Neustart

Reisezeit: Juni 2021 - Januar 2022  |  von Beatrice Feldbauer

Erster Tag

Was für ein Tagesanfang! ich erwache kurz bevor es hell wird und bin völlig überrascht, dass mein Zimmer direkte Aussicht zum Sonnenaufgang hat. Soviel zu meinem Orientierungssinn.

Kurze Zeit später liegt mein Zimmer im gleissenden Sonnenlicht. Ich lasse mir aber trotzdem Zeit mit Aufstehen, chatte ein wenig mit der Schweiz, erzähle, dass ich gut angekommen und in einer komplett anderen Welt aufgewacht bin. Ich war noch nie in diesem Appartmenthaus, das gleich neben dem Bulevard liegt, dem Ort, wo man sich abends trifft, da wo das Leben stattfindet. Auch Juan will natürlich wissen, ob alles in Ordnung ist, ob ich gut geschlafen und ob ich gut aufgehoben sei.

Und wie ich aufgehoben bin! Das Zimmer ist noch schöner, als es im Internet ausgeschrieben war. Und die Aussicht über den Fuss Itaya einfach fantastisch. Der Amazonas geht weiter draussen vorbei, der Fluss Itaya hat sich im Laufe der Zeit als Nebenfluss gebildet, früher lag Iquitos direkt am Amazonas. Doch der Fluss ist auf seiner ganzen Länge nirgends eingedämmt, er hat im Laufe der Jahre seine Form verändert. Es gibt auch auf den ganzen gut 5000 km von seinem Ursprung in den Anden bis zum Delta bei Belem in Brasilien keine einzige Brücke, die über den Amazonas führt. Die grossen Städte, Iquitos in Peru und Manaus in Brasilien liegen beide an der linken Flussseite. Um auf die andere Seite des Flusses zu gelangen braucht man ein Boot.

Zum Frühstück gehe ich ins nahe gelegene Dawn on the Amazon am Bulevard. Da gibt es eine grosse Auswahl an verschiedenen Frühstücks. Sogar eines mit Kokosyoghurt und Müesli. Dazu einen richtigen Milchkaffee. Das Dawn on the Amazon gehörte Bill, einem Amerikaner, der sein Herz hier verloren hatte. Mit seiner einheimischen Frau baute er in den letzten 20 Jahren das Restaurant zu einer Institution auf. Vor allem Amerikaner trafen sich jeweils unter dem Sonnendach. Vor ein paar Jahren verunglückte Bill bei einem Gewitter und seither führt Marmelita den Betrieb allein weiter.

Heute ist nicht viel los. Aber die drei Gäste am Nebentisch sind tatsächlich Amerikaner.

"Hola Beatrice, wo bist du? ich bin in 20 Minuten am Bulevard". Am Mittag wollte ich mich mit Liborio treffen, aber er ist jetzt schon mit dem Boot in Nanay eingetroffen, ist jetzt auf dem Weg mit dem Mototaxi.

Es sind jetzt 18 Monate her, seit ich Liborio das erste Mal gesehen habe. Er ist der neue Häutpling der Boras, des Einheimischenstammes, der in der Nähe von Iquitos lebt und für Touristen Show macht. Jahrelang war dies ihre einzige Einnahmequelle, ihre Traditionen wie Landbau und Fischen hatten sie inzwischen komplett aufgegeben. Sie tanzen und singen in ihrer Maloka wann immer ein paar Touristen sie besuchen und verkaufen ihre Handarbeiten aus Federn, Samen, Holz.

Und dann brach die Pandemie aus. Von einem Tag auf den anderen gab es keine Einnahmen mehr. Nicht ein einziger Soles fand mehr den Weg zu den Menschen, die genau wie das ganze Land in Quarantäne waren. Es war ein Glücksfall, dass wir bei meinem Besuch die WhatsApp-Nummer ausgetauscht hatten. So kam es, dass mich sein Hilferuf irgendwann im April letztes Jahr erreichte. "Ich weiss nicht, was wir machen sollen, wir sind 16 Familien in der Comunidad und wir haben nicht genug Lebensmittel, um zu überleben".

Das war der Beginn meiner Bora-Aktion. Jede Woche überwies ich ihm einen Betrag, mit dem er in der Stadt Lebensmittel kaufen konnte. Und jede Woche erhielt ich ein Foto mit den Einkäufen, dazu ein Video, in dem er sich dafür bedankte. Natürlich war ich selber nicht in der Lage, diese Hilfe lange aufrecht zu erhalten, darum fing ich kurzfristig wieder an, kleine Arbeiten für Kunden zu erledigen. Es gab keine Rechnung, aber ich erhielt Spenden, mit denen ich meine wöchentlichen Überweisungen aufrecht halten konnte. In den Videos bedankte sich dann Liborio oder jemand von der Comunidad bei der entsprechenden Person, was zu sehr persönlichen virtuellen Begegnungen führte.

Noch während wir beim Kaffee sitzen, nähert sich uns ein Rollstuhl. Mike!

Ihn hatte ich an meinem allerletzen Abend am Bulevard getroffen. Den kleinen Mann im Rollstuhl. Er ist immer auf Hilfe von jemandem angewiesen, heute wird er von einem kleinen Jungen gestossen. Er verkauft Chiclets und freut sich, mich wieder zu sehen.

"Wie geht es dir?" will ich wissen. "Bien, gracias, ich bin wieder hier, bin ein wenig gereist, war in Pucallpa und jetzt bin ich zurück". Er strahlt und ich bin wieder berührt wie bei unserer ersten Begegnung. Er hätte doch hundert Gründe mit seinem Schicksal zu hadern, Zukunftsängste zu haben, unglücklich zu sein. "I am happy, I am ok", sagt er noch, als ihn sein kleiner Freund weiter stösst. Weiter zum nächsten Restaurant, zum nächsten Tisch, wo er wieder versucht, ein paar Chiclets für wenige Soles los zu werden. Sie wird mir immer ein Geheimnis bleiben, diese Art von Glücklichsein.

"Du hast die Sonne gebracht", strahlt Liborio. "In den letzten Tagen hat es geregnet. Viel Regen, doch heute ist die Sonne wieder da".

Regen gehört zwar hier immer dazu, es kann jederzeit einen Regenguss geben, es heisst nicht umsonst Regenwald. Allerdings ist die Regenzeit inzwischen vorbei. Es ist Sommer, die Flüsse sind zurückgegangen. Das Wetter ist schwülheiss

Mit Liborio bin ich bald darauf unterwegs. Wir wollen einkaufen, denn er möchte, dass ich morgen zur Maloka komme. Zum Versammlungsraum der Boras, dort wo sie zu anderen Zeiten für die Touristen auftreten.

Es soll Hühnchen mit Reis geben. Schon lange hatte mir Liborio versprochen, dass einer der Hähne dran glauben muss, wenn ich komme. Wir haben letztes Jahr ein paar Hühner gekauft. Das gibt Eier und Fleisch. Für meinen Willkommenstag sollen fünf Hühner geschlachtet werden. Jetzt braucht es noch Reis.

Ich falle auch immer wieder drauf rein, das sind peruanische Fahnen. Am 28. Juli ist Nationalfeiertag, darum werden sie jetzt überall angeboten.

Ich falle auch immer wieder drauf rein, das sind peruanische Fahnen. Am 28. Juli ist Nationalfeiertag, darum werden sie jetzt überall angeboten.

Der Händler stellt die grosse Waage kurzerhand auf einen der Reissäcke und füllt mit der Schaufel den Reis in Plastiksäcke. Zwanzig Kilogramm. Dazu Zwiebeln, Knoblauch, Salz ein paar Liter Öl. Und ein paar Kilogramm Kartoffeln.

Bevor wir den Laden verlassen, lasse ich noch 20 Seifen einpacken. Für jede Familie eine. Schwer beladen verlassen wir den Laden. Zum Glück gibt es die Mototaxis, die transportieren alles und fahren bis vor die Ladentüre. Ich fahre noch mit bis nach Nanay, von dort fährt Liborio mit dem Boot hinaus zu seinem Stamm. Morgen wird er mich hier erwarten.

Nanay ist ein kleiner Hafen im Norden von Iquitos von dem die Ausflugsboote ablegen, die zu den Einheimischendörfern fahren. Oder zu den kleinen Orten am Rio Nanay oder zu den schwimmenden Restaurants am Rio Momon.

Ich kehre im schwimmenden Restaurant in Nanay ein. Lange war es einer meiner Lieblingsorte um ein wenig abzuhängen, auf den Fluss zu sehen. Dann war das Flossrestaurant plötzlich verschwunden, verlottert, abgefrackt und jetzt wurde ein neues aufgebaut. Ich sitze im oberen Stock, leise schwankt das Wasser, wenn eines der stärkeren Boote vorbei fährt und die Wellen das Ufer erreichen.

Hier in Iquitos trinkt man vorwiegend Fruchtsäfte. Man erkundigt sich nach dem Angebot und wählt zwischen Camu Camu, Maracuya (Passionsfrucht), Pina (Ananas), Carambola (Sternfrucht), Mango, Papaya oder einfach einer frischen Limonade mit viel Zitronensaft. Dazu gibt es frittierte Bananenscheiben und gerösteter Mais. Eine andere Welt eben.

Den Rest des Nachmittags verbringe ich im Zimmer mit Dösen und Lesen. Geniesse die Aussicht aus meinem gekühlten Zimmer denn die Hitze von Iquitos bringt mich regelmässig an meine Grenzen.

Erst nach Einbruch der Dunkelheit schlendere ich noch einmal über den Bulevard. Ganz in der Nähe hat Victoria ihren neuen Laden eröffnet. Sie hat mich schon vor ein paar Tagen angeschrieben, als sie gesehen hatte, dass ich in Lima war. Jetzt freut sie sich und erzählt, wie es ihr in der Zwischenzeit ergangen ist. Sie ist eine sehr taffe junge Frau. Ganz am Anfang der Pandemie, als alles geschlossen war, wurde ihr Laden ausgeraubt. "Viele Kleider wurden mir gestohlen. Alles Dinge, die bereits bezahlt waren. Es war ein sehr grosser Verlust".

Irgendwie hat sie alles überstanden. Erfahrungen damit hat sie schon seit frühester Kindheit. Schon damals, als sie noch mit ihrem Rucksack voller Waren auf dem Bulevard unterwegs war, musste sie immer aufpassen, dass sie auf dem Heimweg nicht überfallen wurde. Sie zeigt mir ihre neuen Arbeiten.

Grosse Makramee-Arbeiten sind die Spezialität von Victoria.

Grosse Makramee-Arbeiten sind die Spezialität von Victoria.

Gegenüber von Victorias Laden liegt das Karma-Cafe, früher ein beliebter Treffpunkt, heute ist kaum jemand da. Ich geniesse einen kleinen Snack mit Guacamole und Knoblauchbrot, dann schlendere ich zurück über den Bulevard, zurück zu meinem Zimmer. Unten am Fluss entdecke ich ein Haus, das ich noch nie gesehen habe, es scheint sich um ein weiteres schwimmendes Restaurant zu handeln. Hinter den Wolken erhellt der Vollmond den Himmel, aber ich habe heute keine Lust mehr auf neue Entdeckungen.

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Die Reise
 
Worum geht's?:
Immer wenn der Mensch seine Zukunft plant, fällt das Schicksal im Hintergrund lachend vom Stuhl. Dieser Satz hat mich durch das Corona-Jahr begleitet. Eigentlich war mein Abflug nach Südamerika am 3. April 2020 gebucht. Doch dann kam alles anders.
Details:
Aufbruch: 20.06.2021
Dauer: 7 Monate
Heimkehr: 29.01.2022
Reiseziele: Peru
Kolumbien
Argentinien
Der Autor
 
Beatrice Feldbauer berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
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