Neustart

Reisezeit: Juni 2021 - Januar 2022  |  von Beatrice Feldbauer

Lago escondido

"Buenos Dias Beatriz, ein Gast möchte gern einen Ausflug zu den Seen machen. Magst du mitkommen?"

Die Meldung von Paula, meiner Vermieterin erreicht mich am frühen Morgen. "Ja, sehr gern, aber nur, wenn ich heute Geld bekomme", melde ich zurück und mache mich kurz vor neun Uhr auf den Weg zum Carrefour Supermarkt. Tatsächlich steht bereits eine Schlange am Schalter und er ist offen. Also stelle ich mich hinten an, sollte nicht allzulange dauern.

Doch das erweist sich als grosse Täuschung. Ich weiss ja nicht, was die Leute alles zu erledigen und zu besprechen haben, aber die Schlange vor dem Schalter will einfach nicht kürzer werden. Man kann an einem Western Union-Schalter nicht nur Geld abheben oder Geld für jemanden auf der Welt einzahlen, hier scheinen ihn die Leute auch zu benutzen um Einzahlungen zu machen. Ihre offenen Rechnungen zu bezahlen. Als ich endlich so weit vorne bin, dass ich den Schalter sehen kann, sehe ich, dass Leute Papiere abgeben und dann mit ihrer Karte bezahlen Einheimische können mit Karte bezahlen, ausländische Karten aber sind hier weitgehend wertlos. Ausserdem bezahlt man hier als Einheimische kaum mehr mit Bargeld, darum ist wohl auch nur so wenig im Umlauf.

Es stehen viele Einheimische an. Ich versuche bei den wenigen Ausländern in deren Mienen zu lesen, ob es mit einer Auszahlung geklappt hat, aber wie gewohnt behalten alle ihr Jokerface. Das geht hinter der Maske natürlich noch besser, als ohne.

Endlich, es geht bereits gegen elf Uhr und ich stehe schon fast zwei Stunden an, endlich stehe ich vor dem Schalter und zeige meinen Code, möchte meine 500 Franken abholen. "Tut mir leid, soviel habe ich nicht", bedauert die junge Frau. "Und wie wäre es mit 150 Franken?" Ich habe mit der zweiten Anweisung einen Joker. Doch auch da muss sie passen, sie zeigt mir ihre Geldschublade, da liegen tatsächlich nur ein paar wenige Noten. Was jetzt?

"Warten sie an der Seite, wenn ich genügend Geld habe, werde ich sie rufen," schlägt sie vor und ich trete ein paar Schritte zur Seite, lasse den nächsten Kunden an den Schalter. Und eben noch hatte ich geglaubt, ich hätte es geschafft.

Nach mir bezahlt eine Frau etwas mit ihrer Kreditkarte. Doch der nächste Kunde packt ein Bündel Banknoten aus seiner Jackentasche. Und gleich noch eines. Das ist jetzt tatsächlich eine Überraschung. Er wickelt seine Zahlungen ab, das Geld wird durch eine Zählmaschine gelassen und endlich hat er sein Geschäft erledigt. Jetzt warte ich nicht, bis ich aufgerufen werde, ich trete vor den nächsten Kunden, der ziemlich ungehalten reagiert, stelle mich wieder an den Schalter und tatsächlich, die Angestellte lächelt. Jetzt klappt es. Dem Mann hinter mir versuche ich zu erklären, dass ich eben erst angestanden bin, was er ja eigentlich gesehen hat, aber ich kann verstehen, dass er nach der langen Wartezeit auch keine Unterbrechung mehr will, so kurz vor dem Ziel.

Während die Angestellte meine 500 Franken in Pesos bündelt, merke ich, dass es hinter mir brodelt. Eine ältere Frau steht aufgebracht da. Sie hat nicht nur lange gewartet, sie hat auch den Altersbonus, der auf der Tafel vermerkt ist. "Menschen über 60 sollen bevorzugt behandelt werden", steht da. Schon will ich etwas erklären, als die Frau hinter dem Schalter den Kopf schüttelt. "Lassen sie sich nicht irritieren, sie sind jetzt an der Reihe", erklärt sie und winkt die anderen zurück. Sie ist sich wohl Rangeleien vor ihrem Schalter gewohnt und bleibt völlig cool.

Und ich verstaue kurz darauf meine Geldbündel in meiner Handtasche und rausche ab. Schicke eine Meldung an Paula. "Ich komme mit, wann geht es los?" Paula will mich um zwei abholen. Ich muss vorher noch ein paar Dinge erledigen.

Eigentlich würde ich jetzt gern bei Tante Sara ein opulentes Frühstück geniessen, doch das Restaurant ist voll, die Leute stehen davor an. Also gehe ich in ein Cafe und lasse mir statt eines Frühstücks ein Stück Käsekuchen mit roten Früchten servieren. Schmeckt sehr fein.

Danach gehe ich zu Aerolineas Argentina. Ich muss unbedingt ein Flugticket für morgen kaufen. Doch das Büro ist geschlossen. Was jetzt? Online buchen geht nicht. Vielleicht am Flughafen. Ich halte ein Taxi an.

"Zum Flughafen".

Weil der Taxifahrer wegen meinem fehlenden Koffer staunt, erkläre ich ihm, dass ich nur ein Ticket kaufen will, worauf er erklärt, dass Aerolinea auch am Flughafen keine Tickets verkauft. Vor zwei Tagen hätte er einen Gast dorthin gefahren, der unverrichteter Dinge wieder zurück kam. Aber er kann mich zu einem Reisebüro fahren. Das ist zwar geschlossen, aber ein Zweites hat offen. Und hier kann ich tatsächlich ein Flugticket kaufen.

Da es günstiger ist, wenn ich meine nächsten Flüge gemeinsam buche und dadurch die einzelnen Gebühren und Steuern spare, kaufe ich Buenos Aires und weiter nach Salta und ein paar Tage später zurück nach Buenos Aires. Und ich habe noch immer genügend Geld. Mit dem Taxi fahre ich daraufhin zu meiner Unterkunft und warte auf Paula. Auch bei ihr kann ich meine Schulden bezahlen und auch noch die Kosten für den Ausflug für heute Nachmittag.

Ich bin schon fast euphorisch. Endlich geht es mir gut. Alles ist perfekt. Ushuaia der schönste Ort der Welt und ich bin wieder vogelfrei.

Der Gast von Paula heisst Nelly und ist eine junge Russin, die in Israel lebt. Sie spricht perfekt spanisch und wohl noch einige andere Sprachen. Wir verstehen uns auf Anhieb sehr gut.

Paula fährt. Wir fahren Richtung Norden, über die letzte Cordillierenkette der Anden und erreichen schon bald einen Aussichtspunkt, von wo man auf die andere Seite sehen kann. Hier unten liegt ein kleiner See. Der Lago escondido, der verborgene See. Inmitten von grünen Wäldern liegt er und langsam heben sich die Wolken und Nebel und er wird immer besser sichtbar. So wie auch die Berge rundum, die sich majestätisch erheben.

Tief unter uns kann man eine alte Strasse erkennen. Es ist die alte Nationalstrasse 3, die vor ein paar Jahren weiter oben erneuert wurde. Die Strasse ist tatsächlich sehr gut und mit wenigen Kurven grosszügig angelegt, wo die alte Strasse noch jede Menge Kurven aufweist.

Auf der weitern Fahrt bleiben wir auf der Höhe, kommen nicht zum versteckten See, das ist vielleicht der Grund für seinen Namen, es gibt kaum eine Strasse, die zum See führt. Ausserdem erklärt Paula, dass es keinen öffentlichen Bus gibt, der hier fährt. Die Überlandbusse von Chile her schon, aber keinen normalen Busverkehr, der die Stadt Ushuaia und den kleinen Ort Tolhuin oder gar die weiter weg gelegene Stadt Rio Grande miteinander verbindet. Was der Grund ist, erschliesst sich mir nicht ganz, Paula erklärt, dass die Leute hier gern für sich bleiben wollen, dass man gar keinen Austausch untereinander haben möchte. Ob das tatsächlich für alle Menschen hier gilt?

Bald erreichen wir den grossen Lago Fagnano, den ich beim Anflug vom Flugzeug bereits gesehen hatte. Es ist ein langer See zwischen den Bergen, umgeben von Wäldern und Bergen. Und er ist wild. Weisse Schaumkrönchen zieren ihn und grosse Wellen schlagen an den Strand, wo Paula angehalten hat. Das sei immer so, meint sie. Der See sei nicht befahrbar. Es gibt keine Schiffe auf diesem riesigen Gewässer.

Darum ist die Gegend weitgehend unbewohnt. Es gibt nur ein paar Refugiums, die den Wanderern Unterkunft bieten, denn das Gebiet ist ein sehr beliebtes Wandergebiet. Und im Winter eines der wichtigesten Langlaufgebiete Argentiniens. Hier im Süden dauert der Winter ewig. Ich war damals hier mit Schlittenhunden unterwegs.

Nelly will wissen, wohin Paula denn in die Ferien fahre, ob sie nicht auch einmal Sommer und Sonne brauche. "A la playa", ist die spontane Antwort. Natürlich an den Strand. Vorwiegend nach Buenos Aires. "Wohin will man schon fahren, wir können uns im Moment nicht viele Ferien leisten", schickt sie noch nach. Früher, da ist sie auch gern gereist und kennt ein paar Orte auf der Welt, doch heute holt sie die Welt zu sich. Mit ihren Zimmern und Wohnungen die sie vermietet ist sie in den Sommermonaten sehr beschäftigt. Und im Winter kommen Wintergäste, zum Langlaufen. Ich glaube, dass ihr Geschäft ganz gut läuft, jedenfalls war meine Nachbarwohnung die ganze Zeit von verschiedenen Leuten gemietet.

Wir laufen etwas dem Strand entlang, fotografieren uns und die Natur rundum, lassen uns vom Wind zerzausen.

Die blauen Beeren, die wir am Strand finden, heissen Calefate. Sie wachsen an einem Dornengestrüpp und man findet sie überall in der Gegend.

"Wenn man davon isst, wird man irgendwann zurück kommen", erzählt Paula, worauf Nelly und ich ein paar reife Beeren suchen. Ich hatte zwar in meinem Kuchen am Morgen bereits von den Beeren, denn mit roten Früchten sind Brombeeren, Calefate und wahrschenilich Himbeeren gemeint. Scheint zu funktionieren, denn natürlich hatte ich bei meinem letzten Aufenthalt hier bereits von den Beeren gegessen.

Langsam wird es kalt, der Wind durchdringt Jacken und Pullis und Paula schlägt vor, weiter zu fahren..

Calefate

Calefate

Unser Ziel ist Tolhuin, der kleine Ort am Ende des Sees.. Das heisst, ganz genau ist es eine traditionelle Bäckerei, die eine regionale Spezialitäat anbietet.

Tatsächlich war ich schon bei meinem letzten Besuch hier, allerdings stand da noch die alte Bäckerei, in der es viele Blumentöpfe gab mit exotischen Pflanzen, die in der Regel nicht hier in der Gegend gedeihen und an den Ästen der grössten Bäume, die in dem grossen Raum wuchsen, turnten Papageien unter dem Dach. An den Wänden hingen Fotos, die den Besitzer mit vielen Prominenten zeigten, die hier irgendwann eingekehrt waren. Inzwischen sei das Haus abgebrannt, erklärt Paula.

Der Laden ist jetzt in einem Provisorium untergebracht. Die Exotik ist verschwunden, aber die Alfajores de Maicena, gefüllt mit Dulce de Leche scheinen immer noch weit herum bekannt zu sein. Jedenfalls deckt sich Paula damit ein.

Kaiken, ein Restaurant und Hotel direkt am See

Kaiken, ein Restaurant und Hotel direkt am See

Submarino - heisse Milch mit einem Schokoladestängel ergibt eine heisse Schokolade. mmmmmh...

Submarino - heisse Milch mit einem Schokoladestängel ergibt eine heisse Schokolade. mmmmmh...

Bei der Weiterfahrt kehren wir im Restaurant Kaiken ein. Wir sind die einzigen Gäste. Ich bestelle eine heisse Schokolade, worauf Paula ein Submarino bestellt. Natürlich wollen wir wissen, was das ist, und so bekommen wir am Schluss alle drei ein Unterseeboot. Eine heisse Milch mit einem Schokoladenstängel, der in der Milch geschmolzen wird. Kann man gut auch mal zu Hause machen und zurückdenken an den kalten und eindrücklichen Tag auf Feuerland.

Die Blumen im Blumentopf vor dem Fenster werden vom Wind fast aus der Erde gerissen, die Lupinen und die kleinen roten Gänseblümchen halten ihm ebenfalls Stand. Nachdem wir alle wieder aufgewärmt sind, machen wir noch einmal Fotosession mit Berg und See-Hintergrund, dann fahren wir zurück.

Bei einem kleinen Wasserfall gibt es noch einmal einen Halt und natürlich müssen wir auch beim Aussichtspunkt über dem Lago escondido noch einmal anhalten, dann geht es endgültig zurück über die Berge, zurück nach Ushuaia. Es war ein wunderbarer letzter Tag. Ein unbeschwerter Tag, an dem sich alle meine Probleme in Luft aufgelöst hatten.

Später am Abend gehe ich noch einmal hinunter zum Hafen, beobachte die beiden Kreuzfahrtschiffe, die jetzt hier vor Anker liegen und gehe in mein Lieblingsrestaurant. Ins Isabel. Und bestelle zum ersten mal völlig unbeschwert die Spezialität. Bife al Disco, eine Pfanne mit Rindfleisch und Kartoffeln. Dazu einen Salat und weil heute grad mein Glückstag ist, ein Flan zum Dessert.

Und dann lasse ich mich ein allerletztes Mal vom Taxi nach Hause fahren. Ganz ohne schlechtes Gewissen.

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Die Reise
 
Worum geht's?:
Immer wenn der Mensch seine Zukunft plant, fällt das Schicksal im Hintergrund lachend vom Stuhl. Dieser Satz hat mich durch das Corona-Jahr begleitet. Eigentlich war mein Abflug nach Südamerika am 3. April 2020 gebucht. Doch dann kam alles anders.
Details:
Aufbruch: 20.06.2021
Dauer: 7 Monate
Heimkehr: 29.01.2022
Reiseziele: Peru
Kolumbien
Argentinien
Der Autor
 
Beatrice Feldbauer berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
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