein Polizeiauto und da vorne knallt es und Rauch steigt auf. Und ich mittendrin. Völlig ahnungslos. Also zurück zur Strasse. Noch mehr Polizei, eine Frau, die sie anschreit: "das ist eine öffentliche Strasse!" Jemand kommt mir entgegen, hält ein Taschentuch vors Gesicht. Wegen etwas Rauch! Irgendwo bellt ein Hund, ein anderer rennt in Panik vorbei.

Da fährt schon wieder eines dieser gepanzerten Polizeifahrzeuge vorbei. Hinten scheppert eine Büchse, daraus steigt weisser Rauch auf. Ich bin wahrscheinlich etwas naiv, habe einfach gar keine Ahnung von solchen Dingen. Kehre aber doch um und muss husten. Die Augen brennen, Tränen steigen auf, dagegen lässt sich gar nichts machen. Überall Passanten an den Hauswänden, bedecken Nase und Mund. Auch ich versuche mich unterdessen zu schützen, habe zum Glück den Schal angezogen. Hinten steigt ebenfalls Rauch auf, vorne ist die Strasse jetzt gesperrt. Also weiche ich in eine Seitengasse aus. Ein paar Jugendliche laufen vorbei, tragen ein Strassenschild mit sich. Sie haben es irgendwo mitsamt dem Sockel und der Erde ausgegraben. Und da liegt ein anderes Schild mitten in der Strasse. Die Autos fahren daran vorbei.

Ich versuche die falsche Luft auszuhusten, aber die ganze Strasse ist voll davon. Ein Passant streckt mir eine Flasche Cola entgegen. Ich nehme dankbar an, ein Schluck hilft schon etwas. Weiter, aber wohin? Beim grossen Platz wimmelt es von Polizisten, von Passanten, von Übertragungswagen, von kleineren und riesigen Polizeifahrzeugen. Auch die drei Reiter sind wieder da. Oder sind es andere? Wie vertragen Pferde Tränengas? Sie ignorieren Blumenkübel und Treppenabsätze. Steigen über alles hinweg, zeigen Präsenz inmitten des Chaos.

Unterdessen sind fast alle Leute vermummt, halten Taschentücher und Schals vor den Mund. Hinter verglasten Türen und aus Schaufenstern gucken Leute heraus, was als nächstes passiert. Da drüben beim Fluss rennen ein paar schwarz gekleidete Jugendliche. Gehören die dazu? Eine ganze Brigade Polizisten überquert die Strasse. Worum geht es hier eigentlich? Darf ich fotografieren? Offen oder heimlich? Wie komme ich von hier weg? Wohin?

Vergessen ist die Metro. Ich will jetzt gar nicht da runter, abgesehen davon, dass die ganze Umgebung von der Polizei umstellt ist. Ich versuche ein Taxi anzuhalten. Die meisten sind besetzt, aber irgendwann hält doch eines an. "Wohin?" "Weiss nicht. Ins Zentrum, weg von hier". Im Radio eine Meldung von Studentenunruhen in der Stadt. Es geht um die Ausbildung. Ob das Zentrum überhaupt sicher ist? Der Taxifahrer beruhigt, er ist solche Ausschreitungen gewohnt. "Ja, in Europa geht ihr wahrscheinlich zivilisierter mit solchen Aktionen um", meint er. Ich hoffe es, kann aber eigentlich nichts dazu sagen, vor allem nicht, wenn ich an gewisse Ausschreitungen nach Fussballspielen denke. Aber zum Glück ist bisher von der Euro08 nichts dergleichen zu hören.

Bei der Kathedrale steige ich aus. Gar keine schlechte Idee, einen Moment in der Stille zu verweilen.

Draussen regnet es und das Geschäft der Regenschirmverkäuferin im Rollstuhl scheint zu laufen. Eine Frau spricht mich an. Gut angezogen, hat ein Kind dabei und erzählt, dass ihr soeben die Handtasche gestohlen wurde. Mit Geld und Handy. Ob ich ihr mit ein paar Pesos aushelfen kann? Ein Trick? Wie wäre es, wenn ich in dieser Situation wäre? Würde mir jemand trauen? Ich entscheide mich, ihr zu glauben.

Später sprechen mich zwei junge Mädchen an. Sie sind Medizinstudentinnen, verkaufen hier auf dem Platz eigene Gedichte, um etwas Geld für ihr Studium zu verdienen. Sie erklären mir, worum es bei den Unruhen geht. Die Studium-Gebühren sind gestiegen. Sie sind so hoch, dass man sich ein Studium kaum mehr leisten kann. Und heute ist eine Tagung der Professoren. Bevor wir uns verabschieden zeigen mir die beiden noch die Richtung zum Mercado cental. Da soll es feine Restaurants geben.

Es ist eine grosse Halle, in der viel Fisch verkauft wird. Und rundherum gibt es unzählige Beizlein, in denen frischer Fisch serviert wird. Unangenehm daran ist nur, dass vor jedem Lokal einer steht und die Passanten fast am Ärmel packt um sie herein zu ziehen. Ich esse einen feinen Reineta mit Reis. Leider sind es offene Lokale, es ist kalt, draussen regnet es noch immer und Kaffee gibt es hier sowieso keinen. Aber ein Kamillenlikör wird mit der Rechnung offeriert.

Einkaufsgalerie

Einkaufsgalerie

Und danach mache ich mich auf die Suche nach einer gemütlichen Cafeteria. Entweder habe ich heute den Blick nicht dafür oder es gibt sie wirklich nicht. Nur diese voll ausgeleuchteten knallbunten Eisdielen oder Schnell-Imbisse mit den Fotos ihres Angebotes an den Wänden. Diese Lokale mit den fest angeschraubten Tischen und Bänken, wie man sie aus den amerikanischen Filmen kennt. Als ich dann endlich ein etwas uriges Lokal finde, ist es zwar keine Cafeteria, aber ich könnte ja trotzdem einen Kaffee bestellen. "Kostet aber 4000 Pesetas, gut 8 Franken. Ausser du trinkst ihn an der Theke" sagt der Kellner. "Hier wird Essen serviert." Also wieder raus in den Regen.

Und dann, ich hab schon fast aufgegeben, sehe ich dieses Lokal. Espresso steht draussen an der Türe angeschrieben. "Gibt es Cappuccino?" will ich wissen. "Claro", lacht der Kellner. "Möchtest du das Spezialangebot mit zwei Halbmonden?" "Ja, genau das will ich und mit viel Rahm."

Es hat heute den ganzen Tag geregnet. Ob der Smog jetzt wohl weg ist und der alte Mann Recht hatte? Gesehen hat man vom Aussichtspunkt bei der Virgin heute bestimmt nichts von der Stadt.

Inzwischen sind sogar die Füsse wieder trocken und warm. Ich werde mir ein Taxi nehmen und noch kurz bei Mario einkehren. Für heute habe ich genug von neuen Experimenten.

Mario mixt meinen Pisco sour

Mario mixt meinen Pisco sour

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Die Reise
 
Worum geht's?:
Nicht Nichtstun steht im Mittelpunkt. Sondern etwas tun, wofür im normalen Alltag zu wenig Zeit bleibt. Meine beiden Leidenschaften Reisen und Schreiben möchte ich miteinander verbinden. Und wenn mich dabei jemand begleitet, umso schöner. Es sind vor allem Geschichten, die ich erzähle und erst in zweiter Linie Beschreibungen von Orten und Gebäuden. Ich möchte versuchen, Stimmungen herüberzubringen. Feelings, sentimientos. Wenn mir das manchmal gelingt, ist mein Ziel erreicht.
Details:
Aufbruch: 12.04.2008
Dauer: 4 Monate
Heimkehr: 03.08.2008
Reiseziele: Uruguay
Brasilien
Paraguay
Argentinien
Chile
Bolivien
Peru
Guatemala
Der Autor
 
Beatrice Feldbauer berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
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