Neustart

Reisezeit: Juni 2021 - Januar 2022  |  von Beatrice Feldbauer

Christus von Huila

Ich will mich heute mit meinem Blog befassen, zu lange habe ich nichts geschrieben. Doch bevor ich anfange, gehe ich zur Bäckerei, wo mich die Inhaberin freundlich begrüsst. Ich setze mich an den kleinen Tisch, bestelle einen Milchkaffee und ein Käsebrötchen. Dabei sehe ich dem Verkehr zu, der vor dem Laden pulsiert, den Motorrädern, Lieferwagen, den Menschen, die vorbei gehen oder zum Einkaufen herkommen. Das Video, das ich dabei aufgenommen habe, findet man auf meiner Bison-Seite.

Danach gehe ich zurück ins Zimmer, wo ich mich dem angefangenen Kapitel von der letzten Busfahrt widme. Abschied von San Agustin. Aber es will nicht laufen, es will sich nicht schreiben. Ich lenke mich selber ab, bin auf allen Nachrichtenkanälen, chate, sehe Videos an und bringe mit Ach und Krach die Busfahrt zu Ende.

Vielleicht ist es doch besser, etwas an die Luft zu gehen, ein kleiner Spaziergang, aber trotzdem in der Nàhe bleiben, nichts erleben, was man nachher wieder aufschreiben muss.

Alltagsleben vor der kleinen Bäckeriei

Alltagsleben vor der kleinen Bäckeriei

Kaum bin ich vor der Türe, kommt die neue Idee, die mich seit vorgestern nicht mehr losgelassen hat. Ricardo, der Besitzer des Museums hatte vom grössten Christus Südamerikas gesprochen. Natürlich habe ich inzwischen etwas gegoogelt, aber nichts handfestes gefunden. Wikipedia meint, dass die Skulptur noch im Bau sei, Isabella, die ich gestern gefragt hatte, hatte nur eine vage Ahnung, wusste aber auch nichts genaues. Das junge Mädchen an der Rezeption hatte überhaupt noch nie etwas davon gehört.

Und genau darum versuche ich jetzt, dorthin zu gehen. Ricardo hatte mir versichert, dass es nicht weit sei. Ist ja schon ziemlich skurill, wenn das die grösste Figur sein soll und niemand weiss etwas davon. Ich halte ein Taxi an, doch auch der Taxifahrer will noch nie etwas von einer grossen Christusfigur in der Umgebung gehört haben. Je weniger ich erfahre, umso mehr will ich es jetzt wirklich wissen, also fahre ich zum Museum, wo Ricardo wie üblich auf Kunden wartet.

"Wo steht dieser Christus? und ist er tatsächlich schon fertig gebaut?" will ich von ihm wissen, nachdem ich er mich begrüsst hat. Er scheint sich offensichtlich zu freuen, dass ich mich daran innere. "Ich kann dich hinfahren", meint er, "du brauchst dazu kein Taxi."

"Womit fahren?" jetzt bin ich etwas verwirrt, denn gerade hat er sein Motorrad auf die Strasse gestellt. "Natürlich mit dem Motorrad, ich muss nur noch meine Senora zum Spital fahren, sie will da eine Tante besuchen."

Mit dem Motorrad? ich bin baff, weiss grad nicht was sagen, da meint seine Frau: "Mach dir keine Sorgen, er ist mein Mann". "Ich fürchte mich nicht vor deinem Mann, sondern vor dem Motorrad", sage ich etwas unsicher. Da lacht sie, sie sitzt immer hinter ihrem Mann, er fahre sehr sicher, hatte noch nie einen Unfall.

Also ist die Sache abgemacht, ich warte beim Museum, bis er zurück kommt und unterhalte mich ein wenig mit seiner Tochter, die den Kiosk führt. Die Mangos am Baum kann man übrigens kaufen, Sie wachsen direkt ins Netz und kosten 25 Rappen der Sack. Und die grösseren sind ebenfalls bald reif.

Es geht nicht lange und Ricardo ist zurück. Er zurrt mir den Helm fest, ich sitze hinten auf den Sattel und los gehts.

Es geht ganz gut, obwohl ich zuerst nicht genau weiss, wo ich mich festhalten soll. Ob ich mich überhaupt festhalten soll, oder ob ich gar ein paar Fotos machen könnte. Oder ein Video. Ich schaue Ricardo über die Schulter, kann den Tacho erkennen. Wir sind über den Fluss Magdalena gefahren, haben die Stadt hinter uns gelassen und fahren jetzt auf einer geraden Strecke Richtung Süden. Auf der gut ausgebauten Strasse fahren wir mit knapp 80 kmh. Und ich fühle mich völlig sicher. Es fängt an, Spass zu machen.

Dann biegt er in einen Feldweg ein. Hier muss er etwas besser aufpassen, um all den Löchern und Steinen auszuweichen, aber auch das geht flott voran. Bei Kurven bremst er frühzeitig, biegt sorgfältig ab. Es ist alles gut bis wir zur Brücke kommen.

Ich merke, dass er einen Moment stutzt. Die Brücke ist teilweise eingestürzt, das Wasser fliesst über den Beton. Doch das Wasser scheint nicht sehr tief, es müsste reichen, wir fahren los - und stürzen.

Ja, wir liegen mitsamt dem Motorrad im Wasser. Zum Glück noch auf der Brücke, das hätte leicht anders aussehen können. Kurz muss ich mich sammeln. Was ist passiert, wie geht es mir? Es scheint alles intakt zu sein, keine Schmerzen, soweit ich spüre, keine Schramme, ich kann aufstehen, wate durch das Wasser. Meine rechte Seite ist patschnass mitsamt meiner Tasche. Ricardo steht bereits wieder.

"Was hat es dir gemacht? Wie geht es dir?* "Alles ok", beschwichtige ich ihn, "mir geht es gut, aber ich glaube, dein Hut ist soeben über den Wasserfall in den Bach gespült worden.". Er hatte ihn vor der Brust gehalten und beim Sturz verloren.

Nachdem Ricardo das Motorrad wieder aufgestellt hat, steigt er hinunter in den Bach und holt seinen Hut. Nicht auszudenken, wenn sein Statussymbol weg wäre. Beim Zurückkommen wäre er fast noch einmal an der Stelle umgefallen, wo wir mit dem Motorrad gestürzt sind. Die Stelle ist völlig von grünen Algen überwachsen und es gibt da überhaupt keinen Halt.

Wir checken kurz unsere Sachen. Ricardos Portemonaie ist völlig durchnässt, aber das Geld ist trotzdem noch zu gebrauchen. Das bisschen Papier in meiner Tasche scheint auch ziemlich feucht zu sein. Den Pass hatte ich in einer spontanen Idee im letzten Moment im Hotelzimmer gelassen. Sonst ist nichts von Bedeutung in der Tasche. Das Handy in der Hosentasche ist zwar nass, scheint aber noch zu funktionieren.

Während wir noch unsere Sachen durchsuchen, kommt ein Auto und zeigt uns, wo wir hätten fahren sollen. Neben der Brücke ist inzwischen eine kleine Piste durch den Bach. Das ist der neue Übergang, doch das muss man erst wissen.

"Ich war seit mindestens einem Jahr nicht mehr hier", entschuldigt sich Ricardo, dem der Sturz nicht recht ist. Das erste Mal ist er mit seinem Motorrad gestürzt, versichert er mir, das allererste Mal.

Doch es ist alles in Ordnung, wir können weiter fahren. Nach ein paar Fehlversuchen startet der Motor wieder.

Der Hut ist gerettet

Der Hut ist gerettet

Jetzt ist es nicht mehr weit, wir stehen vor einem grossen Tor, das von zwei Elefanten flankiert wird und von dessen Höhe ein Löwenkopf auf uns herunterschaut. Beides seine Arbeiten.

Das Tor ist der Eingang zu einem Park. Er ist geschlossen. Ricardo ruft ein paarmal, doch es kommt niemand. Also holt er einen Schlüssel aus seiner Tasche und schliesst das Tor auf, wir können hinein. Ich kann nirgens eine Figur erkennen, eine so grosse Skulptur müsste man doch sehen. Wir gehen dem Weg entlang, das heisst Ricardo fährt mit dem Motorrad weiter, während ich jetzt zu Fuss gehe. Ich komme an grossen Figuren vorbei. Abu Simbal in Ägypten. Und dann sehe ich es. Es ist ein riesiges Kreuz, das da am Hang liegt. Die Christusfigur liegt, das erklärt einiges. Aber sie ist riesig. Eigentlich kann ich vor allem die Füsse sehen, die mir der liegende Christus entgegenstreckt. 80 meter lang ist das Kreuz, Christus selber ist gut 50 Meter. Eine gigantische Figur. Ricardo erklärt mir stolz die Dimensionen und dann gehen wir ins innere des Kreuzes, das als Kirche konzipiert ist. Unten steht der Altar, die Gläubigen sitzen auf den Stufen. Das heisst, es werden noch Bänke hineingestellt. Oben bei den Querbalken werden grosse Bildschirme installiert werden, damit alle dem Gottesdienst weit unten beim Altar folgen können. Grosse Bilder sind an die Wände gelehnt. Alles scheint irgendwie zum Stillstand gekommen zu sein.

"Wem gehört das Ganze?" will ich wissen, "wer ist der Initiant?" Es ist ein Cousin von Ricardo. Diesem gehört das Gelände, die Familie besitzt Millionen. Leider ist der Mann aber letztes Jahr gestorben. Ein Sohn will das Projekt jetzt weiter führen, aber wegen der Pandemie sind alle Pläne ins Stocken geraten.

Ricardo erzählt von einem Vergnügungspark, der hier entstehen soll. Verbinung von zwei Kulturen, der afrikanischen mit Elefanten, Löwen und mit Agypten und die christiliche Kultur. Spiritland soll der Park heissen und an Sonntagen ist er bereits in Betrieb. Dann läuft Wasser über den künstlichen Wasserfall in das Becken darunter. Dann kommen die Leute, um im Becken zu schwimmen, im kleinen See zu baden oder Boot zu fahren.

Ich kann es mir kaum vorstellen, aber Ricardo versichert mir, dass auch das dazugehörige Hotel an den Wochenenden in Betrieb sei.

Wir steigen im Inneren des Kreuzes hinauf. Hinauf zu den Querbalken und ganz hinauf zum Fenster. Was wird hier entstehen? frage ich, als ich den Aushub sehe, da scheint etwas weiteres grosses geplant zu sein.

"Da wird eine Christusstatue von 100 m Höhe entstehen, es wird ein stehender Christus," erklärt Ricardo, als ob das das normalste der Welt sei. Ich muss zweimal nachfragen um sicher zu sein, dass ich die Zahl auch tatsächlich richtig verstanden habe. Doch Gigantismus scheint Ricardos Konzept zu sein. Er führt mir noch die Akustik in dem langen Gang vor, dann steigen wir wieder hinunter und zählen beim Abstieg die Stufen - ich bin ja inzwischen auf Treppenstufen spezialisiert. Es sind knapp 150.

Auf der Christusstatue sind zwei Männer mit Malerarbeiten beschäftigt. Sie werden noch ziemlich lange brauchen und wohl sehr viel weisse Farbe brauchen, bis die ganze Figut wieder in strahlendem Weiss leuchtet.

Irgendwie bin ich erschlagen von den Dimensionen. Wie kommt man dazu ein solches Projekt zu starten. Sein Cousin hat das Geld in der Petrochemie mit Erdöl verdient, die ganze Familie scheint reich zu sein.

"Ich bin der einzige in der Familie, der es nicht so weit gebracht hat" lächelt Ricardo. Aber schlecht scheint es ihm nicht zu gehen. Vor ein paar Jahren war er in Europa. In Paris und von dort mit dem Zug nach NIzza und Genua gefahren, wo er einen Bruder besucht hat. Noch immer schwärmt er von diesem Besuch.

"Und was ist dein nächstes Projekt?" will ich wissen. Das nächste ist ein zweiter Vergnügungspark, der ebenfalls hier in der Nähe im Entstehen ist. Er ist dem Thema Mexiko gewidmet und Ricardo hat bereits ein Modell gemacht von einem schlafenden Mexikaner mit einem riesigen Sombrero. Er zeigt mir die Haltung der Figur, sie soll gigantisch werden. Doch er hat den Vorschlag erst eingereicht, noch ist nicht klar, ob der Park realisiert und ob sein Vorschlag angenommen wird.

Ein weiteres Projekt und vielleicht einfach nur ein Traum ist die grösste Marienstatue der Welt, die er in Rom verwirklichen will. Noch wartet er auf eine Einladung. Eine seiner Cousinen lebt in Rom.

Ich bin gespannt, vielleicht hört man irgendwann auch in Europa von Jose Ricardo Garrido, dem Künstler der gigantischen Figuren.

der künstliche Wasserfall ist heute trocken

der künstliche Wasserfall ist heute trocken

Die Hotelanlage liegt in einer schönen Parklandschaft

Die Hotelanlage liegt in einer schönen Parklandschaft

Wir haben uns ziemlich lange auf dem Gelände verweilt, und fahren jetzt zurück nach Neiva. Es sind gut 20 Kilometer aber für den Rückweg wählt Ricardo eine andere Route. Ich glaube er will die überspülte Brücke möglichst weit umfahren. Wir kommen an riesigen Reisflächen vorbei und erreichen beim Eindunkeln die Stadt. Meine Kleider sind inzwischen vom Fahrtwind getrocknet.

Für seine Fahrt will er ausdrücklich nichts, es war de carino, von Herzen. Dafür lade ich ihn und seine Frau zum Nachtessen ein. Doch auch das will nicht so richtig klappen, seine Frau ist an einer Reunion, ich muss mit ihm allein Vorlieb nehmen.

Das ist mir auch recht und ich frage ihn, ob er noch einen so guten Tipp hätte, wie den von gestern Abend.

Hat er, ein Freund von ihm, ein Italiener, mit dem er oft zum Fischen geht, hat ein Restaurant. Leider ist er selber nicht da, aber die Spaghetti Frutti di Mare schmecken wunderbar.

Beim Essen erzählt mir Ricardo noch ein wenig von seiner Familie. 22 Kinder hatte sein Vater. Von drei verschiedenen Frauen. Alle gleichzeitig. Alle wussten voneinander und es scheint, dass das überhaupt nie ein Problem war. Zwar haben die drei Frauen in verschiedenen Häusern gewohnt, aber zu Familienfesten kam jeweils die ganze Familie zusammen. Sein Vater war Inder, der ganz jung nach Kolumbien kam und sich hier in das Land und die Frauen verliebte.

Viele aus seiner Familie sind in der Olindustrie gross geworden. "Geld ist in unserer Familie genug vorhanden*, meint er lächelnd.

Später im Zimmer merke ich, dass ich keine Zeile weiter gekommen bin, im Gegenteil, es gibt jetzt noch mehr zu schreiben aber jetzt bin ich zu müde dazu. Trotzdem werde ich morgen Neiva verlassen. Diese Stadt, von der ich nichts erwartet hatte und nur als Übergang gesehen habe, hat mir unglaublich viel geboten.

Auf meiner Bison-Seite habe ich ein paar Videos mit Eindrücken aus Neiva gepostet.

www.bison.ch/kolumbien-videos

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Die Reise
 
Worum geht's?:
Immer wenn der Mensch seine Zukunft plant, fällt das Schicksal im Hintergrund lachend vom Stuhl. Dieser Satz hat mich durch das Corona-Jahr begleitet. Eigentlich war mein Abflug nach Südamerika am 3. April 2020 gebucht. Doch dann kam alles anders.
Details:
Aufbruch: 20.06.2021
Dauer: 7 Monate
Heimkehr: 29.01.2022
Reiseziele: Peru
Kolumbien
Argentinien
Der Autor
 
Beatrice Feldbauer berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
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