Neustart

Reisezeit: Juni 2021 - Januar 2022  |  von Beatrice Feldbauer

Radio Mic 107.7 FM

Ich hatte bereits überlegt, ob ich den vielen Fallen in Iquitos ein eigenes Kapitel widmen könnte. War aber noch mit dem Sammeln von Fakten beschäftigt. Es ist aber auf jeden Fall gut, wenn man hier in der Stadt immer genau hinsieht, wohin man tritt, denn es gibt nicht nur Schlaglöcher in der Strasse, nein, es gibt richtige Löcher. Oder Dohlendeckel die nicht richtig aufliegen, wie dieser steinerne runde Deckel, der einfach schief liegt. Das scheint niemanden zu stören. Auch nicht die Löcher in der Strasse, die völlig ungesichert und offen mitten auf der Fahrbahn stehen. Die Mototaxis kennen die Stellen wohl schon seit jeher und machen diskret einen Bogen darum. Es kann aber auch sein, dass die Absicherung so angebracht ist, dass sie ihrerseits noch fast gefährlicher ist, als das Loch selber.

Man müsste den Deckel nur zurecht rücken.... ist aber zu schwer für mich

Man müsste den Deckel nur zurecht rücken.... ist aber zu schwer für mich

Das Loch ist ziemlich tief...

Das Loch ist ziemlich tief...

Jedenfalls bin ich an diesem tiefen Loch bei der Balustrade am Bulevard jeden Tag vorbei gelaufen und habe mich immer gewundert, dass da niemand rein fällt.

Und dann ist es passiert. Ich wollte noch einmal einen Blick hinunter zum schwimmenden Restaurant werfen, bevor ich zurück ins Zimmer ging, drehte mich um - und war ein Bein tiefer. Ich war tatsächlich mit einem Bein im Loch unten, mein Handy flog in weitem Bogen weg und ich hockte verdattert am Boden.

Sofort waren zwei junge Mädchen bei mir, hoben mein Handy auf und wollten mir helfen. "Bitte lasst mich einen Moment, ich muss mich erst orientieren," versuchte ich ihre Hilfsbereitschaft zu stoppen, denn ich musste tatsächlich erst nachsehen, ob alles heil geblieben war. Ich bewegte den Fuss, der steckte knapp im Wasser, der andere Fuss schien irgendwo angestossen zu sein. Aber alles war noch dran, liess sich bewegen, Blut floss soweit ich das sehen konnte, keines. Also aufstehen, mich bei den Mädchen bedanken, mein Handy begutachten. Alles ok.

Wie heisst es doch so schön: Aufstehen, Krone richten, weiter gehen.

Im Zimmer dann inspizierte ich nochmals in aller Ruhe die Schäden. Auf dem Oberschenkel entwickelt sich ein grosser blauer Flecken mit ein paar Schürfungen, aber keine Wunde, kein Blut, keine Entzündung. Der Knöchel war etwas angeschlagen aber nicht beeinträchtigt. Also Glück gehabt. Kann passieren.

Ich habe eine neue Erkenntnis gewonnen: Fallgruben sind da, um unser Glück herauszufordern. Mein Schutzengel war jedenfalls sofort zur Stelle.

Doch eigentlich wollte ich über meinen Besuch beim Radio erzählen. Pablo engagiert sich seit der Genesung von seiner sehr schweren Covid-Erkrankung sehr in einer Baptisten-Kirche. Vorher hatte er wohl gelegentlich gepredigt, doch jetzt hat er eine wöchentliche Sendung bei einem online-Radio, das, wie er stolz erzählt, in der ganzen Welt gehört wird. Von Iquitos live in die ganze Welt. Was für ein Gefühl. Ich bin schon sehr gespannt, denn er hat mich eingeladen, bei der nächsten Aufnahme dabei zu sein.

Gestern also war es soweit. Um Halb vier holte mich Pablo ab und wir fuhren zu einem einstöckigen Gebäude, in dem es ein einfaches Aufnahmestudio gibt.

Noch lief Musik, der Techniker hinter der Theke begrüsste mich mit Faustschlag und hinter Maske. Dann traf ein anderer Mann ein. "Ramires Espinoza, ein begnadeter Sänger, der schon in sehr vielen Kirche gesungen hat, einmal sogar in Holland", stellte Pablo ihn mir vor.

Pünktlich um vier sassen die beiden hinter ihren Mikrofonen. Ich weiss, Pablo hätte mich seiner internationalen Hörerschaft gerne vorgestellt, aber ich hatte ihm gesagt, dass ich nur zuhören möchte. Sehen wie er sein Programm gestaltet.

Sorgfältig legte er sich seine Unterlagen bereit. Links die aufgeschlagene Bibel, rechts die Agenda mit vielen Notizen, sein Handy und vor sich ein paar voll geschriebene Blätter.

Der Techniker liess die Musik ausklingen, und Pablo begrüsste seine Zuschauer. Sofort wechselte seine normal sanft klingende Stimme in eine emotional eindringliche Tonart, die mir schon eher wie einer der Stimmenfänger auf der Plaza San Martin in Lima vorkam. Doch das ist wohl einfach kulturbedingt. Jedenfalls stellte er den berühmten Sänger Ramires Espinoza vor und man hätte gut glauben können, dass ich mit einem der berühmtesten Männer des Landes in einem Raum sass.

Bevor Ramires sein erstes Lied anstimmen durfte, verkündete Pablo den Schutz und die Segnung Gottes an alle die an ihn glauben. An alle Hermanos (Brüder) und Hermanas (Schwestern) da draussen vor den Lautsprechern.

Fast schien es, dass das Lied ganz ohne Technik in die weite Welt gesendet würde, denn auch Ramirez legte all seine Kraft in sein erstes Lied, das er mit der Gitarre mit Inbrunst begleitete.

Danach kamen Grüsse, die Pablo weiterleitete. Grüsse aus verschiedenen Orten von Iquitos zu Freunden in anderen Stadtteilen. Sogar einen speziellen Gruss an Liborio und die Comunidad de las Boras sandte er aus, bevor auch er zum Singen anhob. Danach kam eine Serie Werbung. Dabei musste ich das Schmunzeln bereits sehr zurückhalten, denn mit der genauso eindringlichen Stimme wie vorhin das Wort Gottes empfahl er eine Druckerei zum Druck von Visitenkarten und Flugblättern. Dann kam ein Supermarket, der alles anbietet, was man für das tägliche Leben braucht und danach ein Restaurant hier in Iquitos, das sich für wunderbare Pizzen und peruanische Spezialitäten empfiehlt. Alles abgelesen von seinem Spickzettel, der eine riesige Menge von Informationen enthalten musste.

Beim zweiten Lied von Pablo erklang plötzlich ein Telefon. Erschrocken kontrollierte ich mein Handy, es war lautlos geschalten. Pablos Handy lag reglos neben ihm und Ramirez holte seines aus dem Sack, auch schwarz.

Es war der Festnetzanschluss, das Telefon, das links neben der Bibel lag. Was nun? Den Techniker schien das nicht zu stören, er hantierte hinter seiner Theke mit der Technik. Ramirez war es, der es dann anhob und sich meldete. Zum Glück war inzwischen das Lied von Pablo fertig, Ramirez übergab den Hörer an Pablo und der Techniker spielte Musik ein.

Die Unterbrechung war kurz, jetzt kamen noch ein paar letzte Segnungen, Grüsse an die Familien von Pablo und Ramirez, insbesondere an die Tochter Keyla, die bei der Arbeit ist und dem Progamm zuhört. Dann der Dank an Dios für unser glückliches Zusammensein, für das Leben, das er uns geschenkt, die Liebe, mit der er uns taglich umgibt. Ein letztes Lied von Ramires und die Stunde war bereits um.

Bevor wir uns verabschieden, will Ramirez noch wissen, wie meine religiöse Haltung ist. "Ich bin katholisch", mit dieser kurzen Erklärung gibt er sich zufrieden. Er wird jetzt auf die Strasse gehen und kleine ausgebackene Herzchen verkaufen, die ihm seine Frau mitgegeben hat. Kleine Plasticksäcklein für einen Soles, mit je 5 Stück. Ich kaufe ihm zwei ab. sie riechen fein und erinnern mich an unsere Schenkeli (Schweizer Spezialität)

Keylas kleiner Bankschalter

Keylas kleiner Bankschalter

Die Leute stehen auch hier Schlange

Die Leute stehen auch hier Schlange

Am Abend treffe ich mich mit Keyla zum Essen in einem der neuen Restaurants, die es rund um die Plaza de Armas gegeben hat. Zu meinem grossen Erstaunen wird das Restaurant sogar voll. Voller Peruaner. Es scheint, dass die Bemühungen des Staates Früchte tragen, es gibt im Moment einen grossen einheimischen Tourismus. Morgen ist Nationalfeiertag und auch der Donnerstag ist noch ein Feiertag. Die Gelegenheit haben viele Peruaner genutzt, die Dschungelstadt zu besuchen,

Keyla hat übrigens tatsächlich zugehört, während sie am Schalter Kunden bediente. Sie hat sich vor ein paar Monaten selbständig gemacht, arbeitet als Bankagentur und sie scheint inzwischen richtig erfolgreich zu sein. Ein paar Jahre hat sie die Arbeit als Angestellte einer Bank gemacht. Nach Ausbruch der Pandemie verlor sie ihre Stelle und fand nach einiger Zeit, dass sie diese Dienstleistung auch auf eigene Rechnung ausführen könnte.

Sie brauchte etwas Startkapital, ein Lokal, das sie entsprechend mit einem vergitterten Schalter einrichtete und die Zustimmung einer Bank. Inzwischen arbeitet sie für drei verschiedene Banken. Die Leute können bei ihr Geld abheben, damit sie nicht stundenlang in der Schlange bei den grossen Banken anstehen müssen. Bei ihr können nur kleinere Beträge geholt werden, Angefangen bei 5 Soles. 5 Soles? ich muss noch einmal nachfragen, aber tatsächlich, etwas mehr als ein Franken ist der Mindestbetrag für einen Bezug. Doch nicht nur Bargeldbezüge sind es. Bei ihr kann man auch Rechnungen bezahlen. Die Stromrechnung zum Beispiel oder die Miete. Alles in allem viele kleine Dienstleistungen, auf die die Menschen angewiesen sind und für die man bei den grossen Banken oft stundenlan ansteht.

Auch bei ihr muss man gelegentlich anstehen, wie ich bei einem kurzen Besuch heute Nachmittag festgestellt habe. Bevor mich Pablo zum Bulevard brachte, machten wir einen kurzen Schlenker zu Keylas Agentur.

Auf dem Heimweg treffe ich beim Bulevard auf viele Leute, halb Iquitos scheint auf den Beinen zu sein. So viel Volk unterwegs. Morgen ist Feiertag.

Heute ist der 28. Juli, der Nationalfeiertag von Peru. Er fing mit einem wunderbaren Sonnenaufgang an, den ich von meinem Balkon aus beobachten konnte. Danach machte ich mich auf die Suche nach einem Cappuccino. Allerdings waren die meisten Restaurants noch geschlossen und an der Plaza de Armas war die grosse Bühne, auf der noch gestern eine stramme Blasmusik gespielt hatte, bereits abgeräumt. Und dabei hatte ich erwartet, dass am Morgen Umzüge stattfinden würden. Nichts dergleichen.

Ich finde ein kleines feines Restaurant. Heute heisst es Bistro Cafe, früher hiess es, soweit ich mich erinnere 'Delirium'. Wer weiss, vielleicht hat mein späterer Fall ins Loch etwas damit zu tun. Wenn man aus dem Delirium kommt, kann einem schon mal sowas passieren.

Der Cappuccino und das Croissante jedenfalls waren sehr fein. Auf dem Rückweg kam dann eben dieser verhängnisvolle Fall, als ich das schwimmende Restaurant fotografieren wollte, in dem ich mich mit May und seiner kleinen Familie treffen wollte.

Nun, es kam ja dann doch alles gut.

Es ist definitiv sicherer, wenn man hier in Iquitos immer genau hinsieht, wo man geht. Ganz egal, ob auf der Strasse oder einer Treppe. Auch fest installierte Treppenstufen haben ihre Tücken, aber Naturtreppen sowieso.

Es ist definitiv sicherer, wenn man hier in Iquitos immer genau hinsieht, wo man geht. Ganz egal, ob auf der Strasse oder einer Treppe. Auch fest installierte Treppenstufen haben ihre Tücken, aber Naturtreppen sowieso.

frische Kokosnüsse am Bulevard

frische Kokosnüsse am Bulevard

jederzeit bereit: Mototaxi

jederzeit bereit: Mototaxi

Nachdem ich mich in meinem Zimmer etwas vom Schrecken erholt hatte und sicher war, dass mit meinen Beinen und Füssen alles in Ordnung war, ging ich hinunter zum Floss. Den Platz hatte ich vor ein paar Tagen entdeckt. Es ist hier etwas weniger heiss, das Wasser kühlt und manchmal streicht eine schwache Brise über die Terrasse. Werde mich wohl öfters mit meinem Tolino hierher zurückziehen. Ausserdem wird immer gute Musik gespielt. Zwar an der Grenze meines Trommelfells, aber die Stimmung ist gut. Ein ruhiger Platz gegenüber all dem Betrieb vom Bulevard.

May und Evila bringen ihren kleinen May jr mit. Geboren während der Pandemie hat er das Leben der beiden ziemlich auf den Kopf gestellt. May hat viel für unsere Lodge gearbeitet und ist einer der besten Dschungelguides. Manchmal glaube ich, dass er mit den Tieren direkt kommuniziert.

Inzwischen musste auch er sich umorganisieren. Evila startete mit einem kleinen Shop in dem sie Kleider und Mützen verkauft. Per Facebook machte sie sich bekannt. Das lief am Anfang sehr harzig, aber mit der Zeit kamen die Bestellungen ein und May lieferte diese per Motorrad in der ganzen Stadt aus. Lieferdienst für Kleider also. Inzwischen können die beiden davon leben, auch wenn May natürlich darauf wartet, wieder in den Dschungel gehen zu können. Den Touristen aus aller Welt die Schönheiten seiner Welt zu zeigen.

Im Dezember veranstaltete May übrigens mit Hilfe meiner Freunde in der Schweiz zwei gross Chocolatadas im Heimatdorf von Evila. Weil sie am Beginn der Pandemie auf die Hilfe des Dorfes angewiesen waren, wollte May etwa zurückgeben. Das Ergebnis war eindrücklich. Er organisierte tatsächlich für jeden Einwohner, ob jung oder alt ein Geschenk. Eine Machete, einen Kochtopf, Hängematten, Gummistiefel. Und für die Kinder Shirts. Es war eine Freude seine Videos anzusehen und all die Freude in den Gesichtern der Menschen zu sehen. Auch hier wieder ein Dank an meine Freunde die sehr spontan und grosszügig unterstützten, nachdem ich einen einzigen Aufruf im Facebook gestartet hatte.

Wir verbringen einen wunderbaren Nachmittag zusammen. Später kommt noch Keyla dazu und wir stossen mit einem Pisco auf Peru an. Möge es die Zukunft gut meinen mit diesem wunderschönen Land und seinen Bewohnern

May jr, geborem am 7. Oktober 2020

May jr, geborem am 7. Oktober 2020

Salud por Peru, für uns, für alle.

Salud por Peru, für uns, für alle.

Pisco sour

Pisco sour

Abendstimmung vom Bulevard

Abendstimmung vom Bulevard

Auf meiner eigenen Homepage gibt es auch heute wieder ein paar Videoeindrücke von diesen beiden Tagen.
www.bison.ch - Lima-Videos

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Die Reise
 
Worum geht's?:
Immer wenn der Mensch seine Zukunft plant, fällt das Schicksal im Hintergrund lachend vom Stuhl. Dieser Satz hat mich durch das Corona-Jahr begleitet. Eigentlich war mein Abflug nach Südamerika am 3. April 2020 gebucht. Doch dann kam alles anders.
Details:
Aufbruch: 20.06.2021
Dauer: 7 Monate
Heimkehr: 29.01.2022
Reiseziele: Peru
Kolumbien
Argentinien
Der Autor
 
Beatrice Feldbauer berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
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