Neustart

Reisezeit: Juni 2021 - Januar 2022  |  von Beatrice Feldbauer

Grenze Ecuador

Gestern, als ich einen Taxifahrer gebraucht hätte, war keiner da, aber heute stehen sie vor dem Hotel Schlange. Jeder will mich irgendwohin fahren, will mir die Stadt zeigen. Doch heute habe ich mit Vinzes abgemacht, das ist der Taxifahrer, der mich gestern von Puerto Pizarro zurück nach Tumbes gebracht hat. Er will mir heute die Umgebung zeigen und ich bin sehr gespannt, was der Tag bringt.

Pünktlich um zwölf Uhr ist er hier. Von wegen peruanische Zeit. Mit den Taxifahrern hat es tatsächlich immer und überall pünktlich geklappt. Da muss ich mich selber manchmal beieilen, damit ich so pünktlich bin.

"Was möchtest du sehen?" fragt mich Vinzes. "Das weiss ich gar nicht so genau, immerhin bin ich zum ersten Mal hier, während du schon dein ganzes Leben hier wohnst. Du weisst besser, was interessant ist."

"Fahren wir zur Grenze nach Ecuador", lautet sein Vorschlag. Perfekt, das ist genau der Punkt, der mich schon die ganze letze Woche umtreibt. Denn plötzlich kam die Information, dass die Grenze zu Ecudor aufgeht, dass sie bereits offen sei, oder in den nächsten Tagen aufgeht. Meine 90 Tage Peru laufen in der nächsten Woche ab und ich brauche dringend ein neues Ziel.

Wir fahren durch grosse Reisfelder. Schon in Trujillo gab es sie, aber hier sind sie noch grösser. Soweit das Auge blickt, junger grüner Reis. Der Norden sei die Reiskammer des Landes, erklärt mir Vinzes. Überhaupt ist es Kulturland. Es gibt auch grosse Bananenplantagen, viel Zuckerrohr und ausserdem Viehhaltung. Sogar Kühe gibt es, Schafe und Ziegen. Schon gestern ist mir eine Ziegenherde aufgefallen, die am Strassenrand entlang ging.

Und tatsächlich, wie auf Kommendo steht da auf der rechten Strassenseite eine Herde, die von zwei Hirten zusammen gehalten wird. Vinzes hält am Strassenrand, damit ich fotografieren kann. Ich schätze, dass es gegen 100 Ziegen sind, die darauf warten, bis die Strasse frei ist, damit sie dann ganz schnell auf die andere Seite wechseln können.

"Sie gehören verschiedenen Besitzern", weiss Vinzes. "Wenn sie am Abend zurück in ihr Dorf kommen, werden sie wieder verteilt. Dann rufen die Hirten laut: Separa, para, para, para, und du kannst gar nicht hinsehen, so schnell verschwinden die Ziegen in ihren eigenen Ställen. Die wissen ganz genau wohin sie gehören, das ist lustig zum Zusehen."

Wir sind auf der Panamericana unterwegs. Der Panamericana, dieser berühmten Strasse, die durch die beiden Südamerika verlauft, von ganz unten im Süden von Argentinien bis hinauf nach Alaska. Sie verläuft durch ganz Peru, entlang der Küste.

Kurz vor der Grenze schwenken wir ab. Die Panamerica geht nach rechts. Hier fahren die grossen Lastwagen, für sie ist die Grenze offen, muss sie offen bleiben, damit der Warenverkehr gewährleistet ist. Wir aber fahren zum kleinen Grenzort Aguas Verdes.

An der Strecke gibt es überall kleine Verkaufsstände und ich möchte wissen, was die da in ihren Flaschen verkaufen. Treibstoff.

Tatsächlich, es sind kleine mobile Tankstellen. Auch Vinzes hält irgendwo an und kauft drei Gallonen. eine Gallone kostet 13 Soles, das ist viel weniger als an den grossen Tankstellen. Natürlich ist es geschmuggelter Treibstoff. In Ecuador ist der Treibstoff viel billiger, früher hat man einfach ennet der Grenze getankt, jetzt kauft man mobil ein. Dieser kleine Grenzhandel funktioniert immer.

Ebenfalls geschmuggelt werden Drogen. "In welche Richtung?" will ich wissen. "In beide Richtungen", meint Vinzes.

eine mobile Trankstelle

eine mobile Trankstelle

3 Gallonen für 39 Soles   =  13,5 Liter für Fr. 8.50

3 Gallonen für 39 Soles = 13,5 Liter für Fr. 8.50

Bald erreichen wir den kleinen Grenzort Aguas Verdes und Vinzes parkiert sein Auto auf einem überwachten Parkplatz. Sofort kommt jemand und fragt: "Wollt ihr rüber?" "Nein, nur bis zur Brücke."

"Natürlich könnte man auf die andere Seite, es gibt immer Wege", meint Vinzes. Und wie ich sehe gibt es auch überall Schlepper, die diese Wege kennen.

Was mir als erstes auffallen, sind die vielen Alkoholläden. Noch nie sind mir solche Läden hier in Peru aufgefallen. In der Strasse, auf der wir jetzt gehen, verkauft jeder zweite Laden Liköre, internationale Spirituosen und Weine. Das gehört wohl einfach zu einem Grenzort. Genauso wie das Glücksspiel. Obwohl ich in jedem Ort Casinos gesehen habe, aber an einigen Orten, wie zum Beispiel auch in Iquitos, das ja irgendwie auch ein Grenzort ist, gibt es davon einfach mehr. Wir gehen an einigen Marktständen vorbei und dann stehen wir an der Grenze zu Ecuador.

Danke für ihren Besuch steht auf dem Banner bei Peru und Willkommen in Ecuador steht auf der anderen Seite der Brücke über die Strasse gespannt.

Und darunter stehen die Gitter. Die Grenze ist verriegelt. Da wo sonst reger Verkehr herrscht, ist nichts mehr los. Seit über einem Jahr. Peru hält nach wie vor alle Grenzen auf dem Landweg geschlossen. Es gibt keine Busverbindungen mit dem Ausland, egal in welche Richtung. Man kann Peru nur per Flugzeug erreichen und das wohl auch nur über Lima. Damit kann man die Einreise kontrollieren. Es ist irgendwie gespenstisch zu sehen, wie hier das Leben still steht.

Auch in den Strassen und Läden von Aguas Verdes ist nichts los. Und dabei ist hier normalerweise viel Betrieb, Voll, seien die Strassen, erklärt mir Vinzes, voller Menschen, aus Ecuador und Peru. "Wir sind hier eine Familie. Uns verbindet diese eine Brücke. Man macht Geschäfte, kauft auf beiden Seiten ein, treibt Handel. Man heiratet über die Grenze. Es gibt keinen Unterschied zwischen den Ländern. Und jetzt ist da gar nichts mehr." Ich merke, dass auch er noch immer irritiert ist. Obwohl er die Situation schon seit Monaten so kennt.

Es ist das erste Mal, dass mir jemand den Unterschied zwischen dem Leben vorher und jetzt so genau erklären kann. An vielen Orten weiss ich nicht, wie es vorher war. Kann nicht so genau einschätzen, warum es zum Beispiel keine Restaurants gibt, in denen man kurz etwas trinken könnte. Es ist im Moment nur offen, was unbedingt gebraucht wird. Durch die Pandemie ist das Leben in allen Bereichen eingeschränkt. Angefangen bei den Einnahmen, beim Verdienst. Viele Menschen in Peru leben von Dienstleistungen, vom kleinen Handel. Vom Touristmus, sei es als Guia, als Markthändler, als Taxifahrer oder als Hotel- oder Restaurant-Angestellte. Das ist alles völlig eingebrochen.

Beim Zurückfahren kommen wir auf den Lohn zu sprechen. Der Mindestlohn in Peru sind 250 Dollar im Monat, meint Vinzens. Nein er rechnet normalerweise nicht in Dollar, aber er findet, dass ich dann den Wert besser verstehe. Womit er natürlich Recht hat. Bei Soles kommt immer zuerst eine hohe Zahl, die man dann durch vier rechnen muss.

250 Dollar im Monat. Man lebt aber nie allein. Ein Leben wie ich es führe, allein ein Haus zu bewohnen, unvorstellbar. Hier lebt man im Clan. Wenn man keine eigene Familie hat, lebt man mit den Eltern, mit Geschwistern. Man hat vielleicht etwas Land, ein kleines Haus, das man sich selber gebaut hat. Auch Vinzens hat ein Stück Land, auf dem er Reis anbaut. Zweimal im Jahr kann er erten. Den Reis braucht er für sich und seine Familie und den Rest verkauft er auf dem Markt. Das ist ein wichtiger Teil des jährlichen Einkommens. Er selber stammt aus einer Familie mit elf Kindern. Alle von den gleichen Eltern? der gleichen Mama?

Ja, alle von der gleichen Mama. Er selber hat zwei Söhne. Einer ist 26, hat eine kleine Tochter und hilft ihm im Taxigeschäft. Der andere ist 10 und geht noch zur Schule. Ja, heute haben viele Leute nicht mehr so viele Kinder, das ändert sich jetzt, jedenfalls in den Städten.

Plötzlich rieche ich es: Palo Santo, das stark duftende Holz aus dem Dschungel. Tatsächlich gibt es in einer kleinen Strasse ein paar Läden, in denen Medizinalpflanzen verkauft werden. Una de Cato, Rose of Jericho, viele verschiedene Rinden, Hölzer und getrocknete Blätter. Ich nehme nochmals eine Nase voll von dem Duft mit, wähne mich wieder auf dem alten Schamanenmarkt in Iquitos, der mit der Pandemie untergegangen ist. Jedenfalls in der Form, wie er einmal war.

Jamaika Rose - Hibiskus

Jamaika Rose - Hibiskus

Medizinalpflanzen aus dem Dschungel

Medizinalpflanzen aus dem Dschungel

Flüchtlinge aus Venezuela

Flüchtlinge aus Venezuela

Bei der Fahrt von der Grenze zurück Richtung Stadt fallen sie mir wieder auf. Die Flüchtlinge, die entlang der Strasse gehen. Es sind Menschen aus Venezuela. Sie sind unterwegs. Allein, zu zweit, in Gruppen, als Familien mit kleinen Kindern. Es ist ein endloser Strom. Sie kommen zwar illegal über die geschlossene Grenze, doch sie sind geduldet. Sie haben bereits einen sehr langen Weg hinter sich. Von Venezuele, durch Kolumbien, Ecuador sind sie jetzt in Peru angekommen. Zu Fuss. Mit ihrem kleinen bisschen Gepäck, in dem sie ihr ganzes bisheriges Leben dabei haben Manchmal ein Koffer, meistens ein Rucksack. Manchmal stossen sie ihre Sachen in einem Kinderwagen vor sich her.

Sie sind mir schon in Lima begegnet. Dort verdienen sie sich ein paar Soles mit dem Putzen der Autoscheiben an den Rotlichtern, oder als Akrobaten, oder als Bettler in den Strassen. Auch in Tumbes habe ich eine ganze Familie gesehen, wie sie am Abend in einer Gruppe am Strassenrand sassen. Es ist ein unsägliches Leid, denn auch in Peru haben sie keine Zukunft. Das Land ist selber zu arm, um sie richtig aufzunehmen. So ziehen sie eben weiter. Immer entlang der Panamericana, weiter in den Süden. Auf der Suche nach einer besseren Zukunft für sich und ihre Kinder.

Vinzes erklärt mir, dass die Venezulanischen Flüchtlinge in ganz Südamerika über die Grenzen dürfen. Sie sind zwar Illegale, aber sie werden geduldet. Was für eine Toleranz. Ich bin beeindruckt. Sie sind inzwischen überall einfach Teil der Gesellschaft. Gehören zwar nicht dazu, werden aber toleriert und man lässt sie gewähren. Und es sind unglaublich viele. Ich glaube, während diesen zwei Stunden, auf denen wir auf der Panamericana zur Grenze und zurück gefahren sind, sind uns bestimmt über 200 Leute begegnet. Es ist in Strom, der nie abreisst. Es sind fast 2000 km bis nach Chile. Vielleicht haben sie dort eine Chance.

Wir biegen rechts ab, Vinzes will mich an den Strand fahren. A la playa. Die grosse Figur mit dem Krokodil erinnert mich an den gestrigen Besuch in der Krokodilfarm und Vinzes will wissen, wie es mir gefallen hat. Leider habe ich kaum etwas mitbekommen, denn die Erklärungen des Guia waren so unmotiviert und monoton, dass ich nicht zuhören mochte. Dafür kann mir Vinzes jetzt erklären, dass das ganze ein Projekt ist, um die Krokodile zu schützen. Denn sie sind eine bedrohte Art. Zu viele wurden gejagt und gegessen. Mit dem Projekt will man sie schützen, sie vielleicht später einmal auswildern.

Wir fahren auf einer Schotterpiste entlang den Mangroven, manchmal sieht man weisse Silberreiher und die weissen Vögel mit den krummen Schnäbeln sind wahrscheinlich Ibisse. Wir halten immer wieder an, damit ich fotografieren kann.

weisse Ibisse

weisse Ibisse

Auf der einen Seite das Wasser und die Mangroven, auf der anderen sind grosse Wasserbecken. Hier werden Crevetten gezüchtet. Die Anlagen werden mit Stacheldrahtzäune geschützt, von Wachtürmen überwacht und Sicherheitsleute stehen an den Eingangstoren. Einmal frage ich, ob ich fotografieren darf. "Nein, gehen sie weg hier, sie haben da nichts verloren". Die Antwort ist barsch und lässt keine Interpretation zu. "Anweisung der Firma", ist die Erklärung dazu. Vinzes ist erst gar nicht ausgestiegen, als ich unbedingt darauf pochte, dass ich aussteigen und nachfragen möchte. Er kannte die Antwort schon. Also halten wir an einem anderen Ort, wo grad niemand steht und ich fotografiere durch den Stacheldrahtzaun,

Am Strand ist nichts los. Kein Mensch. Nur ein paar verlotterte Sonnendächer, Stühle. Bei den Gebäuden stehen ein paar Autos. Wahrscheinlich die Besitzer der Strandrestaurants, die hier bleiben, damit nichts gestohlen wird.

Zugegeben, es ist jetzt im September sowieso nicht die Saison für Sonnenanbeter, aber Vinzes versichert mir, dass hier das ganze Jahr über etwas los sei. Musik und Feste. Tagesausflüge, Einheimische und viele Touristen würde man immer antreffen. Jetzt ist hier Endzeitstimmung.

Wir fahren noch ein paar Strände an, Vinzes möchte mir alles zeigen, aber es ist überall das gleiche Bild. Nichts los.

Playa Hermosa - schöner Strand

Playa Hermosa - schöner Strand

Wir sind durch die endlosen Reisfelder zurück nach Tumbes gefahren und haben dort den Fluss Tumbes überquert. Dieser Fluss ist es, der bei Puerto Pizarro ins Meer fliesst und die Mangroven mit Süsswasser versorgt.

Wir fahren weiter Richtung Süden, Richtung Zorritos. Hier wollte ich eigentlich ein paar Tage verbringen, weil mir die Werbung suggerierte, dass es das ganze Jahr schön sei. Doch ich hatte selber gemerkt, dass sich die schönen Bilder vor allem auf den Sommer beziehen, der hier von Dezember bis März ist. Ich bin froh, dass ich in Tumbes geblieben bin. Trotzdem ist es gut, heute hierher zu fahren und mich zu überzeugen, wie es tatsächlich aussieht. Die Temperatur wäre angenehm und sicher gibt es auch ein paar schöne Tage, schöne Sonnenuntergänge, wie ich ihn gestern in Puerto Pizarro erlebt habe, doch für ein paar Tage hätte es nicht gereicht.

Vor der Küste liegen die Fischerboote und weiter draussen die grossen Hochseefischer. Und ganz weit draussen, so dass man sie noch knapp erkennt, liegt eine Oelplattform. Dort wird Oel aus dem Meer geholt.

Und über mir fliegen die Fregattvögel in eleganten Kurven.

Fregattvögel

Fregattvögel

Ein Resort - auch das liegt im Moment verlassen da.

Ein Resort - auch das liegt im Moment verlassen da.

In einem kleinen Restaurant, das Vinzes kennt, nehmen wir ein spätes Mittagessen ein. Ich bestelle ein Ceviche mixta und bekomme die Spezialität von hier dazu: Conchas verdes, die schwarzen Muscheln. Sie schmecken nicht schlecht, salzig, frisch, Doch leider kann ich mich mit dem Aussehen nicht anfreunden und so lasse ich sie dann doch stehen. Wären sie mir in den Muscheln serviert worden, hätte ich sie wohl eher gegessen. Der Kopf lässt sich halt nicht immer ausschalten. Das Auge isst mit.

Dafür ist der Rest sehr fein.

Ceviche mixta

Ceviche mixta

Zurück in Tumbes ist es inzwischen Nacht geworden. Es war ein sehr spannender Tag, Vinzes hat mir vieles gezeigt und vieles erklärt. Damit endet meine Reise in den Norden von Peru. Morgen geht es zurück nach Lima. Den Flug habe ich heute Vormittag gebucht, das Hotel reserviert.

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Die Reise
 
Worum geht's?:
Immer wenn der Mensch seine Zukunft plant, fällt das Schicksal im Hintergrund lachend vom Stuhl. Dieser Satz hat mich durch das Corona-Jahr begleitet. Eigentlich war mein Abflug nach Südamerika am 3. April 2020 gebucht. Doch dann kam alles anders.
Details:
Aufbruch: 20.06.2021
Dauer: 7 Monate
Heimkehr: 29.01.2022
Reiseziele: Peru
Kolumbien
Argentinien
Der Autor
 
Beatrice Feldbauer berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
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