Neustart

Reisezeit: Juni 2021 - Januar 2022  |  von Beatrice Feldbauer

Boteroplatz

Heute entdecke ich eine Überraschung in meinem Cafe, wo ich immer einkehre, bevor ich mich auf einen grösseren Spaziergang mache. Es gibt Rüeblitorte. Torta de Zanahoria. Da stelle ich natürlich vom gefüllten Blätterteig-Gebäck sofort auf die Süssvariante um. Hat übrigens sehr gut geschmeckt. Fast wie diheime.

Ich will heute wieder einmal zum Botero-Platz laufen. Es ist schon eine ganze Weile her, seit ich dort war. Und heute ist Sonntag, da ist vieles geschlossen und Parks oder Museen überlaufen. Sofern sie offen sind.

Inzwischen habe ich den Weg schon ziemlich im Griff, und gehe ihn schon ganz zügig. Muss dann aber doch wieder stehen bleiben bei diesen wunderschönen Blumen, die eine Hibiskus-Variante sind und der Puderquastenblume kann ich sowieso nie widerstehen. Ich finde sie so wunderschön mit ihrem feinen Fäden mit den kleinen Punkten an den Spitzen.

Es ist immer gut, wenn man auf den Boden achtet.

Es ist immer gut, wenn man auf den Boden achtet.

Vor einer der grossen Autowerkstätten, die an meinem Weg liegen, staune ich wieder einmal. Es wird gearbeitet. Alle Lifts sind in Aktion. Auch die kleinen Werkstätten, die in meiner Strasse sind, waren offen. Nicht alle, schliesslich ist Sonntag. Dafür sind die meisten meiner Lieblingsrestaurants in meiner Umgebung am Sonntag geschlossen. Ich habe immer noch eine Affinität zu Autowerkstätten und Autohäusern, schliesslich waren sie ein wichtiger Teil meines Berufslebens. Darum sehe ich auch die grossen Pneustapel, die überall bereit liegen. Medellin ist definitiv Auto-verrückt.

Es gibt aber auch überall Fahrradwege. Und separate Fussgängergehwege und Übergänge.

Auf dem Veloweg, auf dem ich den Rio Medellin überquere, fällt mir ein älterer Mann auf, der vor mir geht. Es scheint, dass er sich kaum auf den Beinen halten kann. Immer wieder bleibt er stehen. Er geht leicht gebückt und an einem Stecken. Als ich ihn erreiche, versuche ich ihn anzusprechen. Möchte wissen, woher er kommt, in der Annahme, dass er aus Venezuela sei. Nein, er heisse Alberto und kommt aus den Bergen in der Nähe von Medellin. Warum er jetzt in Medellin auf der Strasse lebt, kann ich leider nicht verstehen, denn sein Spanisch ist etwas grummelig und der Lärm der Autos auf beiden Seiten hilft mir auch nicht bei der Kommunikation. Ich stecke ihm eine Note zu und da erscheint kurz ein Leuchten in seinen Augen. Ich frage ihn, ob ich ihn fotografieren dürfe, was ihn anscheinend freut. Bevor wir uns verabschieden, wünschen wir uns gegenseitig einen guten Tag. Kleine Freuden, das ist es, was den Tag ausmacht.

Alberto ist Kolumbianer aus den Bergen, lebt auf der Strasse in Medellin

Alberto ist Kolumbianer aus den Bergen, lebt auf der Strasse in Medellin

Kurz darauf entdecke ich einen Schmetterling auf einem kleinen Rasenstück. Das ist auch so ein Freudenbringer. Egal, wenn die Ampel grad auf grün wechselt, ich bin jetzt mit dem Schmetterling beschäftigt. Die Ampel wechselt derweil auf rot und bald wieder auf grün, aber ich habe meinen Schmetterling eingefangen.

Beim Park der Lichter bleibe ich wieder stehen. Mich faszinieren diese Lichtsäulen auf dem Platz, auf dem noch vor wenigen Jahren mehr Schatten war, als Licht. Auch heute ist nicht alles Sonnenschein. Wenn man genauer hinsieht, findet man ein paar Leute, die hier die Nacht und wohl einen guten Teil des Tages verbringen. Auf einer Bank und hinter Büschen liegen Menschen. Auf dem harten Steinboden, bedeckt mit ein paar Lumpen oder Kleidern. Was da wohl für Geschichten dahinter stehen.

Abgesehen davon ist der Platz heute überraschend leer. Es ist Sonntag-Mittag, vielleicht sind die Leute noch zu Hause, kommen erst später auf die Strasse. Jedenfalls die, die ein zuhause haben. Ein paar Jungs üben mit ihren Skateboards, ein paar Tauben picken Krümel.

Die Bibliothek von Medellin

Die Bibliothek von Medellin

wie ausgestorben am Sonntagmittag

wie ausgestorben am Sonntagmittag

Heliconias

Heliconias

Keniabanane

Keniabanane

Die Fussgängerpassage, die unter der Woche mit Schuhverkäufern völlig überstellt ist, ist jetzt menschenleer. Auch die Geschäfte auf beiden Seiten sind geschlossen, Rollläden unten. Fast schon habe ich das Gefühl, dass ich in einer leeren Stadt unterwegs bin. Doch schon bei der nächsten Strassenecke ist alles ganz anders.

Hier stehen die Verkaufsstände, die Strasse ist überfüllt. Zwar noch nicht von Passanten, es sind erst die Verkäufer, die sich bereit machen mit ihrem vielfältigen Angebot. Hier sind es vor allem Kleider und Accessoires. Es ist alles vorhanden, von Unterwäsche bis Wollmützen, Schmuck und Handarbeiten. Und überall dazwischen die Imbisse. Mangoverkäufer, die ihre Früchte in mundgerechte Stücke schneiden. Sie sind noch nicht ganz reif, oder vielleicht müssen sie auch so sein. Jedenfalls werden sie mit Salz bestreut. Fast wie Avocados.

auf dem Boteroplatz

auf dem Boteroplatz

Jetzt ist es nicht mehr weit bis zum Boteroplatz. Vorbei an der Kirche Veracruz erreiche ich schon bald den Mann, der stolz auf der Frau steht. Eine ziemlich gewagte Skultur, aber die Frau scheint es mit Gelassenheit zu nehmen. Es gibt auch eine andere Figur, wo eine Frau auf einem Männerkopf steht.

Ich spaziere über den Platz, sehe mir noch einmal viele der Figuren etwas genauer an und mache Detailaufnahmen. Von Füssen. Warum von Füssen? Vielleicht weil sie grad so gut auf Augenhöhe sind. Und irgendwie sind sie zierlich. Jedenfalls ergeben sie ein ganz gutes Sujet. Ein paar habe ich zu einem Video zusammengestellt und auf meine eigene Seite geladen.

Ich sehe mich um, komme auch zum Springbrunnen in der Grünanlage mit den blühenden Frangipani-Bäumen. Auch hier liegt jemand. Unbekümmert von allen Passanten leben hier Menschen ihr eigenes Leben, das so unendlich weit weg ist von der Mehrheit der Einheimischen und Touristen, die hier unterwegs sind.

Die Figuren kann man auch als Kleinstausgabe haben

Die Figuren kann man auch als Kleinstausgabe haben

Ich setze mich auf einen der Stühle, die an einigen Orten unter den Bäumen stehen. Ich bleibe ziemlich lange sitzen, eine Weile ruht sich auf dem anderen Stuhl der Sonnenbrillen-Verkäufer aus. Dann nimmt er seine Tour wieder auf. So wie auch der Hutverkäufer, der schöne Sombreros verkauft.

Als nächstes setzt sich eine Frau neben mich. Sie spricht mich auf meine Tortuga an, meine Schildkröte, die ich am Hals trage. Es ist ein besonders schönes Schmuckstück aus Iquitos. Leo, ein Guide und Kunsthandwerker hat sie für mich gemacht. Ihr Herzstück besteht aus einem extra grossen Stück Ayahuasca, der Dschungelmedizin, die im Regenwald von Iquitos die grösste Kraft darstellt. Für mich ist sie ein kraftvolles Schmuckstück, das ich auch schon getragen habe, wenn eine schwierige Situation angestanden ist und ich glaubte, dass eine extra-Portion Kraft angebracht wäre.

Ich erkläre ihr, woher ich es habe und schon bald sind wir in einem intensiven Gespräch. Die Frau erklärt mir, dass sie auf der Suche nach sich selber ist und es geht nicht lange und sie erzählt mir ihre Lebensgeschichte. Zwar teilweise etwas wirr durcheinander und ich kann nicht alles verstehen, was sie mir erzählt.

Sie ist 42 und Kolumbianerin. "Aber ich bin nicht von der Frau, bei der ich zuerst gelebt habe. Ich habe sie nie als Mutter gespürt. Meinen Vater habe ich nicht gekannt, mit Geschwistern keinen Kontakt. Meine Mutter hat meine kleine Schwester in den Armen gehalten, ich musste an ihrem Fussende schlafen. Nein, Liebe habe ich nie erfahren. Mit sieben Jahren hat mich meine Mutter verschenkt. Ich glaube, dass ich ein geraubtes Kind bin. Das kommt hier in Kolumbien oft vor, dass Babys geraubt werden". Sie macht ein Zeichen und kratzt sich mit drei Fingern über die Wange - das Zeichen steht für geraubt, erklärt sie mir. Auch ihre Kinder wurden ihr geraubt. "Die haben mir alles genommen, ich weiss gar nicht, wer ich bin, ich bin ein neimand, ohne Wert. Nicht imstande für meine Kinder zu sorgen."

Ich versuche ihr zu erklären, dass es vielleicht besser wäre, die Vergängenheit zu lassen und sich mit der Gegenwart zu befassen. "Setze deine Energien ins Heute, versuche in die Zukunft zu sehen und befasse dich mit deiner Vergangenheit, wenn es dir besser geht," mache ich einen Versuch. Doch auch die Gegenwart ist schwierig. Sie prostituiert sich. Schon lange, schon seit sie Kind ist, wurde sie sexuell ausgebeutet. Sie erzählt es ohne Regung. Das ist ihr Leben, das ist ihre Gegenwart. Immer kommt sie auf die zurück. "Vielleicht bin ich Venezuelanerin, sie haben mir alles gestohlen. Alles." "Wer ist sie?" Der Staat, die Kolumbianer, die Frau, die sich Rosita nennt und ihr hilft, sie auf die Strasse schickt. Was bekommst du von den Männern, will ich noch wissen und erschrecke. 20'000 oder 30'000 Peseten, Amerikaner zahlen manchmal mehr.

Es ist ein schwieriges Gespräch, es scheint, dass sie nicht oft über sich erzählen kann, dass ihr nicht oft Leute zuhören. Ich kann nur versuchen, sie aufzumuntern, ihr Mut zuzusprechen. "Du heisst Lus, was für ein schöner Name. Du hast das Licht bereits im Namen. Glaube an dich, versuche eine andere Arbeit zu finden. Vielleicht in einem Laden, in einem Hotel. In der Küche. Etwas einfaches zum Anfangen." Doch was weiss ich schon, von den Arbeitsmöglichkeiten hier. Immerhin hört sie mir zu. "Schreibe deine negativen Gedanken auf und verbrenne das Papier", rate ich ihr. "Oder schreibe deine Wünsche auf und versuche dich daran zu halten." Ich schenke ihr meinen Kugelschreiber und meinen winzigen Notizblock, die ich immer mit mir führe und höchst selten benutze.

Mit unbeholfenen Buchstaben schreibt sie auf: ich will eine andere Arbeit finden, ich will meine Seele reinigen.

Am Schluss schenke ich ihr meine Schildkröte, erzähle ihr von der Kraft der Ayahuasca und dem Symbol der Langsamkeit, das die Schildkröte auch sein kann. Da erinnert sie sich an eine Legende, die sie in der Schule gelesen hat. Vom Rennen zwischen Luchs und Schildkröte. Als der Luchs den Sieg nah glaubte, ruhte er sich kurz vor dem Ziel aus und schlief ein. Inzwischen hatte aber die Schildkröte mit ihrer Beharrlichkeit das Ziel erreicht.

Ich glaube, etwas Zuversicht zu erkennen, wir verabschieden uns. Zuvor stecke ich ihr noch eine 10'000-Peso Note zu. Das sind knapp 3 Franken, aber damit kann sie sich etwas zu essen kaufen.

Ich gehe in mein Cafe beim Museum. Da wo man unter den Sonnenschirmen den Platz überblicken und seinen Gedanken nachhängen kann. Lus hat mir ihr Vertrauen geschenkt. Auch wenn ihre Geschichte ziemlich durcheinander klang und ich sie nicht genau so widergeben kann, wie sie sie mir erzählt hat, so bin ich doch wieder einmal schockiert über die Welt, die oft so ungerecht ist. Natürlich weiss ich, dass es all diese Schicksale gibt, aber wenn man direkt angesprochen ist, ist es noch einmal etwas ganz anderes als es nur im Fernsehen zu sehen, in der Zeitung zu lesen. Es kann nicht schaden, wenn ich mir wieder einmal meiner Situation bewusst werde. Sitze hier bei einer heissen Schokolade, habe eine Wohnung hier in dieser Stadt und noch immer ein paar Peseten und eine Kreditkarte in der Tasche.

Kurz darauf fallen ein paar Regentropfen und ich überlege, mir ein Taxi zu nehmen,. Doch es ist zu spät, es schüttet bereits wie aus Kübeln. Der Platz vor mir ist fast augenblicklich leer und ich bleibe unter meinem Sonnenschirm sitzen. Zum Glück hält er dicht.

Eine halbe Stunde später reissen die Wolken wieder auf, die Menschen kehren zurück auf den Platz und ich gehe jetzt trotzdem, auf die Suche nach einem Taxi.

Kurz treffe ich noch einmal auf Lus. Sie scheint zuversichtlicher zu sein, hat inzwischen etwas gegessen und bringt sogar ein Làcheln zustande, als ich sie noch einmal um ein Foto bitte. Vielleicht treffe ich sie wieder einmal, auch ihr Leben lässt sich nicht von einem Tag auf den anderen ändern.

gelbe Pitahaya - Drachenfrucht, wächst auf Kaktus

gelbe Pitahaya - Drachenfrucht, wächst auf Kaktus

Bevor ich ein Taxi nehme, kaufe ich noch ein paar Früchte. Bananen, eine reife süsse Mango und eine Avocado. Und eine gelbe Pitahaya.

Für heute Abend habe ich noch etwas gebratenen Reis, den ich mir gestern vom Nachtessen einpacken liess, weil die Portion im Keiko so riesig war. Dazu gibt es Früchte.

Und dann gibt es Tatort im Fernsehen, es ist ja Sonntagabend.

sehr fein zum Auslöffeln

sehr fein zum Auslöffeln

es gibt auch diesmal wieder ein paar Videos zu diese Kapitel auf meiner eigenen Seite

www.bison.ch / Kolumbien-Videos

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Die Reise
 
Worum geht's?:
Immer wenn der Mensch seine Zukunft plant, fällt das Schicksal im Hintergrund lachend vom Stuhl. Dieser Satz hat mich durch das Corona-Jahr begleitet. Eigentlich war mein Abflug nach Südamerika am 3. April 2020 gebucht. Doch dann kam alles anders.
Details:
Aufbruch: 20.06.2021
Dauer: 7 Monate
Heimkehr: 29.01.2022
Reiseziele: Peru
Kolumbien
Argentinien
Der Autor
 
Beatrice Feldbauer berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
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