Neustart

Reisezeit: Juni 2021 - Januar 2022  |  von Beatrice Feldbauer

In den Bergen von Lima

Natürlich haben wir heute einen gemeinsamen Ausflug geplant. Juan hat mir versprochen, dass wir noch einmal auf den Cerro San Cristobal fahren, auf den Aussichtspunkt von Lima mit dem Kreuz. Und weil heute die Sonne die Wolken vertreibt, die sonst immer über Lima hängen, ist es genau der richtige Tag dafür.

Tatsächlich ist die Sicht viel besser, als letztes Mal, man kann die Hügel erkennen, auf denen die Aussenbezirke von Lima gebaut sind. Überall ziehen sich die Häuser und Hütten die kahlen Berghänge hinauf. Beim Kreuz sehen wir, dass jemand eine Zeremonie macht, ein paar Leute haben in einem Topf ein Feuer gemacht.

Wir machen einen Rundgang auf der Platzform, und ich finde hinter der Mauer einen kleinen Garten wo ein Schmetterling von Blatt zu Blatt flattert.

Blick zum riesigen Friedhof  - die hellen Gebäude links hinten und der Elektrobahn, die in elegantem Bogen durch die Stadt fährt.

Blick zum riesigen Friedhof - die hellen Gebäude links hinten und der Elektrobahn, die in elegantem Bogen durch die Stadt fährt.

Nachdem ich eine Weile hinter dem Schmetterling her war, sticht mir plötzlich ein bekannter Geruch in die Nase. Palo Santo, das heilige Holz aus dem Dschungel. Die Leute, die vorher beim Kreuz waren, sind jetzt den schmalen Pfad herunter gekommen zur Plattform, wo verschiedene verkohlte runde Flecken verraten, dass hier schon öfter Zeremonien gemacht wurden. Sie haben zwischen den Steinen ein kleines Kohlenfeuer entzündet und legen Palo Santo auf. Eine Frau in bunter typischer Kleidung des Hochlandes streut gedörrte Blätter darauf. Alles ist ganz ruhig, die Männer sehen ihr zu, während der Rauch immer intensiver, der Duft immer stärker wird.

Dann greift ein Mann zu einem Muschelhorn und stösst ein paar Töne hinaus in die Landschaft. Das tönt mystisch, ein Zeichen?

Neugierig wie ich bin, und weil keine Anzeichen von Ablehnung zu erkennen sind, frage ich den Mann, was sie hier machen. "Es ist eine Kontaktaufnahme mit der Pachamama, der Mutter Erde. Sie ist verwundet, sie braucht Hilfe. Wir Indigenen verehren die Pachamama, sie ist unsere wichtigste Gottheit. Darum kommen wir hierher zu diesem Apu, zu diesem Hügel, um sie um Verzeihung zu bitten, um ihr zu helfen, um sie zu heilen."

Die Leute kommen aus Puno, das liegt hoch oben auf 4000 m am Titikaka-See. Allerdings leben alle schon seit vielen Jahren hier in Lima, aber ihre Wurzeln haben sie nie vergessen. Regelmässig gehen sie an heilige Orte, an Apu, wie sie in Quechua genannt werden, um ihre Zeremonien zu machen und um der Pachamama Opfer zu bringen.

Die Frau hat inzwischen die Feuerstelle mit weissen Nelken geschmückt, etwas Kohle in den kleinen Topf geschüttet und jetzt segnet der Anführer jeden Anwesenden, indem er den Topf über dessen Kopf hält und ein paar Worte in Quechua spricht. Auch mich lädt er ein, hält den Topf über meinen Kopf und vermittelt mir Energie für meine Reisen. Dabei haben wir gar nicht davon gesprohen, dass ich auf einer Reise bin. Er spricht spanisch, aber untereinander sprechen sie Quechua, die Sprache der indigenen Völker Perus.

Dann werden zerpflückte Blumenköpfe über die Kohle gestreut. Auch Juan und ich erhalten eine Handvoll rote Nelken, die wir in den Rauch legen. Einer der Männer holt eine kleine Flasche, von der er ein paar Tropfen in unsere Hände gibt. Es ist Agua de Florida, ein Duftwasser, das oft bei Zeremonien verwendet wird. Auch in das Feuer kommen ein paar Tropfen. Es riecht wunderbar frisch (man könnte es mit Kölnisch Wasser vergleichen). Der Anführer spricht jetzt zu Pachamama, er spricht eindringlich, verstehen kann ich ihn nicht, da er meist in Quechua spricht. Es ist nichts aufregendes, alles geht ganz ruhig vor sich. Jetzt holt einer seine Panflöte hervor, bläst hinein. Es sind keine Töne, die er dem Instrument entlockt, es hört sich mehr nach Wind an. Nach dem Wind, der den Rauch verteilt.

Jetzt kommt noch eine Flasche Wein. Jeder bekommt die Flasche und giesst rund um das Feuer. Unten beginnend, im Uhrzeigersinn, einmal rund um das Feuer. Auch wir sind jetzt Teil der Zeremonie, die sehr locker ablauft. Nicht nur ich fotografiere, auch einer der Teilnehmer hat sein Handy dabei. Juan zerpflückt noch die letzten Nelken und verteilt sie über der Glut, während die Frau kleine Becher hervorholt und jedem einen Schluck ausschenkt. Auf Pachamaman, auf das heutige Beisammensein. Der erste Schluck wird auf die Erde geleert, der Rest nach einem kurzen Anstossen getrunken.

Und dann ist die Zeremonie zu Ende. Das Feuer wird mit dem letzten Rest Wein gelöscht, alles Zubehör eingepackt und die Leute verabschieden sich. Eine sehr spezielle Begegnung, völlig unerwartet und offen.

Oben auf der Plattform entdecke ich eine Frau, die mit einem Fotografen soeben ein Fotoshooting beendet hat. Natürlich will ich wissen, wer das ist und spreche sie an. Sie hat eine wunderbare Ausstrahlung und sowas darf man schon sagen. Sie freut sich, und stellt sich vor. Pilar, sie ist Sängerin und Tänzerin und hat eine eigene Sendung auf einer Online-Radiostation, wo sie regelmässig in Spanisch und Quechua moderiert. Sie unterrichtet auch Quechua und ihre Musik ist traditionell.

Natürlich darf ich sie fotografieren, aber sie besteht auf einer gemeinsamen Foto, auch mit ihrem Handy. Wir wollen diesen Moment festhalten. Pilar auf dem Cerro San Cristobal.

Wir fahren wieder hinunter in die Stadt und jetzt hat Juan noch eine Überraschung. Aber nicht nur für mich, sondern für seine Familie. Natürlich habe ich gemerkt, wo wir sind, als wir beim Tor zum Penal vorbeigefahren sind, beim grossen Gefängnistor. Hier wohnt Juans Familie. Und genau die überraschen wir jetzt. Sie wussten nicht, dass ich zurück in Lima bin, auch wenn ich mit seinen Eltern und Schwestern per Facebook verbunden bin. Da ich aber von meinem Rückflug noch nichts gepostet hatte, sind sie völlig überrascht. Und erfreut. Das kann ich gut erkennen.

Die Begrüssung ist sehr herzlich, auch wenn wegen der Massnahmen etwas Zurückhaltung geboten ist. Aber seine Eltern und die älteren Geschwister sind bereits geimpft. Juan selber hat vor einer Woche die erste Impfung bekommen, nur die Neffen sind noch ungeimpft.

Man ist am Essen und würde mich gern dazu einladen, doch ich winke ab, ich habe sehr spät gefrühstückt. Aber einen Becher Chicha Morena, das Getränkt, dass eine der Schwestern aus dem schwarzen Mais gemacht hat, nehme ich gern an. Die Inca Kola, die Juan rasch organisiert hat, geniessen dafür die Kinder. Ob ich ein Foto machen darf? Aber natürlich sofort versammeln sich alle hinter dem Tisch.

Lange bleiben wir nicht, denn Juan hat sich in den Kopf gesetzt, dass ich heute einen schönen Sonnenuntergang erleben soll. Meine Passion für Sonnenuntergänge, die sich allerdings selten erfüllt, hat er dank meinem Blog längst erkannt.

Wir wollen also in die Berge fahren und fahren durch ein Dorf auf einer staubigen Strasse hinauf. Die Strasse sieht zwar geteert aus, fühlt sich aber immer mehr wie ein Bachbett an. Es geht um Kurven und immer hinauf. Bald fangen die Räder an durchzudrehen, die Strasse ist an einigen Stellen nass und der Staub wird zu Schlamm. Irgendwann wird es auch Juan zu viel, er hält an, will sich die Verhältnisse etwas genauer ansehen. Tatsächlich, seine Pneus sind komplett verdreckt, da ist kein Gummi mehr zu sehen. Wir sehen den anderen Fahrzeugen zu, die unentwegt hinauf fahren. Einmal kommt ein grosser Lieferwagen von oben und beim Bremsen drehen seine Räder durch, bevor sie irgendwie wieder Halt finden. Während wir den kleinen und grossen Fahrzeugen zusehen, kommt uns eine Frau entgegen und wir kommen ins Gespräch.

Sie heisst Irma und kommt einmal in der Wocher hierher, um zu ihrem Vater zu sehen. Obwohl er gar nicht ihr richtiger Vater ist. Aber sie ist bei ihm aufgewachsen und seine beiden Söhne haben keine Zeit, wohnen zu weit weg. Sie kommt, um für ihn zu kochen, einzukaufen und zum Rechten zu sehen. Der alte Mann ist auf einem Auge erblindet, er wird sein Augenlicht wahrscheinlich ganz verlieren. Um herzukommen fährt sie jedesmal fast zwei Stunden mit dem Bus. Ein Weg.

Sie erzählt ein wenig, wie das hier während der Pandemie war. Wie schwierig es war, zu überleben, in den Häusern zu bleiben. Nein, Hilfe ist nicht bis hierher gekommen. Aber das ist jetzt vorbei, irgendwie geht es immer weiter.

Nachdem wir uns von Irma verabschiedet haben, bestehe ich darauf, dass wir nicht weiter hinauf fahren. Auch wenn die Strasse inzwischen dank den vielen Autos trockener ist. Nass war die Strasse, weil der Tankwagen, der vor einer Stunde die Wassertanks aufgefüllt hat, etwas Wasser auf die Strasse verschüttet hatte.

und das soll eine Strasse sein?

und das soll eine Strasse sein?

Kein Wunder haben die Räder durchgedreht...

Kein Wunder haben die Räder durchgedreht...

Irma, im Hintergrund ihr Vater, der nach ihr sucht

Irma, im Hintergrund ihr Vater, der nach ihr sucht

Wir fahren also wieder hinunter und ich bin beruhigt, mir hätte vor allem die Aussicht auf die Rückfahrt etwas Angst gemacht. Mit dieser Strasse und ohne Beleuchtung, mit durchdrehenden Rädern.

Doch bald steigen wir wieder hinauf. Zwar nicht mehr ganz so steil, aber stetig. Es ist eine wilde unbewohnte Gegend. Nur manchmal gibt es ein paar Häuser, ein paar zusammen gebastelte Hütten. Und irgendwo ein grosses Schild:
NO SE VENDE ESTE TERRENO.
Dieses Gelände steht nicht zum Verkauf, es gehört der Universität von Lima.

Ich lache über die eigenartige Formulierung, doch Juan erklärt mir, dass sehr viele Grundstücke verkauft werden, auch wenn es der Besitzer gar nicht weiss, und vor allem auch kein Geld dafür bekommt. Es gibt immer wieder geschickte Geschäftemacher, die es schaffen, etwas mit Papier und offensichtlich allen Rechten illegal zu verkaufen. Die Käufer merken dann vielleicht Monate später, dass sie einem Betrüger aufgesessen sind.

Die Strasse da oben ist nur noch eine Schotterstrasse mit Steinen und Abbrüchen auf der einen und steilen Hängen auf der anderen Seite. Doch wir steigen wieder hinauf. Bis fast auf 800 Meter steigen wir, als uns hinter einer Kurve die glühende Sonne überrascht. Juan hat es geschafft. Wir halten an und sehen der Sonne zu, wie sie hinter dem Dunst rotglühend verschwindet. Und ausserdem sehen wir den anderen Autos und LIeferwagen zu, wie sie sich auf der steilen Schotterpiste abmühen. Ich mache ein paar Videos und merke, dass die aussehen wir die gefährlichsten Strassen der Welt, von denen man im Youtube Videos findet. Doch so schlimm ist es nicht, immerhin ist die Strasse an den meisten Orten so breit, dass sich zwei Busse kreuzen können...

Die Sonne spiegelt sich auf der Motorhaube

Die Sonne spiegelt sich auf der Motorhaube

in den Hügeln hinter Lima

in den Hügeln hinter Lima

zu sagen gibt es zu diesen Bildern tatsächlich nicht mehr viel.

zu sagen gibt es zu diesen Bildern tatsächlich nicht mehr viel.

ja das war dieser Tag tatsächlich: ein gutes Abenteuer.

ja das war dieser Tag tatsächlich: ein gutes Abenteuer.

Zurück in der City beschliessen wir den Abend bei einem feinen Nachtessen im Villa Chicken. Es war ein unglaublich eindrücklicher Tag heute. Und dabei hatte ich gedacht, mich könnte Lima nicht mehr überraschen.

Auf meiner eigenen Bison-Seite habe ich von diesem Tag ein paar sehr eindrückliche Videos gepostet.
www.bison.ch Peru-Videos

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Die Reise
 
Worum geht's?:
Immer wenn der Mensch seine Zukunft plant, fällt das Schicksal im Hintergrund lachend vom Stuhl. Dieser Satz hat mich durch das Corona-Jahr begleitet. Eigentlich war mein Abflug nach Südamerika am 3. April 2020 gebucht. Doch dann kam alles anders.
Details:
Aufbruch: 20.06.2021
Dauer: 7 Monate
Heimkehr: 29.01.2022
Reiseziele: Peru
Kolumbien
Argentinien
Der Autor
 
Beatrice Feldbauer berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
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