Neustart

Reisezeit: Juni 2021 - Januar 2022  |  von Beatrice Feldbauer

Umzug

Am Vormittag, nach dem Frühstücksservice gehört die Dachterrasse mir allein

Am Vormittag, nach dem Frühstücksservice gehört die Dachterrasse mir allein

Heute gehe ich es ganz langsam an, bleibe nach dem Frühstück einfach sitzen und schreibe. Versuche die letzten Tage in Cartagena in Worte zu fassen. Es passiert einfach zu viel. Ich kann kaum aus dem Haus, erlebe ich etwas, das ich unbedingt festhalten will, oder meine, dass ich das müsste.

Darum bleibe ich heute im Hotel. Bleibe oben auf der Terrasse sitzen. Schreibe, mache Siesta im ZImmer, lasse nicht zu, dass etwas passiert, das ich aufschreiben muss.

Igelsia San Jose, dem heiligen Josef geweiht.

Igelsia San Jose, dem heiligen Josef geweiht.

Am Nachmittag finde ich, dass ein Besuch in der Cafeteria am Botero-Platz nicht schaden könnte, also breche ich auf. Gehe den möglichst kürzesten Weg. Vier Blocks gradeaus, dann vier Blocks nach links. Schon bin ich da.

Wenn da nicht diese Kirche im Weg stehen würde. So eine Kirche kann ja kein Grund sein, ein Kapitel anzufangen. Ist es auch nicht. Obwohl sie ziemlich speziell und üppig dekoriert ist. Mit der ersten Krippe, die ich hier in Kolumbien sehe und grossen Szenen, die mit fast lebensgrossen Figuen dargestellt sind. Gut, die kann man ja fotografieren, aber dann ist gut..

Und dann sehe ich ganz vorne eine spezielle Türe, vor der ein Mann betend kniet. Dahinter scheinen Gedenktafeln zu sein. Ganze Mauern voller Gedenktafeln. Ein Urnenfriedhof?. Ich frage einen Mann, der grad heraus kommt. Flüsternd. "Ist das ein Friedhof?" "Nein", meint er ebenso flüsternd. "Aber eine Gedenkstätte. Da drinnen sind die Urnen von Toten aufbewahrt." Und ja, ich dürfe da selbstvertändlich hinein gehen.

Es gibt tatsächlich immer wieder etwas, von dem ich noch nie gehört, was ich noch nie gesehen habe.

Beim Coltejer-Turm suche ich den Eingang. Heute ist die Treppe frei, man kann die Stufen hinauf steigen. Visitantes steht an der Rezeption wo es zu den Liften geht. Doch da ist Schluss. Ein Security-Mann stoppt mich. Kein Druchgang. Auch ein freundlichen Lächeln hilft da nichts, ist ja eh hinter der Maske versteckt.

Es ist nicht erlaubt, hinauf zu fahren. Vor der Pandemie konnte man Ausnahmen machen, aber jetzt gibt es keine Möglichkeit, meint der freundliche Aufpasser. Auch beim Aufgang Nord das gleiche Ergebnis. Immerhin weiss ich, dass es insgesamt 8 Lifte gibt, doch wem hilft das jetzt. Wäre so gern auf der 62. Etage gestanden.

Zugang zu den Liften des Coltejer-Gebäudes

Zugang zu den Liften des Coltejer-Gebäudes

62 Stockwerke hoch

62 Stockwerke hoch

Also weiter, ich will ja nur zum Botero-Platz. Kurz vor der letzten Strassenkreuzung laufe ich an zwei kleinen Kindern vorbei. Sie liegen da auf der Strasse. Mitten auf dem Trottoir. Schlafen. Eine Frau zetert daneben. Zuerst glaube ich, sie sei die Mutter und rege sich ob der Leute auf, die stehen geblieben sind. Aber nein, sie regt sich auf, dass man Kinder einfach so liegen lässt. Dass man sie allein lässt. Sie versucht, die Kinder zu wecken, aber die schlafen tief, lassen sich nicht aufwecken. Kurz darauf hat die Frau ihr Ziel gefunden. An der Hauswand, ein paar Meter entfernt hocken zwei junge Frauen, ja fast selber noch Kinder. Sie scheinen zu den beiden Kindern zu gehören, doch das ganze Geschrei prallt völlig an ihnen ab. Es ist, als ob sie in einer anderen Welt lebten, als würde alles, was hier und jetzt auf dieser Strasse passiert, sie überhaupt nichts angehen.

Immerhin stehen sie irgendwann auf, setzen sich zu den beiden Kindern. Damit scheint die Welt wieder in Ordnung zu sein. Die Frau verstummt, die Leute gehen weiter. Auch ich gehe langsam weiter. Bin verstört. Wer sind diese Menschen? Die beiden Mädchen tragen eigenartige Röcke, sie müssen zur gleichen Gruppe gehören, wie die, die gestern auf dem Boteroplatz getanzt haben.

Ich gehe zurück, die Frauen gehen mir nicht aus dem Sinn. Sie müssen ja einen Grund haben, dass sie hier sind. Sie betteln. Sie brauchen Hilfe. Ich versuche sie anzusprechen, doch die Verständigung ist schwierig.
.
"Wie heisst du?"
"Ich?"
"Ja du, ich heisse Beatrice."
Ich meine zu verstehen, dass sie Eli heisst.
"Woher kommst du?"
"Ich?"
"Ja du!`."
Es hat keinen Sinn, ich wüsste doch nicht wo sie herkommt, auch wenn sie es mir sagen würde.. Wo sie jetzt lebt, will ich noch wissen. Ein Mann mischt sich ein, versucht zu vermitteln. Er meint, dass sie in einem Refugio leben würde. So wie er auch. Auch er hat eine Sammelbüchse dabei. Zeigt ein Bild von sich im Bett mit einer schweren Verletzung, Von einem Auto angefahren, seither hat er seine Arbeit verloren. Er geht an zwei Stöcken. Die Frau zeigt auf ihren Bauch. "Hunger."

Ich drücke beiden eine Note in die Hand. Der jungen Frau und dem Mann. Gehe jetzt doch weiter. Und komme kurz darauf zu einem Chickengrill. Knusprige grosse Hühnchen drehen da auf dem Spiess. Genau das ist es. Ich lasse eines zerschneiden und mit ein paar Arepas und Kartoffeln einpacken. Gehe zurück, drücke es der jungen Frau in die Hand. Etwas zu essen.

Ob sie sich freut? Ich kann es nicht sagen. Emotionen scheint sie nicht zu kennen oder sie sind längst verschwunden. Wenigstens werden sie heute keinen Hunger haben.

In der Nähe des Boteroplatzes. Der junge Mann rechts hat sich gerade richtiggehend geduscht.

In der Nähe des Boteroplatzes. Der junge Mann rechts hat sich gerade richtiggehend geduscht.

Bald darauf sitze ich im Cafe am Botero-Platz, beobachte die Leute geniesse meinen Cappuccino und die Schokoladenschnecke, die die Verkäuferin extra noch kurz warm gemacht hat. Irgendwie schmeckt alles bitter heute.

Viel später am Abend, ich liege bereits auf dem Bett. Entspannungsmodus. Hab zu den letzen Sonnenstrahlen einen Mojito auf der Terrasse getrunken. Jetzt will ich bestimmt nicht noch einmal das Zimmer verlassen. Da höre ich laute Musik. Eine Kapelle, ein grosses Musikcorps. Durch die spezielle Konstruktion mit den Fenstern, die im Hotel in einen nach oben offenen Schacht gehen, tönt es, als ob es von oben käme. Ob da wieder ein DJ am Werk ist. Ich ziehe mich noch einmal an, gehe hinauf zur Terrasse.

Da unten ist der Verkehr gestoppt. Eine grosse Musiktruppe spielt. Die Tambouren schlagen den Takt, es dröhnt zwischen den Mauern. Ich drücke auf den Auflöser, will alles festhalten. Dann marschiert die Musik vorwärts. Doch jetzt rollt nicht etwa der Verkehr wieder, jetzt kommt eine einzelne Figur in einem blauen wehenden Kostüm. Und noch ein. Das ist ein Umzug. Und er hat erst grad angefangen.

Weg sind alle Bedenken von wegen nachts nicht auf die Stasse zu wollen. Alle anderen sind auf der Strasse. Und ich jetzt auch. Ich laufe neben dem Umzug her, bis ich den Anfang erreiche. Und dann sehe ich einfach nur zu. Staune, was da abläuft. Was ist der Grund? Heute ist der 8. Dezember. Ein katholischer Feiertag. Maria Empfängnis. Doch was hat das mit all den schauerlichen Gestalten zu tun. Denn schauerlich sind sie, jedenfalls die meisten. Es gibt zwar auch Elfen und Waldgeister, aber ganz viele Hexen, monströse Gestalten aus anderen Welten. Totenköpfe, Geister, Gespenster. Dazwischen Gaukler, Feuerschlucker, Stelzenläufer. Es hört fast nicht mehr auf. Und alle bringen ihre Musik mit. Aus Boxen ertönen Melodien oder geisterhafte Töne. Es ist ein Karnevalumzug. Und er scheint quer durch die Stadt zu gehen. Durch abgesperrte Strassen.

Ganz am Schluss kommt noch einmal ein Musikcors. In perfekter Ausrichtung marschieren sie daher.

Und ganz zuhinterst kommt die Polizei. Zu Fuss und per Motorrad. Mit Blau- und Rotlicht.

Doch auch das ist noch nicht die letzte Nummer. Dann kommen nämlich noch die Strassenwischer. Hinter dem Umzug bleibt kaum ein Fetzen Papier liegen, keine Plastikflasche, es ist alles sauber.

Weil ich jetzt eh schon auf der Strasse bin und mein Handy fest im Griff habe, gehe ich der abgesperrten Strasse entlang zurück, dahin, von wo der Umzug kam. Bald bin ich wieder beim Coltejo-Gebäude. Dort wo ich vorgestern die grossen Weihnachtsdekorationen gesehen habe. Und jetzt leuchten sie. Also doch. Jetzt ist es eben doch eine Weihnachtsbeleuchtung. Einfach nicht so wie ich mir das vorgestellt habe. Viel schriller, pompöser, viel farbiger. Ich laufe noch eine Weile unter den Bäumen hindurch, bis ich umkehre. Und auf dem Rückweg sehe ich, dass auch der Aufräumservice inzwischen in der Endphase ist. Alle Absperrungen werden in Lastwagen geladen. Ganze Equipen sind unterwegs. Morgen wird es aussehen, als ob da nie was gewesen wäre auf den Strassen von Medellin.

Später im Bett sichte ich die Fotos des heutigen Tages. Dieses Tages, an dem ich unbedingt vermeiden wollte, etwas zu erleben, das sich aufzuschreiben lohnt. Es sind genau 200 Fotos, die ich vom Handy in den Laptap überspiele.

Du bist hier : Startseite Amerika Kolumbien Umzug
Die Reise
 
Worum geht's?:
Immer wenn der Mensch seine Zukunft plant, fällt das Schicksal im Hintergrund lachend vom Stuhl. Dieser Satz hat mich durch das Corona-Jahr begleitet. Eigentlich war mein Abflug nach Südamerika am 3. April 2020 gebucht. Doch dann kam alles anders.
Details:
Aufbruch: 20.06.2021
Dauer: 7 Monate
Heimkehr: 29.01.2022
Reiseziele: Peru
Kolumbien
Argentinien
Der Autor
 
Beatrice Feldbauer berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
Bild des Autors